IZ: 7.0 Bewußte Elternschaft: Eltern als Gentechniker

7.1 Eltern sind wichtig

Zweifellos haben Sie irgendwann einmal das verführerische Argument gehört, Eltern könnten sich, sobald sie ihre Gene an ihre Kinder weitergegeben haben, zurücklehnen und ihren Kindern beim Aufwachsen zusehen: Solange sie die Kinder gut behandelten, ernährten und einkleideten, brauchten sie nur abzuwarten, was die Gene aus ihren Kin­dern machen.

 

Eine solche Haltung erlaubt es Eltern, mit ihrem geschäftigen oder faulen Leben einfach fortzufahren und ihre Kinder irgendwelchen Einrichtungen oder Betreu­ungspersonen zu überlassen. Das ist auch für einen Vater wie mich angenehm, der biologische Nachkommen mit vollkommen unterschiedlichen Persönlichkeiten hat. Ich hatte immer angenommen, meine Kinder seien deshalb so unterschiedlich, weil sie im Augenblick der Empfängnis einfach unterschiedliche Gene mitbekommen hätten.

 

Schließlich waren sie meines Er­achtens in dem gleichen Umfeld aufgewachsen, also mußte der Grund für ihre Verschie­denheit in ihren Genen liegen. Heute weiß ich, daß die Dinge ganz anders liegen. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse bestätigen, was einfühlsame Mütter und Väter seit langem wissen: Eltern sind wichtig.

 

Dr. Thomas Verny, ein Pionier der pränatalen und perinatalen Psychologie erklärt:»Seit Jahrzehnten finden wir immer wieder Hinweise darauf, daß Eltern auf die mentalen und physischen Eigenschaften der Kinder, die sie aufziehen, ei­nen überwältigenden Einfluß haben.« [Verny und Kelly 1981]

 

Dieser Einfluß beginnt laut Verny nicht erst nach der Geburt, sondern bereits davor. Als Verny seine Annahme, daß der Einfluß der Eltern bereits im Mutterleib beginnt, in sei­nem aufsehenerregenden Buch THE SECRET LIFE OF THE UNBORN CHILD 1981 veröffent­lichte, gab es noch wenig wissenschaftliche Belege dafür, und die »Experten« reagierten skeptisch. Man nahm an, daß das menschliche Gehirn erst nach der Geburt seine Funkti­on aufnimmt, und schloß daraus, daß ein Fötus keine Erinnerung hat und keinen Schmerz empfindet.

 

Sigmund Freud, der den Begriff der »infantilen Amnesie« prägte, schloß dies aus der Tatsache, daß sich die meisten Menschen an nichts erinnern können, was vor ihrem dritten bis vierten Lebensjahr geschah.Die experimentelle Psychologie zerschlägt jedoch diesen Mythos, daß Säuglinge sich an nichts erinnern und daher auch keine Erfahrungen machen können – und damit die Hal­tung, daß die Eltern bei der Persönlichkeitsentfaltung ihrer Kinder nur eine Zuschauer­rolle einnehmen.

 

Das Nervensystem des Fötus und des Neugeborenen hat immense sen­sorische Kapazität und Lernfähigkeit und eine Art Erinnerungsvermögen, das von den Neurologen »implizites Gedächtnis« genannt wird. Ein weiterer Pionier der prä- und pe­rinatalen Psychologie, David Chamberlain, schreibt in seinem Buch THE MIND OF YOUR NEWBORN BABY: »Die Wahrheit ist, daß vieles, was wir traditionellerweise über Babys ange­nommen haben, falsch ist. Sie sind nicht einfache, schlichte Wesen, sondern komplexe, alterslose Geschöpfe mit unerwartet großen Gedanken.« [Chamberlain 1998]

 

Diese komplexen, kleinen Geschöpfe haben ein Leben vor der Geburt, das ihr Verhalten und ihre Gesundheit langfristig beeinflußt. »Die Qualität des Lebens im Mutterleib, un­serem vorübergehenden Zuhause vor unserer Geburt, programmiert unsere Anfälligkeit für Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes, Fettleibigkeit und viele andere gesundheitliche Probleme unseres späteren Lebens«, schreibt Dr. Peter W. Nathanielsz in LIFE IN THE WOMB: THE ORIGIN OF HEALTH AND DISEASE [Nathanielsz 1999]. V

 

or kurzem wurde bei einer noch viel größeren Anzahl chronischer Leiden Erwachsener wie Osteoporose, Ge­mütskrankheiten und Psychosen ein enger Zusammenhang mit prä- und perinatalen Ein­flüssen hergestellt [Gluckman und Hanson 2004].

 

Diese starke Auswirkung des pränatalen Umfelds bei der Entstehung von Krankheiten erfordert auch einen neuen Blick auf den genetischen Determinismus. Nathanielsz schreibt: »Es gibt zunehmende Hinweise darauf, daß die Zeit im Mutterleib genauso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger für die Programmierung unserer le­benslangen Gesundheit ist als unsere Gene. Die gegenwärtig verbreitete An­sicht, unsere Gesundheit und unser Schicksal würden allein durch unsere Gene bestimmt, läßt sich am besten als genetische Kurzsichtigkeit beschrei­ben. […] Im Gegensatz zu dem relativen Fatalismus der genetischen Kurzsich­tigkeit können wir durch ein Verständnis der Mechanismen, die die Program­mierungen im Mutterleib bewirken, das Leben unserer Kinder und Kindeskin­der von Anfang an verbessern.«

 

Zu diesen Programmierungsmechanismen, die Nathanielsz hier erwähnt, gehört die in einem vorhergehenden Kapitel bereits erläuterte Epigenetik, der Einfluß äußerer Reize auf die Gen-Aktivität. Nathanielsz beschreibt, wie Eltern das pränatale Umfeld ihres Kindes verbessern können. Dabei wirken sie sozusagen als Gentechniker. Die Vorstel­lung, daß Eltern Anpassung an Veränderungen in ihrem eigenen Leben an ihre Kinder weitervererben können, ist natürlich ein Lamarcksches Konzept, das mit dem Darwinis­mus nicht vereinbar ist.

 

Nathanielsz gehört zu den Wissenschaftlern, die sich auf La­marcks Seite geschlagen haben: »… eine generationsübergreifende Übertragung durch nichtgenetische Mittel findet tatsächlich statt. Lamarck hatte Recht, auch wenn die generationsüber­greifende Übertragung von neu erworbenen Eigenschaften durch Mechanis­men erfolgt, die zu seiner Zeit unbekannt waren.«

 

Die Fähigkeit von Individuen, auf die Lebensbedingungen einzugehen, die ihre Mütter vor ihrer Geburt erlebten, ermöglicht es ihnen, ihre genetische und physiologische Ent­wicklung dieser »Umweltvorhersage« optimal anzupassen. Die gleiche lebensfördernde Plastizität der menschlichen Entwicklung kann allerdings auch schiefgehen und im Al­ter zu einer Reihe chronischer Krankheiten führen, wenn ein Mensch in seiner fötalen Entwicklung widrige Umstände erlebt [Bateson et al., 2004].

 

Der gleiche epigenetische Einfluß kann sich auch nach der Geburt des Kindes fortset­zen, denn die Eltern beeinflussen die Umgebung ihres Kindes weiterhin. Eine faszinie­rende neue Studie beschreibt die Bedeutung der elterlichen Fürsorge für die Gehirnent­wicklung. »Das wachsende Gehirn eines Kindes erfährt aus seiner Umwelt die wichtigs­ten Erfahrungen, die den Ausdruck seiner Gene bestimmen, was wiederum die Verbin­dung der Neuronen definiert, die die Grundlage für mentale Aktivität sind«, schreibt Dr. Daniel Siegel in THE DEVELOPING MIND [Siegel 1999].

 

Man könnte auch sagen, ein Kind braucht eine geistig anregende Umgebung, um die Gene zu aktivieren, die für die Entwicklung eines gesunden Gehirns sorgen. Eltern, so die neueste wissenschaftliche Erkenntnis, wirken selbst nach der Geburt noch als Gentechniker ihrer Kinder.