Heilendes Bewusstsein: Die weise Frau von Büdingen

Nach meiner ersten Begegnung mit der Kunst indianischer Heiler war ich der festen Überzeugung, dass nur in der Ferne exotischer Kontinente altes Wissen überlebt haben konnte, in den Regenwäldern Amazoniens und in den unzugänglichen Bergen der Anden, auch in den Wüsten und Savannen Afrikas und in den Steppen Asiens, nicht aber in Europa, inmitten des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts unserer Zeit.

 

Aber tatsächlich lag unter der Oberfläche rationalen Denkens auch in unseren Ländern noch immer die Macht eines alten Mythos verborgen, der Glaube an Zauberkräfte und wunderbare Heilungen, nicht tief verschüttet, sondern direkt unter der kargen Oberfläche wissenschaftlicher Skepsis. Jeder Mensch schien irgendwie und wenigstens heimlich an besondere Kräfte zu glauben, die meisten behielten diesen Glauben für sich, aus Angst, sich lächerlich zu machen.

 

Nur in bestimmten ländlichen Regionen, im Allgäu zum Beispiel und in anderen, abgelegenen Gegenden, hatten sich kleine Rituale erhalten und wurden mehr oder weniger offen praktiziert, und da und dort traten einzelne Personen auf, denen die Menschen ihrer Umgebung heilende Kräfte zusprachen. Wenn die Patienten daran auch öffentlich zweifelten, nutzten sie doch insgeheim die Chance, auf vielleicht schnellere und schonendere Weise gesund zu werden. Vor allem bei schweren Erkrankungen, wenn die Schulmedizin bereits kapituliert hatte, setzten sie auf die legendäre Kraft von »Wunderheilern«.


Durch einen Zufall erfuhr ich von einer Frau, der ein Kreis von Menschen in ihrer Stadt große Erfolge bescheinigte. Sie hieß Grete Flach. Als ich sie kennen lernte, war sie 86 Jahre alt und von jugendlicher Kraft. Grete Flach war eine deutsche »Curandera«, eine Heilerin, die zwar vor allem auf die Wirkung medizinischer Pflanzen setzte, aber auch um die Macht des Wortes und die verborgenen Kräfte ritueller Handlungen wusste. Grete Flach war nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Egerland nach Büdingen gekommen, einer mittelalterlichen Kleinstadt nordöstlich von Frankfurt. Sie bezog ein kleines Haus in einer Straße, die »Über den Roten Gräben« hieß, direkt am Friedhof, ein Stück außerhalb der Altstadt. Über die Jahre hinweg erlangte sie eine gewisse Berühmtheit zunächst in der Stadt und dann in der Region. In zwei Büchern gab sie ihre Rezepte weiter, und so wurde sie auch weit über die Grenzen ihres Landkreises hinaus bekannt.

 

Als ich sie das erste Mal besuchte, zusammen mit meiner Frau, war es Spätherbst, und ich wollte einen Fernsehbericht über Grete Flach drehen. Sie saß im Keller ihres Hauses, wo sie stets praktizierte, wie ich später erfuhr, auf dem Weg zum Eingang kam der Besucher durch einen dicht bewachsenen wilden Kräutergarten. Im Keller hörte ich die letzten Anweisungen an einen Patienten und nahm wahr, dass er zehn Mark für den Rat der Heilerin bezahlte. Mein Gespräch mit Grete Flach verlief in eher kühler Atmosphäre.

 

Sie sagte, dies sei der falsche Zeitpunkt für einen Film, bald sei es Winter, und ihr wichtigster Schatz, der Kräutergarten, sei dann nicht mehr sinnvoll ins Bild zu setzen. Es war unmöglich, die Heilerin zur Mitarbeit zu überreden, so nutzte ich die verbliebene Zeit, um ihr meine linke Hand zu zeigen. Auf einem der Finger waren drei Warzen zu sehen, und ich fragte, ob sie da etwas tun könnte. »Aber natürlich«, sagte sie, »das ist doch gar nichts.

 

Da kommen Sie am Tag nach Vollmond und bringen ein Stück Speck mit, aber ungeräuchert muss er sein. Dann werden wir die Warzen mit einem Gebet besprechen und sie auf den Speck übertragen, den Sie an einer unzugänglichen Stelle vergraben müssen. Und die Warzen werden ganz schnell verschwinden.« Während sie das sagte, strich sie mehrfach über die befallene Stelle auf meinem Finger. Ich bedankte mich und gab ihr zehn Mark, wie der Patient vor mir. Zu meiner Überraschung reagierte Grete Flach ungehalten. »Das geben sie doch alle«, sagte sie. Ich war erstaunt und antwortete: »Das ist für die Beratung. Wenn wir den Film realisieren, können wir natürlich über ein Honorar reden« (zu diesem Zeitpunkt wurden im Deutschen Fernsehen nur selten Honorare gezahlt).


Grete Flach war nun nicht mehr freundlich, sondern offenkundig verstimmt. Sie schien sich ausgenutzt zu fühlen, aber ich war mir keiner Schuld bewusst. Ich verabschiedete mich und ging zu meinem Auto. Es war Nachmittag, und auf der Fahrt zurück nach Frankfurt ergriff mich eine nie gekannte Müdigkeit. Auch meine Frau, die das Gespräch verfolgt hatte, konnte sich kaum noch wach halten. Zu Hause angekommen musste ich mich sofort hinlegen, ich schlief unmittelbar ein und wachte erst nach 20 Stunden wieder auf, am Mittag des folgenden Tages. Und meiner Frau, obwohl sie nicht direkt beteiligt war, ging es genau so.

 

Wie auch immer dieses merkwürdige Erlebnis bei kühler Betrachtung zu erklären sein möchte: Der Ärger der Heilerin hatte bei uns offenkundig körperliche Reaktionen ausgelöst. Am folgenden Tag begann sich auch noch mein Finger zu entzünden, die Warzen veränderten sich. Was zunächst wie eine neue Erkrankung erschien, war aber der Beginn einer Heilung: Nach etwa einer Woche verschwanden die Warzen spurlos, und sie kamen bis auf den heutigen Tag nicht zurück. Das Ritual mit der Speckschwarte war nicht mehr notwendig – schon die Ankündigung und vielleicht auch die Berührung meines Fingers hatten genügt.


Aus der Forschung über die Kraft der Suggestion ist bekannt, dass Warzen sehr gut auf hypnotische Beeinflussung reagieren, aber Grete Flach hatte mich nicht in eine Trance geführt. Die Wirkung ihrer Persönlichkeit war unmittelbar, äußerst kraftvoll und direkt.

 

Ein halbes Jahr später fuhr ich wieder nach Büdingen, wohl vorbereitet und in einem Zustand großer Offenheit. Ich hatte mich von allen Plänen verabschiedet und akzeptiert, dass ein Film vielleicht nie zu Stande kommen würde. Ich wollte die Heilerin noch einmal treffen, um mich zu bedanken und um nachzuspüren, ob ich auch heute noch besondere Kräfte wahrnehmen könnte. Und ich wollte ohne Diskussion akzeptieren, wenn Grete Flach dem Filmprojekt nicht zustimmen würde. Mit dieser Haltung betrat ich den Keller.

 

Die Heilerin war von großer Herzlichkeit und fragte, was mich zu ihr geführt hätte. Nachdem ich mich für die Heilung bedankt hatte, trug ich meinen Wunsch vor, und sie sagte zu meiner Überraschung sofort zu. In Erinnerung an ihre Geldforderung fragte ich sie nach ihren Honorarwünschen. Sie antwortete, Geld interessiere sie nicht, natürlich müssten wir nichts bezahlen, sie brauche kein Geld, da sie sehr einfach leben würde, wie jeder sehen könne. Und dann erzählte sie mir, dass im vorigen Jahr ein Mann von einem anderen Sender da gewesen sei, der bei ihr einen Film drehen wollte. Sie beschrieb die Situation und sagte dann: »Mit dem hätte ich nie zusammengearbeitet, aber mit Ihnen tue ich das gern.«


Ich verwarf den Gedanken, die Wahrheit nicht aufzuklären, und sagte der Heilerin, ich sei der Mann im vorigen Jahr gewesen. Noch Monate später wollte sie das nicht glauben. Damals hatte ich schon wahrgenommen, dass sie die Situation vor allem mit ihrem Gefühl erfasste, weniger mit ihren Augen, die kaum noch das Äußere sahen, sondern mehr nach innen gerichtet waren. Und ihr Gefühl hatte ihr gezeigt, dass da jemand gekommen war, der ihr seinen Willen aufzwingen wollte, jetzt aber, dass da ein Mann erschienen war, der offen blieb für jedes Ergebnis und für ihre Entscheidung.


Es ist selten, dass sich so deutlich zeigt, wie Menschen einander jenseits der rationalen Beurteilung wahrnehmen. Denn natürlich ist dieses intuitive Erfassen der Wirklichkeit seit undenklichen Zeiten ein wichtiges Hilfsmittel für die Bewältigung des Alltags, ja manchmal sogar für das Überleben gewesen, aber der rationale Geist hat diese alte Fähigkeit bei den meisten Menschen überlagert, oft sogar ganz zerstört.


Für Menschen in Heilberufen aber scheint es von großer Bedeutung zu sein, sich dieser Ebene neu zu öffnen. Denn über die Wahrnehmung jenseits des prüfenden Verstandes kommen viele, für die Heilung wichtige Signale. Umgekehrt ist es für den Patienten unumgänglich, Vertrauen zu entwickeln und sich allen Möglichkeiten zu öffnen. Unser mechanistisches Weltbild macht es nicht einfach, sich von dieser offenen Haltung führen zu lassen. Und sicher ist es auch ratsam, auf einer anderen Ebene des Bewusstseins kritisch zu bleiben, so wie wir das auch der Schulmedizin gegenüber sein sollten. Ganz gleich, ob wir im Keller eines alten Hauses einer Heilerin wie aus ferner Zeit gegenübersitzen oder ob uns in einer High-Tech-Praxis ein moderner Facharzt mit dem Ultraschallgerät untersucht: Jene Balance zwischen Vertrauen und Offenheit einerseits und kritischer Distanz andererseits kann helfen, allen Teilen der Persönlichkeit gerecht zu werden.


Ein paar Tage nach dieser Begegnung durfte ich zusehen, wie Grete Flach eine Patientin behandelte, die unter einer schmerzhaften Gürtelrose litt. Es war eine ältere Frau, die seit vielen Jahren vergeblich alle Mittel der herkömmlichen Medizin versucht hatte. Keines hatte ihr auf Dauer geholfen. Jetzt wartete die Frau voller Hoffnung, aber auch unsicher über die ungewöhnliche Situation, auf den Rat der Heilerin. Grete Flach betrachtete die Rötung, die wie ein Band um den Bauch gespannt schien, und sie machte ihrer Patientin Mut: Das sei kein großes Problem, die Gürtelrose werde sicher bald verschwinden.

 

Grete Flach setzte sich vor die Patientin und schloss die Augen. Sie atmete ruhig und schien sich zu konzentrieren. Nach vielleicht zwei Minuten öffnete sie die Augen und blickte die Gürtelrose mit ruhigem Blick an. Dann sprach sie langsam ein Gebet: »Weiße Rose, rote Rose, Gürtelrose, ihr drei: Hüte dich, ich bitte dich, dass du vor Jesu Türe stehst und mit dem heutigen Tag vergehst.« Sie holte tief Luft und blies über die gerötete Haut. Dann wiederholte Sie das Ritual noch zweimal. Dieser kurze Moment der Konzentration war alles – danach gab sie noch einige persönliche Ratschläge und verabschiedete ihre Patientin. Einen Tag später erfuhr ich, dass die Frau noch am selben Nachmittag ins Schwimmbad gegangen war – zum ersten Mal seit vielen Jahren. Sie fühlte sich schmerzfrei, und nach einigen Tagen verschwand die Gürtelrose vollständig.

 

Das Geheimnis solcher Heilungen erschließt sich vielleicht, wenn wir die Situation aus der Sicht dieser Patientin betrachten, die Grete Flach zum ersten Mal aufsuchte: Sie wusste um den Ruf der Heilerin, kannte ein ganzes Geflecht wunderbarer Geschichten. Vorbereitet durch diese Erzählungen und voller innerer Bilder ging sie durch einen verzauberten Garten in ein kleines Haus, aber nicht in eine kühle Praxis, sondern durch
einen Nebeneingang hinunter in einen Keller, in einen düsteren Raum. Alles dort war von der Aura des Geheimnisvollen umweht, und wer sich dem aussetzt, ist in der Tiefe seiner Seele offen für besondere Erfahrungen. Wie es scheint, ist der rationale Geist, der auch dann noch die Steuerung in der Hand behält, nicht in der Lage, diese Offenheit der Seele zu stören. Während die Ratio agiert und den Faden des Gespräches weiterspinnt, löst sich unmerklich der Widerstand, diese Mauer der Angst vor der Wildnis des Irrationalen, und macht die Patientin durchlässig für die versteckten Botschaften jenseits der Logik.


In solchen Momenten geschehen wunderbare und vielleicht auch ängstigende Dinge. Ob wir dies als einen Beweis für die ungewöhnlichen Kräfte eines Menschen begreifen, als eine sozusagen physikalische »Strahlung«, die von einer Sekunde auf die andere Veränderungen auslösen kann, oder ob wir eher eine besondere, mit den Begriffen der Psychologie erklärbare Situation für solche unmittelbaren Wirkungen verantwortlich machen, spielt im Ergebnis keine Rolle: Die Situation ist herausgehoben aus dem Alltag, aus dem Erklärbaren, Bekannten, die Begegnung ein besonderer Moment, eine archaische Stunde voller Magie. Ist das die Kunst, die jeder wunderbaren Heilung zugrunde liegen könnte? Das, was moderne Psychologen das »Setting« nennen? Und worauf müssten Ärzte und andere Heilkundige vor diesem Hintergrund achten, wenn sie die besondere Kraft, die sich aus dem Umfeld zu ergeben scheint, als Hilfsmittel für Heilung nutzen wollen?


Offenbar sprach Grete Flach eine Schicht des Bewusstseins an, die sich nach dem Geheimnisvollen, nach zauberhaften Begebenheiten sehnt, die – verborgen unter der Schicht wissenschaftlicher Gewissheit – an Wunder glaubt und deshalb bereit ist, Wunder zu erzeugen.


Als die Dreharbeiten bei der Heilerin beginnen sollten, hatte sich der Kameramann am Fuß schwer verletzt, als er am Vorabend in seinem Haus eine schwere Eichentür ausgehängt hatte. Die Tür war mit vollem Gewicht auf seinen Fuß gefallen. Obwohl die große Zehe blau angelaufen und extrem geschwollen war, lehnte er den Besuch in einem Krankenhaus ab. Immerhin war er bereit, die Verletzung der Heilerin zu zeigen, wenn er auch von den Fähigkeiten der alten Frau keineswegs überzeugt war. Er tat dies eigentlich nur, um mich zu beruhigen. Grete Flach reagierte freundlich und beinahe fröhlich – das sei ja alles gar nicht so schlimm und werde schnell vergehen. Ich solle für meinen Kollegen in den Garten gehen, den Hauptweg in Richtung Tor, dann den dritten Weg links. Dort stehe rechts eine Huflattichpflanze, die noch vier Blätter habe. Davon solle ich zwei pflücken und ihr bringen. Ich ging in den Garten und fand die Pflanze unter Hunderten an der beschriebenen Stelle. Grete Flach gab die Anweisung, die beiden Blätter zu teilen und eines um die Zehe zu legen.


Am Abend solle der Patient das nächste Blatt nehmen, und dann am folgenden Tag noch zweimal wechseln. Ich war nicht allzu beruhigt, denn die Erfahrung sagte mir, dass es mindesten eine Woche dauern würde, bis die Schwellung und der Bluterguss sich zurückbilden würden. Tatsächlich waren die Schmerzen schon am Abend verschwunden, und am nächsten Tag war die Zehe vollständig abgeschwollen und die Hautfarbe wieder normal.


Ich konnte kaum glauben, was da geschehen war, denn diese Heilung widersprach allem, was ich für möglich gehalten hatte. Einen kurzen Augenblick war ich sogar geneigt, die Schwere der Verletzung zu leugnen, die Schwellung kleiner zu reden und auch die dunkelblaue Verfärbung der Zehe aus der Erinnerung zu streichen. Aber das Bild der Verletzung stand mir noch zu deutlich vor Augen, um diese Umgestaltung der Wirklichkeit in meiner Erinnerung zuzulassen. Ich war Zeuge einer ungewöhnlichen Heilung geworden. Aber was war geschehen? War es denkbar, dass die Berührung der Zehe mit dem Huflattichblatt diese erstaunlichen Effekte erzielte?


Grete Flach war überzeugt davon, sie war eine bescheidene Frau, die täglich die segensreichen Wirkungen ihrer Pflanzen beobachtete. Aber schon meine erste Erfahrung mit der Heilerin hatte mir gezeigt, dass sie über besondere Kräfte zu verfügen schien, zumindest aber über die Fähigkeit, im Augenblick der Behandlung einen besonderen, fast heiligen Raum zu schaffen. Sie tat dies unmerklich, ohne spektakuläre Handlungen, auch waren ihre Anweisungen an die Patienten eher burschikos, bisweilen sogar schroff, das Gegenteil einer sakralen Handlung. Und dennoch gelang es ihr offenbar, eine direkte Verbindung zum Patienten herzustellen und ihm die Bedeutung des Augenblicks in die Seele zu pflanzen.


In den nächsten Monaten hatte ich Gelegenheit, sie bei ihrer Arbeit immer wieder zu beobachten, und bis zu meiner letzten Begegnung mit ihr blieb das Geheimnis ihrer Erfolge unergründet. Waren es besondere Kräfte, die sie einsetzte, vielleicht sogar unbewusst? Oder war es doch vor allem das Setting, in dem die Behandlung stattfand, jene Atmosphäre von Zauberei und praktischer Gewissheit, die der Wirkung der Pflanzen einen Schub gab? Konnte jeder, der ihre Rezepte nutzte, die gleichen Erfolge verbuchen? Oder brauchte es ihre Autorität, um die Kraft der Pflanzen gleichsam zu potenzieren?