IZ: 0.1 Die Magie der Zellen – ein Déjà-vu

Zum Glück fand ich einen Ausweg. Ich begab mich für ein Semester an eine medizini­sche Hochschule in der Karibik. Mir war bewußt, daß meine Probleme dort nicht ver­schwinden würden, aber als das Flugzeug die dichte graue Wolkendecke über Chicago durchbrochen hatte, fühlte es sich trotzdem so an. Ich mußte mir auf die Lippen beißen, damit mein Grinsen nicht zu einem lauten Lachen wurde, und ich war so glücklich wie damals mit sieben Jahren, als ich die Leidenschaft meines Lebens gefunden hatte.

 

Mei­ne Stimmung stieg noch weiter, als ich in das sechssitzige kleine Flugzeug stieg, das mich nach Montserrat brachte, einem etwa sechs mal fünfzehn Kilometer großen Eiland – einem kleinen Pünktchen inmitten der Karibischen See. Sollte es je einen Garten Eden gegeben haben, dann hat er bestimmt so ähnlich ausgesehen wie mein neues Zuhause auf dieser Insel, die sich wie ein riesiger, herrlich geschliffener Smaragd aus dem glit­zernden, aquamarinblauen Meer erhob. Als wir landeten, wurden wir vom Duft der Gardenien begrüßt, der uns über den Asphalt der Landebahn hinweg entgegenwehte.

 

Es war dort üblich, die Zeit des Sonnenuntergangs in stiller Kontemplation zu verbrin­gen, und ich paßte mich dieser Sitte schnell an. Wenn der Tag zur Neige ging, freute ich mich schon auf das himmlische Lichtspektakel. Mein Haus stand auf einer Klippe fünf­zehn Meter über dem Meer, genau Richtung Westen. Ein gewundener Pfad führte durch eine farnreiche Grotte hinunter zum Wasser. Durch eine Hecke aus Jasminbüschen be­trat ich einen kleinen, geschützten Strand, wo ich das Sonnenuntergangsritual mit ein paar Schwimmrunden in dem warmen, glasklaren Wasser einleitete. Nach dem Baden formte ich mir aus dem Sand einen bequemen Sitz, lehnte mich zurück und schaute zu, wie die Sonne langsam im Meer versank.

 

Auf dieser abgelegenen Insel war ich von allem weit genug weg, um die Welt ohne die Scheuklappen der dogmatischen Überzeugungen unserer Zivilisation zu sehen. Am An­fang lief vor meinem inneren Auge ständig das Debakel meines Lebens ab. Doch bald ließen meine ständigen Selbstvorwürfe und schlimmen Erinnerungen an die letzten vier­zig Jahre meines Lebens nach, und ich begann wieder mehr im Augenblick und für den Augenblick zu leben. Ich erlebte Empfindungen, wie ich sie zuletzt als sorgloses Kind erlebt hatte – und genoß es einfach, am Leben zu sein.

 

In diesem Insel-Paradies wurde ich langsam menschlicher. Ich wurde auch zu einem besseren Zellbiologen. Fast meine gesamte Ausbildung hatte in sterilen, lebensfeindli­chen Klassenzimmern, Hörsälen und Laboratorien stattgefunden. Doch nachdem ich in das reichhaltige Ökosystem der Karibik eingetaucht war, konnte ich die Biologie wieder mehr als ein lebendiges, atmendes, integriertes System empfinden, statt sie als eine An­sammlung individueller Arten zu betrachten, die sich ein Stückchen Erde teilen.

 

Und wenn ich in dem gartenähnlichen Dschungelparadies dieser Insel saß oder durch die wundervollen Korallenriffe schnorchelte, dann sah ich mit tiefer Bewunderung, wie erstaunlich gut die Pflanzen und Tiere dort an ihre natürliche Umgebung angepasst wa­ren. Sie alle leben in einem empfindsamen, dynamischen Gleichgewicht, und zwar so­wohl mit den anderen Arten als auch mit ihrer physischen Umgebung. Es war nicht der Überlebenskampf, sondern die Harmonie des Lebens, die zu mir sang, während ich in diesem Garten Eden lebte. Mir fiel auf, daß die moderne Biologie die wichtige Rolle der Kooperation viel zu wenig beachtet, weil sie aufgrund ihrer darwinischen Wurzeln die Konkurrenz so sehr betont.

 

Bei meiner Rückkehr nach Wisconsin war ich zum Kummer meiner Kollegen wild

ent­schlossen, die heiligen Grundlagen der Biologie zu erschüttern. Ich begann, offen an Charles Darwin und an der Stimmigkeit seiner Evolutionstheorie Kritik zu üben. In den Augen der meisten anderen Biologen entsprach mein Verhalten dem eines Priesters, der in den Vatikan stürmt, um zu verkünden, der Papst sei ein Scharlatan.

 

Man kann es meinen Kollegen nicht verdenken, daß sie glaubten, mir sei eine Kokosnuß auf den Kopf gefallen, als ich meine feste Stellung aufgab und mir den Traum erfüllte, in einer RockʼnʼRoll-Band mitzuspielen. Ich entdeckte Yanni, der später sehr berühmt wurde, und produzierte mit ihm eine Lasershow. Mir wurde jedoch bald klar, daß meine Begabungen eher auf dem Gebiet von Lehre und Forschung als in der Produktion von RockʼnʼRoll-Shows lagen. Ich überwand meine Midlife-Crisis – das werde ich später noch ausführlicher erzählen – und kehrte in die Karibik zurück, um wieder Zellbiologie zu lehren.

 

Meine letzte Station in der anerkannten Welt der Wissenschaften war die medizinische Fakultät der Stanford University. Zu jener Zeit war ich bereits ein eifriger Verfechter der »Neuen Biologie«. Ich hatte nicht nur Darwins »Hund-frißt-Hund«-Version der Evolution in Frage gestellt, sondern auch das zentrale Dogma der Biologie, daß die Gene unser Leben bestimmen.

 

Diese wissenschaftliche Behauptung hat einen grundle­genden Fehler: Gene können sich nicht selbstständig an- oder abschalten. Wissenschaft­licher ausgedrückt: Gene sind nicht »selbstemergent«; ihre Aktivität muß durch ihre Umgebung ausgelöst werden. Obwohl diese Tatsache schon länger bekannt war, rückten die konventionellen Wissenschaftler keinen Deut von ihrem genetischen Dogma ab und ignorierten die neuen Erkenntnisse. Meine Kritik an diesem zentralen Dogma der Biolo­gie stempelte mich noch mehr zum wissenschaftlichen Häretiker. Mir drohte nicht nur die Exkommunizierung, mir drohte der Scheiterhaufen!

 

In meiner Probevorlesung im Rahmen meiner Bewerbung für die Stanford University beschuldigte ich die versammelte Fakultät – darunter viele international anerkannte Ge­netiker –, sie seien nicht viel besser als religiöse Fundamentalisten, wenn sie sich an ein Dogma klammerten, obwohl es Beweise für das Gegenteil gäbe. Nach meinen ketzeri­schen Behauptungen brach das Publikum in lautes Schimpfen aus, und ich dachte, das sei das Ende meiner Bewerbung. Doch meine Erkenntnisse über die Mechanismen der Neuen Biologie waren wohl provokativ und interessant genug, um mir die Stelle zu ver­schaffen. Einige der ehrenwerten Wissenschaftler von Stanford, darunter besonders der Leiter der Pathologie Dr. Klaus Bensch, unterstützten und ermutigten mich, meine Ideen an geklonten Humanzellen zu überprüfen. Zur allgemeinen Überraschung bestätigten
die Experimente genau diese alternative Sicht der Biologie, die ich postuliert hatte. 1991 und 1992 veröffentlichte ich zwei Artikel über meine Forschungsergebnisse und verließ die Universität – diesmal für immer.

 

Ich ging, weil ich trotz der Unterstützung, die ich in Stanford erhielt, das Gefühl hatte, daß meine Botschaft auf taube Ohren stieß. Seitdem hat die Forschung meine Zweifel an dem zentralen Dogma und dem Primat der Gene immer weiter bestätigt. Die Epige­netik, die Wissenschaft von den molekularen Mechanismen, mit denen die Umgebung die Genaktivität steuert, ist heutzutage einer der aktivsten Bereiche der Forschung. Ge­nau dies, die Rolle der Umgebung bei der Steuerung der Genaktivität, war damals vor fünfundzwanzig Jahren das Thema meiner Zellforschung gewesen, lange bevor das Fachgebiet der Epigenetik begründet wurde. Nun mag das für mich zwar intellektuell befriedigend sein, doch ich weiß, würde ich heute wieder an einer medizinischen Fakul­tät lehren, dann würden meine Kollegen noch immer sogleich an die Kokosnuß denken,
denn in den letzten zehn Jahren habe ich im Verhältnis zur allgemein anerkannten Wis­senschaft noch radikalere Standpunkte entwickelt. Meine Beschäftigung mit der Neuen Biologie ist für mich mehr als intellektuelle Gymnastik. Ich glaube, die Zellen lehren uns nicht nur etwas über die Mechanismen des Lebens, sondern zeigen uns auch, wie wir ein reiches, erfülltes Leben führen können.

 

Im Elfenbeinturm der Wissenschaft würde ich für diese Denkungsart wahrscheinlich den Dr.-Dolittle-Preis für Anthropomorphismus oder, genauer gesagt, für »Cytomor­phismus« bekommen – nämlich dafür, daß ich in der Sprache der Zellen denke –, doch für mich sind diese Erkenntnisse das kleine Einmaleins der Biologie. Sie halten sich vielleicht für ein Individuum, aber als Zellbiologe kann ich Ihnen versichern, daß Sie ei­gentlich eine kooperative Gemeinschaft aus ungefähr 50 Billionen einzelligen Mitglie­dern bilden. Nahezu alle Zellen Ihres Körpers sind amöbenartige, individuelle Organis­men, die für ihr gemeinsames Überleben eine kooperative Strategie entwickelt haben.

 

Wenn man diesen Vergleich auf die Spitze treiben will, könnte man sagen, daß mensch­liche Wesen einfach das Ergebnis eines »kollektiven Amöben-Bewußtseins« sind. So wie eine Nation den Charakter ihrer Landsleute widerspiegelt, so spiegelt unser Menschsein die grundlegenden Charakteristika der zellulären Gemeinschaft wider.