IZ: 8.5 Die Liebevollsten werden überleben

Vielleicht finden Sie Rumis Worte über die Macht der Liebe auch wunderschön, glau­ben aber nicht, daß sie in diesen schwierigen Zeiten, wo nur der Stärkste zu überleben, scheint, noch Geltung haben. Hatte Darwin nicht doch Recht? Beruht das Leben nicht etwa auf einem ständigen Kampf? Findet nicht auch in der Natur ständig Gewalt statt? Tiere töten Tiere. Hat nicht auch der Mensch eine angeborene Neigung zur Gewalt?

 

Dieser Logik zufolge sind Tiere gewalttätig, Menschen sind Tiere, also sind auch Men­schen gewalttätig. Aber das stimmt so nicht! Menschen sind ihren Impulsen, um jeden Preis konkurrieren zu müssen, ebensowenig ausgeliefert wie krankmachenden Genen.

 

Die Schimpansen, die den Menschen genetisch am nächsten stehen, beweisen uns, daß Gewalt kein zwangsläufiger Bestandteil unserer Biologie ist. Eine Art von Schimpansen, die Bono­bos, leben in friedvollen Gemeinschaften, in denen Männchen und Weibchen gleicher­maßen Führungsaufgaben übernehmen.

 

Im Gegensatz zu anderen Schimpansenarten lö­sen die Bonobos ihre inneren Spannungen nicht durch Gewalt, sondern eher durch eine »Make Love – Not War«-Strategie. Wenn Mitglieder ihrer Gemeinschaft unter Druck geraten oder sich aufregen, verwickeln sie sich nicht in blutige Kämpfe, sondern agieren ihre Energie über die Sexualität aus.

 

Neuere Untersuchungen der Biologen Robert M. Sapolsky und Lisa J. Share von der Stanford University haben beobachtet, daß sogar wilde Paviane, die zu den aggressivs­ten Tieren auf diesem Planeten gehören, nicht genetisch zur Gewalt verpflichtet sind [Sapolsky und Share 2004].

 

In einer über lange Zeit hinweg beobachteten Pavian-Horde starben alle aggressiven Männchen an vergiftetem Fleisch, das sie sich aus einem Müll­behälter der Touristen geholt hatten. Nach ihrem Tod mußte die soziale Struktur der Gruppe neu geordnet werden. Die Forscher hatten den Eindruck, daß die Weibchen die überlebenden Männchen zu einem kooperativeren Verhalten anhielten, was zu einer be­merkenswert friedlichen Gemeinschaft führte.

 

In einem Artikel in Public Library of Sci­ence Biology, in dem über die Forschungsarbeit berichtet wurde, schrieb der Schimpan­senforscher Frans B.M. deWaal:»… selbst die grimmigsten Primaten brauchen offensichtlich nicht immer so zu bleiben.« [deWaal 2004]

 

Wir Menschen stehen in der Nahrungskette ganz oben. Unser Überleben beruht darauf, daß wir Organismen zu uns nehmen, die hierarchisch unter uns stehen, aber wir brau­chen nicht zu fürchten, von Organismen verspeist zu werden, die in der Nahrungskette über uns stehen. Ohne natürliche Feinde laufen die Menschen nicht Gefahr, Beute zu werden.

 

Daher besteht auch keine Notwendigkeit für die damit verbundene Gewalt.Das bedeutet nicht, daß die Menschen nicht unter den Naturgesetzen stünden. Letztend­lich werden auch wir aufgefressen. Wir sind sterblich und nach einem hoffentlich lan­gen und gewaltfreien Leben werden unsere körperlichen Überreste wieder in den natür­lichen Kreislauf des Lebens eingehen.

 

Wie eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, werden die ganz oben in der Nahrungskette stehenden Menschen zu guter Letzt von Organismen verspeist, die in der Nahrungskette ganz unten stehen, den Bakterien. Doch bevor sich diese Schlange windet, sind wir mancherlei Gefahren ausgesetzt. Trotz unserer erhabenen Position sind wir selbst unser ärgster Feind.

 

Mehr als jedes andere Tier wenden wir uns gegen unsere eigene Art. Niedriger entwickelte Tiere wenden sich manchmal gegen ihre Artgenossen, doch die meisten aggressiven Begegnungen zwi­schen Tieren der gleichen Art beschränken sich auf Drohgebärden, Geräusche und Ge­rüche, die nicht auf den Tod des Gegners zielen.

 

In nichtmenschlichen Gemeinschaften geht es bei Gewalt unter Artgenossen meist um überlebenswichtige Ressourcen wie Luft, Wasser oder Nahrung oder um die Partnerwahl zur Fortpflanzung.

 

Die Gewalt unter Menschen steht dagegen nur selten im Zusammenhang mit überle­benswichtigen Elementen oder der Partnerwahl zur Fortpflanzung. Meist geht es um die Ansammlung von mehr weltlichen Gütern, als zum Überleben nötig sind, um den Er­werb und die Verteilung von Drogen, mit denen wir diesem Albtraum von Welt, den wir uns erschaffen haben, zu entfliehen suchen, oder um Gewalt in Familien, die seit Generationen weitergegeben wird.

 

Die meistverbreitete und hinterlistigste Form menschlicher Gewalt ist jedoch die ideologische Kontrolle. Im Laufe der Geschichte ha­ben religiöse und weltliche Herrscher immer wieder ihre Anhänger, Untertanen und Mitglieder dazu gebracht, gewaltsam gegen Andersdenkende und Ungläubige vorzuge­hen.

 

Der größte Teil der menschlichen Gewalt ist weder notwendig noch entspricht er einem angeborenen Trieb. Wir haben die Fähigkeit und meiner Meinung nach den evolutionä­ren Auftrag, diese Gewalt zu beenden.

 

Der beste Weg dazu ist, zu erkennen, wie ich im letzten Kapitel dieses Buches betont habe, daß wir spirituelle Wesen sind, die Liebe ge­nauso dringend benötigen wie Nahrung.

 

Die nächste evolutionäre Stufe erreichen wir je­doch nicht, indem wir über diese Dinge nur nachdenken, genauso wenig wie wir uns selbst oder unsere Kinder dadurch verändern, indem wir Bücher lesen.

 

Sinnvoller ist es, sich mit Gleichgesinnten zusammenzufinden und gemeinsam auf eine Weiterentwick­lung der menschlichen Zivilisation hinzuarbeiten – in dem Bewußtsein, daß das Überle­ben des Liebevollsten die einzige Ethik ist, die uns nicht nur ein gesundes persönliches Leben, sondern auch einen gesunden Planeten sichert.

 

Erinnern Sie sich an die schlecht vorbereiteten, unterschätzten Studenten meines ersten Lehrauftrags in der Karibik, die sich zusammenrotteten wie die Zellen – das eigentliche Thema in ihrem Histologiekurs – und dadurch zu einer Gemeinschaft erfolgreicher Stu­denten wurden?

 

Nehmen Sie sich ein Vorbild an ihnen, und Sie werden damit auch Ihren Mitmenschen nützen, die sich noch mit selbstsabotierenden Überzeugungen ab­mühen, und diesem Planeten zu einer glücklichen Perspektive verhelfen. Nutzen Sie die Intelligenz der Zellen, um die Menschheit eine weitere Sprosse auf der evolutionären Leiter emporzuheben, wo die Liebevollsten nicht nur überleben, sondern blühen und ge­deihen.