3 Indonesien: Lektionen für einen EHM

Ich erfuhr nicht nur viel über meine neue Karriere, sondern las auch eifrig Bücher über Indonesien. »Je mehr Sie über ein Land wissen, bevor Sie dort hinreisen, desto einfacher ist Ihre Aufgabe«, riet mir Claudine. Ich nahm mir ihre Worte zu Herzen. Als Kolumbus 1492 in See stach, wollte er eigentlich die »Gewürzinseln«, das heutige
Indonesien, erreichen. Während der gesamten Kolonialzeit war man der Ansicht, das Land biete noch größere Schätze als die Reichtümer Amerikas. Java mit seinen prächtigen Stoffen, sagenhaften Gewürzen und reichen Fürstentümern war sowohl das Kronjuwel als auch der Schauplatz heftiger Konflikte zwischen spanischen, holländischen, portugiesischen und britischen Abenteurern. 1750 gingen die Niederlande aus den Auseinandersetzungen als Sieger hervor und errangen die Kontrolle über Java, allerdings brauchten sie noch über 150 Jahre, um die anderen Inseln zu unterwerfen.


Als die Japaner im Zweiten Weltkrieg in Indonesien einfielen, leisteten die holländischen Truppen kaum Widerstand. Die Indonesier, vor allem die Bewohner Javas, litten sehr unter der japanischen Besatzung. Nach der japanischen Kapitulation rief einer der Führer der Unabhängigkeitsbewegung, der charismatische Sukarno, die »Republik Indonesien« aus. Vier Jahre dauerten die Kämpfe an, dann holten die Niederlande am 27. Dezember 1949 ihre Flagge ein und entließen ein Land in die Unabhängigkeit, dessen Bewohner seit über 300 Jahren unter fortgesetzten Kämpfen und unter der Fremdherrschaft gelitten hatten.

 

Sukarno wurde der erste Präsident der neuen Republik.Indonesien zu regieren war jedoch eine schwierigere Aufgabe als der Kampf gegen die Holländer. Das Land war mit seinen 13.677 Inseln völlig inhomogen, ein brodelnder Kessel mit verschiedenen Stammesstrukturen, gegensätzlichen Kulturen, Dutzenden von Sprachen und Dialekten und ethnischen Gruppen, die jahrhundertealte Feindschaften hegten. Häufig kam es zu brutalen Konflikten, und Sukarno griff hart durch. 1960 löste er das Parlament auf und wurde 1963 zum Präsidenten auf Lebenszeit ernannt. Er knüpfte enge Allianzen mit kommunistischen Regierungen auf der ganzen Welt, im Ge-
genzug wurde das indonesische Militär ausgebildet und mit Waffen versorgt. Sukarno schickte von den Sowjets bewaffnete Truppen ins benachbarte Malaysia in dem Versuch, den Kommunismus in Südostasien zu verbreiten und sich damit das Wohlwollen der sozialistischen Staaten zu sichern.

 

Die Opposition wuchs, 1965 kam es zum Aufstand. Sukarno entkam seiner Ermordung nur dank dem wachen Verstand seiner Geliebten. Viele seiner ranghohen Offiziere und engsten Verbündeten hatten weniger Glück. Die Ereignisse erinnerten an die Vorfälle im Iran 1953. Schließlich wurde die kommunistische Partei verantwortlich gemacht – vor allem die Gruppierungen, die politisch auf der Linie Chinas lagen. Man schätzt, daß bei den anschließenden, von der Armee initiierten Massakern 300.000 bis 500.000 Menschen getötet wurden. Nach der Entmachtung Sukarnos wurde General Suharto 1968 Präsident.


Die USA wollten unbedingt verhindern, daß sich Indonesien dem Kommunismus anschloß. Diese Haltung wurde 1971 noch dadurch verstärkt, daß der Ausgang des Vietnamkriegs ungewiß war. Präsident Nixon hatte im Sommer 1969 eine Reihe von Truppen abgezogen, und die amerikanische Außenpolitik war nun wieder globaler ausgerichtet. Die Strategie bestand darin, einen Dominoeffekt zu verhindern, bei dem ein Land nach dem anderen unter kommunistische Herrschaft geriet. Die USA konzentrierten sich auf mehrere Länder, und Indonesien hatte eine Schüsselrolle. Das Elektrifizierungsprojekt von MAIN war Teil eines umfassenden Plans, mit dem die amerikanische Dominanz in Südostasien gesichert werden sollte.

Ziel der amerikanischen Außenpolitik war, daß Suharto Washington ähnlich dienen sollte wie der Schah von Persien. Außerdem hofften die USA, daß Indonesien als Beispiel für andere Länder in der Region dienen könnte. Washingtons Strategie basierte zum Teil auf der Annahme, daß Verbesserungen in Indonesien positive Auswirkungen in der ganzen islamischen Welt haben könnten, vor allem im explosiven Nahen Osten. Und wenn das noch nicht als Anreiz genügte, war da noch das Öl. Niemand kannte die Größe oder Qualität des indonesischen Ölvorkommens, aber die Seismologen der Ölgesellschaften schwärmten überschwänglich von den sich bietenden Chancen.


Während ich in der Bibliothek von Boston über Büchern brütete, wuchs meine Aufregung. Ich malte mir die Abenteuer aus, die mich erwarteten. Mit meiner Arbeit für MAIN tauschte ich den ärmlichen Lebensstil beim Peace Corps gegen ein wahrlich luxuriöses und glanzvolles Leben. Durch meine Zeit mit Claudine war bereits eine meiner Phantasien Wirklichkeit geworden; alles schien zu schön, um wahr zu sein. Ich fühlte mich zumindest ein bißchen dafür entschädigt, daß ich meine Jugend an einer reinen Jungenschule verbracht hatte.


In meinem Leben gab es noch eine andere Entwicklung: Ann und ich drifteten auseinander. Ich glaube, sie spürte, daß ich zwei Leben führte. Ich rechtfertigte unsere Eheprobleme vor mir damit, daß sie unsere Heirat quasi erzwungen hatte. Schon damals hatte ich nur widerstrebend eingewilligt. Obwohl Ann mich bei unserem Peace-Corps-Auftrag in Ecuador unterstützt und mir zur Seite gestanden hatte, sah ich in ihrem Verhalten eine Fortsetzung der Methoden, die bereits meine Eltern angewandt hatten, um mich ihren Launen zu unterwerfen. Wenn ich jetzt zurückblicke, bin ich mir sicher, daß meine Beziehung zu Claudine eine große Rolle spielte. Ich konnte Ann meine Eskapade nicht beichten, aber sie spürte, daß etwas im Busch war. Wir beschlossen, in getrennte Wohnungen zu ziehen.


Als ich 1971 eines Tages in Claudines Wohnung kam, es muß etwa eine Woche vor meiner geplanten Abreise nach Indonesien gewesen sein, war der kleine Eßzimmertisch mit einer Käseplatte und Brot gedeckt, daneben stand eine Flasche Beaujolais. Sie prostete mir zu. »Sie haben es geschafft.« Sie lächelte, aber irgendwie wirkte sie nicht aufrichtig. »Jetzt sind Sie einer von uns.« Wir plauderten etwa eine halbe Stunde. Dann, als wir den letzten Schluck Wein tranken, warf sie mir einen Blick zu, den ich noch nie an ihr gesehen hatte. »Erzählen Sie nie
jemandem von unseren Treffen«, sagte sie mit strenger Stimme. »Ich werde Ihnen nie verzeihen, wenn Sie es tun, und ich werde abstreiten, daß ich Sie je kennen gelernt habe.« Sie musterte mich – wohl zum ersten Mal fühlte ich mich bedroht. Dann lachte sie kalt. »Wenn Sie über uns reden, könnte das für Sie lebensgefährlich werden.«


Ich war sprachlos und zutiefst erschüttert. Aber als ich später allein zum Prudential Center zurückging, mußte ich doch einräumen, wie schlau der Plan gewesen war. Wenn wir zusammen waren, hatten wir uns immer in ihrer Wohnung aufgehalten. Es gab nicht die Spur eines Beweises für unsere Beziehung, und bei MAIN war auch niemand beteiligt. Ein Teil von mir wußte Claudines Ehrlichkeit zu schätzen; sie hatte mich nicht getäuscht, wie es meine Eltern mit Tilton und Middlebury getan hatten.

Ein Land soll vor dem Kommunismus bewahrt werden. Ich hatte romantische Vorstellungen von Indonesien, dem Land, in dem ich die nächsten drei Monate verbringen sollte. In einigen Büchern, die ich gelesen hatte, waren Fotos von Frauen in farbenprächtigen Sarongs abgebildet, exotische balinesische Tänzerinnen, feuerspeiende Schamanen und Krieger in Einbäumen, die auf smaragdgrünem Wasser am Fuße von rauchenden Vulkanen paddelten. Besonders faszinierend war eine Abhandlung über die prächtigen Schiffe der berüchtigten Bugi-Piraten mit ihren schwarzen Segeln, die immer noch in den Gewässern des Archipels ihr Unwesen trieben. Sie hatten
die ersten europäischen Seeleute so erschreckt, daß sie daheim ihre Kinder warnten:
»Seid brav, sonst holen euch die Bugi-Men.« Im Englischen existiert die Redewendung noch heute mit leicht veränderter Schreibweise (»Bogeyman«). Oh, wie mich diese Bilder faszinierten und meine Phantasie anregten.
Die Geschichte und Legenden des Landes bieten ein Füllhorn an sagenhaften Gestalten: zornige Götter, Komodowarane, Stammesfürsten und uralte Geschichten, die lange vor Christi Geburt über die asiatischen Berge, durch persische Wüsten und über das Mittel-
meer zu uns gelangt waren und sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingegraben haben. Allein die Namen dieser sagenhaften Inseln – Java, Sumatra, Borneo, Sulawesi – lassen die Gedanken schweifen. Ein Land der Mystik, der Mythen und exquisiter Erotik; ein unerreichbarer Schatz, den Kolumbus suchte, aber nie erreichte; eine Prinzessin, die von den Spaniern, Holländern, Portugiesen und Japanern umworben, aber nie richtig in
Besitz genommen wurde; eine Phantasie und ein Traum.


Ich hatte große Erwartungen, sie ähnelten wahrscheinlich denen der großen Entdecker. Wie Kolumbus hätte ich allerdings meine Phantasie zügeln sollen. Vielleicht hätte ich erraten können, daß es im Leben oft ganz anders kommt, als man denkt. Indonesien bot Schätze, aber es war nicht das Land der Wunder, das ich erwartet hatte. Meine ersten Tage in Jakarta, der schwülen Hauptstadt Indonesiens, im Sommer 1971 waren ein Schock für mich.
Die Schönheit war durchaus vorhanden. Hinreißende Frauen trugen farbenprächtige Sarongs. In den üppigen Gärten erstrahlten tropische Blüten. Exotische balinesische Tänzerinnen, Fahrradrikschas mit üppigen, in allen Farben des Regenbogens glänzenden Gemälden an der Seite der Sitze, auf denen sich die Passagiere vor den strampelnden Fahrern gemütlich zurücklehnten, Häuser im holländischen Kolonialstil und Moscheen mit Türmchen und Minaretten. Aber die Stadt hatte auch eine häßliche und verstörende Seite. Leprakranke streckten den Passanten anstelle von Händen blutige Stümpfe entgegen. Junge Mädchen boten ihren Körper für ein paar Münzen an. Die einst prächtigen holländischen Kanäle hatten sich in Jauchegruben verwandelt. In Hütten aus Karton lebten ganze Familien an den müllgesäumten Ufern schwarzer Flüsse. Lärmende Hupen und erstickender Qualm. Das Schöne und Häßliche, das Elegante und Vulgäre, das Spirituelle und Profane. Das war Jakarta, wo der betörende Duft von Gewürznelken und Orchideenblüten mit dem Gestank der offenen Latrinen wetteiferte.
Ich hatte zuvor schon Armut gesehen. Einige meiner Schulkameraden in New Hampshire lebten in Hütten aus Teerpappe, in denen es nur kaltes Wasser gab. An Wintertagen unter null Grad kamen sie in dünnen Jacken und zerschlissenen Tennisschuhen in die Schule, ihre ungewaschene Haut roch nach altem Schweiß und Mist. In den Anden hatte ich in Lehmhütten zusammen mit Bauern gelebt, die sich ausschließlich von getrocknetem Mais und Kartoffeln ernährten. Dort schien es oft wahrscheinlicher, daß ein Neugeborenes starb, als daß es seinen ersten Geburtstag erlebte. Ich hatte Armut erlebt, aber ich war durch nichts auf Jakarta vorbereitet.

 

Meine Kollegen und ich waren natürlich im besten Hotel des Landes untergebracht, dem Hotel InterContinental Indonesia. Es gehörte wie die anderen Hotels der InterContinental-Kette der Fluggesellschaft Pan American Airways und war auf die extravaganten Launen der reichen Ausländer ausgerichtet, vor allem auf die Mitarbeiter von Ölgesellschaften und ihre Familien. Am Abend unseres ersten Tages gab unser Projektleiter Charlie Illingworth ein Essen für uns im eleganten Restaurant im obersten Stock. Charlie war ein selbst ernannter Kriegsexperte, seine Freizeit widmete er vor allem der Lektüre von Geschichtsbüchern und historischen Romanen über große Schlachten und berühmte Feldherren. Er war der Inbegriff des Salonstrategen, der unbedingt für den Vietnamkrieg war, aber selbst nie gekämpft hatte. Wie üblich trug er an diesem Abend Khakihosen und ein kurzärmeliges Khakihemd mit militärisch wirkenden Schulterklappen. Nach der Begrüßung zündete er sich eine Zigarre an. »Auf das gute Leben«, seufzte er und hob das Champagnerglas. Wir schlossen uns an. »Auf das gute Leben.« Unsere Gläser klirrten. Eifrig an seiner Zigarre paffend sah Charlie sich um. »Wir werden hier richtig verwöhnt werden«, sagte er und nickte anerkennend. »Die Indonesier werden sich mit Hingabe um uns kümmern. Und die Leute von der amerikanischen Botschaft genauso. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß wir einen Auftrag zu erfüllen haben.« Er blickte auf die Notizzettel in seiner Hand. »Ja, wir sind hier, um einen Masterplan für die Elektrifizierung Javas zu entwickeln – die dichtbesiedeltste Region der Welt. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs.« Seine Miene wurde ernst; er erinnerte mich an George C. Scott in der Rolle von General Patton, einem von Charlies Helden. »Wir sind wegen nichts Geringerem hier, als das Land den Klauen des Kommunismus zu entreißen. Wie Sie wissen, hat Indonesien eine lange und tragische Geschichte. Nun, da es kurz davor steht, den Übergang ins 20. Jahrhundert zu vollziehen, wird es erneut auf den Prüfstand gestellt. Wir sind verantwortlich
und müssen dafür sorgen, daß Indonesien nicht in die Fußstapfen seiner nördlichen Nachbarn Vietnam, Kambodscha und Laos tritt. Ein einheitliches Stromnetz ist ein Schlüsselelement. Das wird mehr als jeder andere Faktor (wahrscheinlich einmal abgesehen vom Öl) dafür sorgen, daß sich Kapitalismus und Demokratie durchsetzen.« Charlie zog noch einmal an seiner Zigarre und überblätterte ein paar seiner Notizkärtchen.
»Da wir gerade von Öl reden«, fuhr er fort. »Wir alle wissen, wie sehr unser Land auf Öllieferungen angewiesen ist. Indonesien kann in dieser Hinsicht ein starker Verbündeter für uns werden. Wenn Sie daher den Masterplan entwickeln, achten Sie bitte darauf, daß die Ölindustrie und die damit verbundenen Einrichtungen – Häfen, Pipelines, Bauunternehmen – den erforderlichen Strom bekommen, den sie für die gesamte Dauer des
25-Jahres-Plans benötigen.« Er hob den Blick von seinen Notizen und sah mich direkt an. »Lieber ein bißchen übertreiben, als etwas zu unterschätzen. Sie wollen sicher nicht, daß das Blut der indonesischen Kinder – oder Ihrer eigenen Kinder – an Ihren Händen klebt. Sie wollen sicher nicht, daß die Bevölkerung Indonesiens unter Hammer und Sichel oder der roten Flagge Chinas leben muß!«


Als ich nachts in meinem Bett hoch über der Stadt bequem und geborgen in meiner Luxussuite lag, trat mir plötzlich Claudines Bild vor Augen. Ihre Ausführungen über Verschuldung verfolgten mich. Ich versuchte mich zu beruhigen und rief mir Lektionen aus meinen Makroökonomie-Seminaren ins Gedächtnis. Schließlich, sagte ich mir, bin ich hier, um Indonesien zu helfen, damit es seine mittelalterliche Wirtschaft überwindet und seinen Platz in der modernen industrialisierten Welt findet. Aber ich wußte, daß ich am nächsten Morgen aus meinem Fenster blicken und jenseits des prächtigen Hotelparks mit seinem Swimmingpool die Slums sehen würde, die sich kilometerweit erstreckten. Ich wußte, daß dort Babys starben, weil sie nicht genug zu essen und kein sauberes
Trinkwasser hatten. Kinder und Erwachsene litten gleichermaßen an furchtbaren Krankheiten und lebten unter schrecklichen Bedingungen. Ich warf mich in meinem Bett hin und her und gestand mir ein, daß Charlie und alle anderen in unserem Team aus eigennützigen Motiven hier waren. Wir arbeiteten für die amerikanische Außenpolitik und die wirtschaftlichen Interessen unseres Landes. Unsere Motivation war Gier, nicht der Wunsch, das Leben der Indonesier zu verbessern. Ein Wort kam mir in den Sinn: Korporatokratie, die Herrschaft der Konzerne. Ich war mir nicht sicher, ob ich es schon einmal gehört oder gerade erfunden hatte, aber es schien
die neue Elite perfekt zu beschreiben, die fest entschlossen war, die Weltherrschaft an sich zu reißen.


Die Korporatokratie war eine eingeschworene Gemeinschaft einiger weniger Männer mit gemeinsamen Zielen. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft wechselten mühelos und häufig zwischen Unternehmensvorständen und Regierungsämtern hin und her. Der damalige Präsident der Weltbank, Robert McNamara, war dafür ein perfektes Beispiel. Er war Vorstandsvorsitzender der Ford Motor Company gewesen und wurde dann Verteidigungsminister unter Kennedy und Johnson. Mittlerweile hatte er die wichtigste Position am mächtigsten Finanzinstitut der Welt inne. Ich erkannte auch, daß meine Professoren an der Universität nicht die wahre Natur der Makroökonomie verstanden hatten: Wenn man einer Volkswirtschaft zu Wachstum verhilft, werden oft nur die wenigen Menschen noch reicher, die ganz oben an der Spitze der Pyramide stehen. Für diejenigen ganz unten wird nichts getan, sie versinken nur noch tiefer im Elend. Die Verbreitung des Kapitalismus führt oft zu einem System, das an die mittelalterliche Ständegesellschaft erinnert. Falls einer meiner Professoren das gewußt haben sollte, dann hatte er es nicht zugegeben – wahrscheinlich weil große Unternehmen und die Männer, die sie leiten, Universitäten finanzieren. Hätte ein Professor die Wahrheit ausgesprochen, hätte ihn das unweigerlich seine Stelle gekostet – genau wie die offene Äußerung meiner Gedanken mich meinen Job kosten konnte.


Diese Gedanken hielten mich jede Nacht wach, die ich im Hotel InterContinental Indonesia verbrachte. Letzten Endes war das Argument, das ich zu meiner Verteidigung vorbrachte, sehr privater Natur: Ich hatte mich aus einer Kleinstadt in New Hampshire hochgearbeitet, hatte die Schule hinter mir gelassen und war der Einberufung entgangen. Durch eine Mischung aus Zufall und harter Arbeit hatte ich mir einen Platz auf der Sonnenseite des Lebens erkämpft. Außerdem tröstete ich mich mit dem Umstand, daß ich vom Standpunkt meiner Kultur aus das Richtige tat. Ich war auf dem Weg, ein erfolgreicher und angesehener Wirtschaftsexperte zu werden. Ich tat das, worauf mein Studium mich vorbereitet hatte. Ich half, ein Entwicklungsmodell umzusetzen, das von den besten Köpfen in den angesehensten Denkfabriken der Welt befürwortet wurde. Trotzdem mußte ich mich mitten in der Nacht oft mit dem Versprechen trösten, daß ich eines Tages die Wahrheit offenlegen würde. Dann las ich mich mit den Wildwestromanen von Louis L’Amour in den Schlaf.