Michael Greger: Einführung

Die Häufigsten Todesursachen vermeiden, aufhalten und umkehren

Vermutlich stirbt niemand an Altersschwäche. Die Ergebnisse einer Auswertung von über zweiundvierzigtausend konsekutiven Autopsien ergab, dass über Hundertjährige in 100 Prozent aller untersuchten Fälle an Krankheiten gestorben waren. Obwohl die meisten unter ihnen sogar von ihren Ärzten bis kurz vor ihrem Tod als gesund eingeschätzt worden waren, starb keiner von ihnen an „Altersschwäche“. Bis vor Kurzem wurde ein sehr fortgeschrittenes Alter als eigene Krankheit angesehen, aber Menschen sterben nicht am Altwerden, sondern an Krankheiten, in der Regel Herzinfarkten.


Die meisten Todesfälle in den USA sind vermeidbar und hängen damit zusammen, was wir essen. Unsere Ernährung ist die Hauptursache für all die frühzeitigen Tode und ebenso für Invalidität. Demzufolge müsste Ernährung auch das Top-Thema an den medizinischen Ausbildungsstätten sein, richtig?


Leider ist das nicht der Fall. Der aktuellsten Umfrage zufolge bietet nurein Viertel aller medizinischen Fakultäten in den USA auch nur einen einzigen Kurs in Ernährungswissenschaft an, im Vergleich zu 37 Prozent vor noch dreißig Jahren.

 

Während der Großteil der Öffentlichkeit Ärzte als „sehr glaubhafte“ Quellen für ernährungsbezogene Informationen hält, gaben sechs von sieben befragten Medizinabsolventen an, sie hielten Ärzte für nicht ausreichend ausgebildet, um Patienten zu Ernährungsfragen zu beraten. Eine weitere Untersuchung ergab, dass Passanten auf der Straße zum Teil mehr über Ernährungsgrundlagen wussten als ihre Ärzte, und schloss mit dem Fazit, dass „Ärzte mehr Kenntnisse über Ernährungsfragen als ihre Patienten haben sollten, die Ergebnisse aber nahelegen, dass dies nicht unbedingt der Fall ist.“


Um diese Situation zu verbessern, wurde in Kalifornien ein Gesetzentwurf eingereicht, um Ärzte in den folgenden vier Jahren zum Absolvieren von mindestens zwölf Weiterbildungsstunden im Bereich Ernährung zu verpflichten. Es wird Sie überraschen zu lesen, dass sich die California Medical Association so wie auch andere traditionelle medizinische Verbände wie die California Academy of Family Physicians vehement gegen diesen Entwurf aussprachen. Der Gesetzesentwurf wurde im Verlauf von über vier Jahren von einer verpflichtenden Mindeststundenzahl von zwölf auf sieben Stunden abgeändert und schließlich, könnte man sagen, bis auf null herunter„gedoktert“.


Die kalifornische Ärztekammer besteht allerdings auf einem Pflichtkurs: zwölf Stunden Schmerztherapie und Sterbebegleitung für Todkranke. Dieser eklatante Gegensatz zwischen der Prävention und einem bloßen Abmildern des Leidens könnte als Metapher für die moderne Medizin dienen. Ein Doktor am Tag scheint die Äpfel fernzuhalten.


Im Jahr 1903 prophezeite Thomas Edison, dass „der Arzt der Zukunft keine Medikamente mehr verschreibt, sondern seine Patienten über die richtige Fürsorge für den menschlichen Körper in Sachen Ernährung und der Vorbeugung von Krankheiten aufklärt.“ Leider reicht es schon aus, wenige Minuten die Medikamentenwerbung im TV anzuschauen, die die Zuschauer auffordert, „ihren Arzt oder Apotheker“ nach bestimmten Mitteln zu fragen, um festzustellen, dass Edisons Prophezeiung nicht wahr geworden ist.

 

Eine Untersuchung Tausender Besuche von Patienten bei ihren Ärzten fand heraus, dass die  durchschnittliche Zeit, die Hausärzteüber Ernährung sprechen, bei etwa 10 Sekunden liegt. Was soll’s, das ist das einundzwanzigste Jahrhundert! Können wir nicht essen, was immer wir wollen, und einfach Medikamente nehmen, wenn wir gesundheitliche Probleme bekommen? Bei zu vielen Patienten und sogar meinen Berufskollegen scheint dies die vorherrschende Denkweise zu sein.


Die globalen Ausgaben für verschriebene Medikamente überschreiten jährlich 1 Trillion US-Dollar, wobei die USA allein ein ganzes Drittel dieses Marktes ausmachen. Warum geben wir so viel für Tabletten aus? Viele Menschen glauben, dass die Art unseres Todes genetisch vorprogrammiert ist. Bluthochdruck mit fünfundfünfzig, Herzinfarkte mit sechzig, vielleicht Krebs mit siebzig, usw. usf. … Was die häufigsten Todesursachen anbelangt, hat die Wissenschaft aber nachgewiesen, dass unsere Gene dabei lediglich ein Risiko von höchstens 10 bis 20 Prozent darstellen. 

 

So werden Sie in diesem Buch u. a. lesen, dass die Todesraten für z. B. Herzerkrankungen und häufige Krebsarten zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen der ganzen Welt bis zu hundertfach voneinander abweichen. Wenn aber Menschen aus einem risikoarmen in ein risikohohes Land ziehen, passen sich auch die Todesraten denen der neuen Umgebung an.16 Neue Ernährung, neue Krankheiten. Während ein sechzigjähriger Amerikaner in San Francisco mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 5 Prozent in den nächsten fünf Jahren einen Herzinfarkt erleiden wird, würde dieses Risiko, wenn er nach Japan zöge und so wie die Japaner lebte und äße, auf nur 1 Prozent sinken. Japanischstämmige Amerikaner ab vierzig allerdings haben dasselbe Herzinfarktrisiko wie Japaner ab sechzig. Der Wechsel zur amerikanischen Lebensweise hat ihre Herzen ganze zwanzig Jahre altern lassen.


Die Mayo Clinic schätzt, dass fast 70 Prozent aller US-Amerikaner mindestens ein verschriebenes Medikament nehmen. Trotz der Tatsache, dass mehr Menschen in diesem Land Medikamente einnehmen als die, die es nicht tun, ganz zu schweigen vom ständigen Zustrom an immer neuen und immer teureren Medikamenten auf dem Markt, leben wir nicht länger als andere. Was die Lebenserwartung angeht, rangieren die USA auf Platz sieben- oder achtundzwanzig unter den vierunddreißig Spitzenplätzen der
Demokratien mit freier Marktwirtschaft. Menschen in Slowenien leben länger als wir. Und die Extrajahre, die wir leben, sind nicht unbedingt gesund oder vital. Im Jahr 2011 wurde eine verstörende Analyse der Sterblichkeit und Morbidität im Journal of Gerontology veröffentlicht. Leben die US-Amerikaner länger als noch vor einer Generation? Theoretisch ja. Aber sind diese Extrajahre auch zwangsläufig gesund verlebte? Nein. Und es kommt noch schlimmer. Wir verleben weniger gesunde Jahre als früher. Zur Erklärung: Ein Zwanzigjähriger konnte 1998 noch achtundfünfzig weitere Lebensjahre erwarten, während ein Zwanzigjähriger im Jahr 2006 bereits eine Lebenserwartung von weiteren neunundfünfzig Jahren hatte.


Doch würde der Zwanzigjährige aus den 90er-Jahren vermutlich nur zehn von diesen Jahren mit einer chronischen Erkrankung verbringen, während der andere mittlerweile schon mit etwa dreizehn Jahren rechnen müsste. Es gleicht einem Schritt vorwärts und dreien zurück. Die Forscher fanden auch heraus, dass wir weniger funktionale Jahre verleben, d. h. dass wir im Schnitt zwei Jahre unseres gesamten Lebens nicht länger einfache Aktivitäten ausführen können, wie etwa 400 Meter laufen, zwei Stunden lang stehen oder sitzen ohne uns hinzulegen oder ohne spezielle Hilfsmittel stehen. Mit anderen Worten leben wir also länger, sind dabei aber kränker.

 

Mit derart steigenden Erkrankungsraten könnten unsere Kinder sogar wieder früher sterben. Ein spezieller Bericht, der im New England Journal of Medicine mit dem Titel „A Potential Decline in Life Expectancy in the United States in the 21st Century“ („Ein potenzieller Rückgang der Lebenserwartung in den USA im 21. Jahrhundert“) veröffentlicht wurde, zog die Schlussfolgerung, dass „der ständige Anstieg der Lebenserwartung, der in der modernen Zeit beobachtet wurde, schnell zu einem Ende kommen könnte, und die heutige Jugend im Durchschnitt ein ungesünderes und sogar kürzeres Leben führen könnte als ihre Eltern.“


An den gesundheitswissenschaftlichen Bildungseinrichtungen lernen die Studenten, dass es bei der Präventivmedizin drei Stufen gibt. Die erste ist die Primärprävention, die z. B. versucht, Patienten mit Herzinfarktrisiko davor zu bewahren, einen solchen zu erleiden. Ein praktisches Beispiel dafür wäre, dass Ihr Arzt Ihnen ein Statinmedikament gegen hohes Cholesterin verschreibt. Die Sekundärprävention kommt ins Spiel, wenn Sie die Erkrankung bereits haben und versuchen, deren Fortschreiten aufzuhalten, um z. B. keinen zweiten Herzinfarkt zu erleiden. Zu diesem Zweck könnte Ihr Arzt Ihnen zusätzlich zu dem Statin Aspirin oder andere Medikamente verschreiben. Die dritte Stufe der Präventivmedizin legt den Fokus darauf, den Menschen mit der Bewältigung langfristiger Gesundheitsprobleme zu helfen. Ihr Arzt könnte Ihnen dafür ein kardiales Rehabilitationsprogramm verschreiben, das den weiteren körperlichen Abbau und zusätzliche Schmerzen vermeiden helfen soll. Im Jahr 2000 wurde eine vierte Stufe vorgeschlagen.

 

Was könnte wohl die Aufgabe dieser „Quartärprävention“ sein? Die Nebenwirkungen und negativen Begleiterscheinungen all der Medikamente und Operationen der ersten drei Stufen abzumildern. Die Leute scheinen aber ein fünftes Konzept namens primordiale Prävention zu vergessen, das bereits 1978 von der Weltgesundheitsorganisation eingeführt wurde. Jahrzehnte später steht nun endlich auch die American Heart Association dahinter. Die primordiale Prävention wurde als Strategie dafür entwickelt, ganze Gesellschaften vor den Epidemien zunehmender Risikofaktoren chronischer Volkskrankheiten zu bewahren. Dies beinhaltet nicht nur das Verhindern chronischer Erkrankungen selbst, sondern auch das Beseitigen der Risikofaktoren, die diese chronischen Krankheiten erst auslösen. Warum sollte man bspw., anstatt jemanden mit einem hohen Cholesterinspiegel vor dem Erleiden eines Herzinfarkts zu bewahren, diese Person zuallererst nicht dabei unterstützen, gar nicht erst so einen hohen Cholesterinspiegel (der zum Herzinfarkt führt) zu erreichen?


Mit diesem Gedanken im Hinterkopf entwickelte die American Heart Association (AHA) die „Einfachen 7“-Empfehlungen, die zu einem gesünderen Leben führen: nicht rauchen, keine Fettleibigkeit, „sehr aktiv“ sein (d. h. z. B. mindestens 22 Minuten am Tag laufen), gesünder essen (z. B. viel Obst und Gemüse), ein Cholesterinspiegel unter dem Durchschnitt, normaler Blutdruck und normale Blutzuckerwerte. Das Ziel der AHA ist es, die durch Herzkrankheiten verursachten Tode bis zum Jahr 2020 um 20 Prozent zu senken. Wenn sich mehr als 90 Prozent aller Herzinfarkte durch eine veränderte Lebensweise verhindern lassen, warum ist das Ziel dann so niedrig gesteckt? Sogar 25 Prozent wurden als „unrealistisch erachtet“. Der Pessimismus der AHA mag mit der beängstigenden Realität der durchschnittlichen US-amerikanischen bzw. westlichen Ernährungsweise zusammenhängen.


In der Fachzeitschrift der AHA wurde eine Analyse des Gesundheitsverhaltens von fünfunddreißigtausend Erwachsenen aus den gesamten USA veröffentlicht. Die meisten der Teilnehmer rauchten nicht, ungefähr die Hälfte erreichte ihre wöchentlich gesteckten Trainingsziele, und etwa ein Drittel erfüllte einen der weiteren Punkte – außer bei der Ernährung. Die Ernährungsweisen der Teilnehmer wurden auf einer Skala von null bis fünf eingeordnet, um herauszufinden, ob sie das Minimum eines gesunden Essverhaltens erfüllten und z. B. die empfohlenen Mengen an Obst, Gemüse und Vollkornprodukten verzehrten oder pro Woche weniger als drei Dosen Erfrischungsgetränke tranken. Wie viele der Probanden erreichten wohl vier von fünf Punkten auf der Skala? Etwa 1 Prozent. Sollte die AHA bis zum Jahr 2020 ihr Ziel von „ambitionierten“ 20 Prozent Verbesserung erreichen, schaffen wir es vielleicht bis auf 1,2 Prozent.


Medizinische Anthropologen haben verschiedene Epochen menschlicher Krankheiten bestimmt, beginnend mit der Epoche von Pest und Hungersnöten, die weitgehend mit der industriellen Revolution endete, oder die Epoche, in der wir uns jetzt befinden, das Zeitalter degenerativer und von den Menschen selbst verursachter Krankheiten. Dieser Wandel wird durch die veränderten Todesursachen im Laufe des letzten Jahrhunderts widergespiegelt. Im Jahr 1900 waren die drei häufigsten Todesursachen in den USA Infektionskrankheiten: Lungenentzündung, Tuberkulose und Durchfallerkrankungen.34 Heute sterben wir größtenteils an Krankheiten, die durch unsere Lebensweise hervorgerufen werden: Herzerkrankungen, Krebs und chronische Lungenerkrankungen.35 Liegt das vielleicht nur daran, dass wir dank Antibiotika jetzt lang genug leben, um chronische Krankheiten zu bekommen? Nein. Das Aufkommen dieser Epidemien chronischer Krankheiten ging mit einem dramatischen Wechsel unserer Ernährungsgewohnheiten einher. Das lässt sich am besten anhand der Erkrankungsraten von Menschen in Entwicklungsländern veranschaulichen, die schnell eine westliche Ernährungsweise übernommen haben.

 

Noch im Jahr 1990 fielen weltweit die meisten gesunden Lebensjahre der Mangelernährung zum Opfer, z. B. durch Durchfallerkrankungen bei mangelernährten Kindern. Heute aber werden die größte Menge tödlich verlaufender Erkrankungen mit Bluthochdruck in Verbindung gebracht, der durch Überernährung entsteht. Die Pandemie chronischer Krankheiten wird zum Teil einem fast universellen Wechsel zu einer Ernährung zugeschrieben, die von tierischen Produkten und industriell weiterverarbeiteten Lebensmitteln dominiert wird, sprich mehr Fleisch, mehr Milchprodukten, mehr Eiern, Ölen, Erfrischungsgetränken, Zucker und raffiniertem Getreide. China ist vermutlich das am besten erforschte Beispiel. Der Wechsel von der traditionellen pflanzenbasierten Ernährungsweise hin zum westlichen Modell wurde von einem deutlichen Anstieg ernährungsbedingter chronischer Krankheiten begleitet, wie bspw. Fettleibigkeit, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs.


Warum glauben wir, dass eine veränderte Ernährung mit Krankheiten zusammenhängt? Schließlich sind sich schnell entwickelnde Gesellschaften einer Vielzahl von Veränderungen unterworfen. Wie können Wissenschaftler nur die Wirkung bestimmter Lebensmittel ermitteln? Um den Effekt verschiedener Ernährungskomponenten zu isolieren, können Wissenschaftler über einen gewissen Zeitraum hinweg die Ernährung und die Krankheiten großer Probandengruppen überwachen, die aus festgelegten Einzelpersonen bestehen. Nehmen wir z. B. Fleisch. Um festzustellen, welchen Einfluss ein erhöhter Fleischkonsum auf die Erkrankungsraten hat, haben Wissenschaftler frühere Vegetarier untersucht. Bei Menschen, die sich früher vegetarisch ernährten, dann aber begannen, mindestens einmal pro Woche Fleisch zu essen, erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit eines Herzinfarkts um 146 Prozent, die eines Schlaganfalls um 152 Prozent, die von Diabetes um 166 Prozent und die von Übergewicht um 231 Prozent. 12 Jahre nach dem Wechsel von einer vegetarischen zu einer omnivoren Ernährungsweise wird das Essen von Fleisch mit einer um 3,6 Jahre verringerten Lebenserwartung in Verbindung gebracht.


Sogar Vegetarier können an hohen Erkrankungsraten leiden, wenn sie viele industriell verarbeitete Produkte essen. Nehmen wir z. B. Indien. Die Erkrankungsraten für Diabetes, Herzkrankheiten, Fettleibigkeit und Schlaganfälle sind schneller gestiegen als aufgrund des nur wenig gestiegenen Fleischkonsums pro Kopf zu erwarten war. Dies wurde auf das Sinken des „Anteils vollwertiger Lebensmittel bei der Ernährung“ zurückgeführt, was u. a. den Wechsel von braunem zu raffiniertem weißem Reis und den erhöhten Verzehr anderer raffinierter Kohlenhydrate, abgepackter Snacks und Fast Food anstelle der traditionell in Indien verzehrten Grundnahrungsmittel Linsen, Obst, Gemüse, Vollkorn, Nüsse und Samen zugeschrieben wurde.

 

Generell liegt die Trennlinie zwischen gesundheitsförderlichen und gesundheitsschädlichen Lebensmitteln weniger zwischen pflanzlichen und tierischen Lebensmitteln sondern eher zwischen vollwertigen Lebensmitteln und dem gesamten Rest. Zu diesem Zweck wurde ein Ernährungsqualitätsindex entwickelt, der einfach auf einer Skala von eins bis hundert den Kalorienanteil prozentual widerspiegelt, den nährstoffreiche, unverarbeitete Lebensmitteln bei der menschlichen Ernährung ausmachen. Je höher der Wert ist, den man dabei erzielt, umso mehr Körperfett verliert man mit der Zeit, und umso niedriger ist das Risiko einer abdominalen Adipositas, hohen Blutdrucks, eines hohen Cholesterinspiegels und hoher Triglyceride.


Beim Vergleich der Ernährung von 100 Frauen mit Brustkrebs mit der Ernährung von 175 gesunden Frauen stellten Wissenschaftler fest, dass ein höheres Abschneiden auf dem Index einer vollwertigen pflanzenbasierten Ernährung (höher als dreißig im Vergleich zu weniger als achtzehn) das Risiko von Brustkrebs um mehr als 90 Prozent senken kann. Leider erreichen die meisten US-Amerikaner kaum einen Wert über zehn. Die durchschnittliche US-amerikanische Ernährungsweise schlägt mit gerade einmal 11 von 100 erreichbaren Punkten zu Buche. Gemäß Schätzungen des US-Landwirtschaftsministeriums stammen 32 Prozent der Gesamtkalorien von tierischen Lebensmitteln,  Prozent von verarbeiteten pflanzlichen Lebensmitteln und nur 11 Prozent von Vollkorn, Bohnen, Obst, Gemüse und Nüssen. Das bedeutet, dass die US-amerikanische Ernährungsweise auf einer Skala von 1 bis 10 bei lediglich 1 läge. Wir essen fast so, als gäbe es kein Morgen. Und es gibt tatsächlich Fakten, die das belegen. Eine Untersuchung namens „Death Row Nutrition: Curious Conclusions of Last Meals“ („Das letzte Mahl: Interessante Schlussfolgerungen zur Ernährung im Todestrakt“) analysierte die letzten Mahlzeiten Hunderter Einzelpersonen, die in den USA im Zeitraum von fünf Jahren exekutiert wurden. Es stellte sich heraus, dass diese vom Nährwert her nicht groß von dem abwichen, was US-Amerikaner normalerweise essen. Wenn wir weiterhin so essen, als ob es sich um unsere letzte Mahlzeit handelt, wird dies irgendwann auch der Fall sein.


Wie groß war der Prozentsatz der US-Amerikaner, der alle „Einfachen 7“-Empfehlungen der AHA befolgte? Von 1.933 befragten Männern und Frauen befolgten die meisten zwei oder drei, aber kaum jemand schaffte es, alle sieben einfachen Gesundheitsempfehlungen zu befolgen. Tatsächlich konnte nur eine einzige Person alle sieben Empfehlungen umsetzen. Eine Person von fast zweitausend. Wie es ein früherer Präsident der AHA ausdrückte: „Das sollte uns allen zu denken geben.“ Dabei hat bereits das Befolgen vier einfacher gesunder Lebensregeln einen starken Einfluss auf die Prävention von chronischen Krankheiten: nicht rauchen, nicht fettleibig sein, eine halbe Stunde täglich Sport treiben und gesünder essen, d. h. Obst, Gemüse, Vollkornprodukte und weniger Fleisch.

 

Diese vier Faktoren allein sind für 78 Prozent des Risikos chronischer Erkrankungen verantwortlich. Wenn Sie noch einmal neu anfangen und es schaffen, alle diese Dinge abzuhaken, können Sie vermutlich auch gleich mehr als 90 Prozent des Risikos beseitigen, an Diabetes zu erkranken, über 80 Prozent des Risikos, einen Herzinfarkt zu erleiden, die Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls halbieren und ihr Risiko, an Krebs zu erkranken, um mehr als ein Drittel senken. Für einige Krebsarten wie die Killerkrankheit Nummer zwei der USA, Darmkrebs, scheinen 71 Prozent der Fälle mit einem ähnlichen Portfolio an einfachen Änderungen der Lebens- und Ernährungsweise vermeidbar zu sein.


Vielleicht wird es Zeit, nicht mehr die Gene für alles verantwortlich zu machen, und sich stattdessen auf die über 70 Prozent zu konzentrieren, die in unserer Macht liegen. Wir haben es in der Hand.

 

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Schlägt sich diese gesunde Lebensweise auch in einem längeren Leben nieder? Die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) beobachteten etwa achttausend US-Amerikaner ab zwanzig Jahren über einen Zeitraum von sechs Jahren. Sie fanden heraus, dass es drei grundlegende Lebensgewohnheiten gibt, die einen enormen Einfluss auf die Sterblichkeit haben: Menschen können das Risiko eines frühes Todes erheblich reduzieren, wenn sie nicht rauchen, sich gesünder ernähren und ausreichend körperlich aktiv sind. Die Richtlinien der CDC waren dabei relativ entspannt: Nicht rauchen bedeutete laut CDC-Definition lediglich, momentan nicht zu rauchen. Eine „gesunde Ernährung“ hieß, zu den oberen 40 Prozent zu gehören, die den recht erbärmlichen öffentlich herausgegebenen bundesweiten Ernährungsrichtlinien der USA folgten, und „körperlich aktiv“ bedeutete, täglich etwa zweiundzwanzig Minuten oder länger einer zumindest moderaten sportlichen Aktivität nachzugehen.


Diejenigen, die wenigstens eine dieser Lebensgewohnheiten beherzigten, hatten bereits ein 40 Prozent geringeres Risiko, innerhalb der nächsten sechs Jahre zu sterben. Diejenigen, die zwei der drei empfohlenen Lebensgewohnheiten befolgten, konnten das Risiko eines frühzeitigen Todes mehr als halbieren, und diejenigen, die alle drei Gewohnheiten einhielten, senkten das Risiko, im gleichen Zeitraum zu sterben, um 87 Prozent. Natürlich flunkern die Leute manchmal, wenn es darum geht, wie gesund sie essen. Wie akkurat können diese Ergebnisse sein, wenn sie darauf beruhen, wie sich Menschen selbst einschätzen? Eine ähnliche Untersuchung zum Zusammenhang zwischen Gesundheitsverhalten und Überleben verließ sich nicht nur auf die Aussagen der Probanden, wie gesund sie sich ernährten, sondern maß auch deren Vitamin-C-Gehalt im Blut. Die Höhe des Vitamin-C-Gehalts wurde als „guter Biomarker für den Verzehr pflanzlicher Lebensmittel“ erachtet und wurde deshalb als Zeichen einer gesunden Ernährung angesehen. Die Ergebnisse ergaben Ähnliches. Das Sterblichkeitsrisiko der Probanden mit einer gesünderen Lebensweise sank in einem Maße, dass es einem vierzehn Jahre jüngeren Alter entsprach. Das ist so, als könne man die Uhr vierzehn Jahre zurückdrehen – und zwar nicht mit einem Medikament oder einem DeLorean aus „Zurück in die Zukunft“, sondern allein dank einer gesünderen Ernährungs- und Lebensweise.


Sprechen wir ein bisschen übers Altern. Jede Ihrer Zellen enthält sechsundvierzig DNA-Stränge, die zu Chromosomen aufgerollt sind. An der Spitze aller Chromosomen sitzen winzige Kappen, die Telomere. Diese bewahren die DNA davor, sich zu entrollen und auszufransen. Sie können sich diese so wie die Plastikenden Ihrer Schnürsenkel vorstellen. Jedes Mal, wenn Ihre Zellen sich teilen, geht allerdings ein kleiner Teil dieser Kappen verloren. Wenn das Telomer sich komplett aufgelöst hat, können Ihre Zellen
absterben. Auch wenn dies eine starke Vereinfachung sein mag,57 glaubt man, dass Telomere die Funktion einer „Sicherung“ für das Leben übernehmen: Schon ab Geburt können sie beginnen, kürzer zu werden, und wenn sie ganz weg sind, sind auch Sie weg. Tatsächlich können Gerichtsmediziner die DNA aus einem Blutfleck entnehmen und grob feststellen, wie alt ein Todesopfer in etwa war, je nachdem wie lang die Telomere sind. Das hört sich an wie die Idee zu einer großartigen Münsteraner Tatort-Szene, doch gibt es in der Realität irgendetwas, was man tun kann, um die Geschwindigkeit zu drosseln, mit der diese Sicherungen durchbrennen? Der dahinter stehende Gedanke ist, dass man, wenn man das Ticken der zellulären Uhr verlangsamen kann, auch den Alterungsprozess aufhalten und dadurch länger leben kann.

 

Was können Sie selbst konkret tun, um den Verschleiß Ihrer Telomerkappen zu verhindern? Nun, Rauchen z. B. wird mit einem dreimal so schnellen Verlust der Telomere in Verbindung gebracht, also ist der erste Schritt recht einfach: Hören Sie mit dem Rauchen auf. Doch auch die Lebensmittel, die Sie täglich essen, haben einen Einfluss darauf, wie schnell Ihre Telomere das Zeitliche segnen. Der Verzehr von Obst,61 Gemüse und anderen antioxidantienreichen Lebensmitteln wird mit länger widerstandsfähigen Telomeren in Verbindung gebracht. Im Gegensatz dazu wird der Verzehr von raffiniertem Getreide, süßen Erfrischungsgetränken, Fleisch (einschließlich Fisch) und Milchprodukten mit verkürzten Telomeren assoziiert. Was aber, wenn Sie sich auf der Basis vollwertiger pflanzlicher Lebensmittel ernährten und die Finger von stark verarbeiteten und tierischen Produkten ließen? Könnte die Zellalterung dann verlangsamt werden? Die Antwort liefert ein Enzym namens Methusalem. Dieser Name wurde einer Grannenkiefer verliehen, die in den kalifornischen White Mountains wächst und zur Zeit der Namensgebung der älteste bekannte lebende Baum der Welt war. Heute nähert sie sich ihrem 4.800. Geburtstag. Es gab sie schon hundert Jahre, bevor der Bau der Pyramiden in Ägypten begann. In den Wurzeln dieser Kiefernart gibt es ein Enzym, das nach einigen tausend Jahren im Lebenszyklus der Bäume seine höchste Wirksamkeit entwickelt und Telomere tatsächlich wieder aufbaut. Wissenschaftler tauften dieses Enzym Telomerase. Nachdem sie wussten, wonach sie zu suchen hatten, entdeckten Wissenschaftler dieses Enzym auch in menschlichen Zellen. Daraufhin stellte sich die Frage, wie wir die Aktivität dieses Enzyms ankurbeln können, das das Altern aufhält. Auf der Suche nach Antworten tat sich der Forscherpionier Dr. Dean Ornish mit Dr. Elizabeth Blackburn zusammen, die 2009 für die Entdeckung des Enzyms Telomerase den Medizin-Nobelpreis erhielt. Bei einer Untersuchung, die zum Teil vom US-Verteidigungsministerium finanziert wurde, fanden sie heraus, dass drei Monate mit einer vollwertigen pflanzenbasierten Ernährung und anderen gesunden Lebensstiländerungen die Aktivität von Telomerase deutlich steigern konnten – die einzige bisher nachgewiesene Maßnahme, die dies erzielen konnte.

 

Die Ergebnisse der Untersuchung wurden in einer der angesehensten medizinischen Fachzeitschriften der Welt veröffentlicht. Der begleitende Leitartikel hielt fest, dass diese Meilenstein-Studie „Menschen dazu motivieren sollte, eine gesunde Lebensweise zu verfolgen, um Krebs und altersbedingte Erkrankungen zu bekämpfen.“ Konnten Dr. Ornish und Dr. Blackburn allein mit einer gesunden Ernährungs- und Lebensweise das Altern erfolgreich verlangsamen? Vor Kurzem wurde eine Folgeuntersuchung veröffentlicht, die fünf Jahre später die Länge der Telomere derselben Probanden maß. In der Kontrollgruppe (der Gruppe von Probanden, die ihre Lebensweise nicht geändert hatten) waren die Telomere mit fortschreitendem Alter erwartungsgemäß geschrumpft. Doch bei der gesund lebenden Gruppe waren die Telomere nicht nur weniger geschrumpft, sondern sogar gewachsen. Weitere fünf Jahre später waren ihre Telomere im Schnitt sogar länger als zu dem Zeitpunkt, als die erste Untersuchung durchgeführt wurde, was darauf hinweist, dass eine gesunde Lebensweise die Enzymaktivität von Telomerase steigert und den Alterungsprozess der Zellen umkehrt. Nachfolgende Forschungen ergaben, dass die Verlängerung der Telomere nicht nur damit zusammenhing, dass die gesund lebende Gruppe körperlich aktiver war oder an Gewicht verlor. Ein Gewichtsverlust durch eine Begrenzung von Kalorien und ein sogar härteres Trainingsprogramm führte nicht zu einer Verlängerung der Telomere. Es scheint also, dass das ausschlaggebende Moment die Qualität und nicht die Quantität des verzehrten Essens ist. Solange die Probanden sich genauso wie zuvor ernährten, schien es nicht von Bedeutung zu sein, wie groß die verzehrten Portionen waren, wie viel Gewicht sie verloren oder wie hart sie trainiert hatten – auch nach einem Jahr stellten sich keine Verbesserungen bei den Telomeren ein. Im Gegensatz dazu erzielten die Probanden mit einer pflanzenbasierten Ernährung, die nur halb so viel trainierten, nach nur drei Monaten einen ebenso großen Gewichtsverlust und darüber hinaus einen signifikanten Schutz ihrer Telomere. Es war also nicht der Gewichtsverlust und auch nicht das Training, das den Alterungsprozess der Zellen umkehrte, sondern die Ernährung. Einige Leute haben Bedenken geäußert, dass die Steigerung der Telomerase-Aktivität theoretisch auch zu einem erhöhten Krebsrisiko führen könnte, da Tumore bekanntlich das Telomerase-Enzym dazu nutzen, ihre eigene Unsterblichkeit sicherzustellen. Doch wie wir später in Kapitel 13 sehen werden, benutzen Dr. Ornish und seine Kollegen dieselbe Ernährungs- und Lebensweise dafür, das Krebswachstum unter gewissen Umständen aufzuhalten und sogar umzukehren. Wir werden zudem sehen, wie dieselbe Ernährungsweise auch Herzerkrankungen heilen kann.


Wie sieht es mit unseren häufigsten Todesursachen aus? Es hat sich gezeigt, dass eine vornehmlich auf Pflanzen basierende Ernährung dabei helfen kann, jede einzelne unserer fünfzehn häufigsten Todesursachen zu vermeiden, zu behandeln oder sogar zu heilen. In diesem Buch behandle ich jede von ihnen mit einem eigenen Kapitel:

STERBLICHKEIT IN DEN USA

Jährliche Todesfälle
1. Koronare Herzerkrankung                                               375.000
2. Lungenkrankheiten (Lungenkrebs, COPD und Asthma) 296.000
3. Sie werden überrascht sein! (siehe Kapitel 15)               225.000
4. Hirnkrankheiten (Schlaganfälle und Alzheimer)              214.000
5. Krebsarten des Verdauungstrakts (Darm, Bauchspeicheldrüse und Speiseröhre) 106.000

6. Infektionen (der Atemwege und des Bluts)                       95.000
7. Diabetes                                                                            76.000
8. Bluthochdruck                                                                    65.000
9. Lebererkrankungen (Zirrhose und Krebs)                         60.000
10. Blutkrebs (Leukämie, Lymphome und Myelome)            56.000
11. Nierenerkrankungen                                                        47.000
12. Brustkrebs                                                                       41.000
13. Suizid                                                                              41.000
14. Prostatakrebs                                                                  28.000
15. Parkinson                                                                        25.000

 

Es gibt sicherlich verschreibungspflichtige Medikamente, die bei diesen Krankheiten helfen können. Sie können z. B. Statine einnehmen, um Ihr Cholesterin und das Risiko eines Herzinfarkts zu senken, bei Diabetes verschiedene Tabletten einwerfen und sich Insulin spritzen oder einen Haufen Diuretika und andere Blutdruckmedikamente gegen Ihren Bluthochdruck nehmen. Aber es gibt nur eine  Ernährungsweise, die dabei hilft, alle diese Killerkrankheiten zusammen zu vermeiden, aufzuhalten oder sogar umzukehren. Anders als bei Medikamenten gibt es nicht eine bestimmte Ernährungsweise für eine optimale Leberfunktion und eine andere für die Stärkung Ihrer Nieren. Eine herzgesunde Ernährung ist gesund fürs Gehirn und ebenso gesund für die Lungen. Dieselbe Ernährung, die dabei hilft, Krebs vorzubeugen, hilft genauso beim Vorbeugen von Typ-2-Diabetes und allen anderen Todesursachen der obigen Liste. Anders als Medikamente, die nur bestimmte Funktionen unterstützen, schwerwiegende Nebenwirkungen haben können und immer nur die Symptome einer Krankheit behandeln, kann eine gesunde Ernährung alle Organe gleichzeitig stärken, hat positive Nebenwirkungen und kann sogar die den Krankheiten zugrunde liegenden Ursachen beseitigen.


Diese eine, allumfassende Ernährungsweise, die sich am besten darin bewährt hat, viele dieser chronischen Krankheiten zu vermeiden und zu bekämpfen, basiert auf vollwertigen pflanzlichen Lebensmitteln und wird als Essverhalten definiert, das den Verzehr nicht industriell verarbeiteter pflanzlicher Lebensmittel favorisiert und Fleisch- und Milchprodukte, Eier und stark industriell verarbeitete Lebensmittel meidet.92 In diesem Buch werbe ich nicht für eine vegetarische oder vegane Ernährung. Ich trete für eine evidenzbasierte Ernährung ein, und die besten verfügbaren wissenschaftlichen Beweise weisen eindeutig daraufhin, dass diese umso besser für uns ist, je mehr vollwertige pflanzliche Kost sie enthält – sowohl um in den Genuss des höheren Nährwerts zu kommen, als auch um ungesündere Optionen zu meiden.


Die meisten Arztbesuche sind wegen Krankheiten nötig, die durch unsere Lebensweise entstehen. Diese Krankheiten sind vermeidbar. Als Ärzte wurden meine Kollegen und ich aber nicht dazu ausgebildet, die Wurzel des Problems zu beheben, sondern eher dazu, lebenslang Medikamente zu verschreiben, um Risikofaktoren wie Bluthochdruck, hohen Blutzucker und hohes Cholesterin zu behandeln. Dieses Vorgehen wurde bereits damit verglichen, unermüdlich den Boden unter einem überlaufenden Waschbecken aufzuwischen, anstatt den Wasserhahn zuzudrehen. Arzneimittelhersteller sind überglücklich, Ihnen für den Rest Ihres Lebens täglich neue Papierhandtücher zu verkaufen, während das Wasser ungebremst weiterfließt. Dr. Walter Willett, Inhaber des Lehrstuhls für Ernährungswissenschaft an der medizinischen Fakultät der Harvard University, formulierte es so: „Das Grundproblem ist, dass die meisten pharmakologischen Strategien nicht darauf abzielen, die Ursachen von Krankheiten in westlichen Ländern zu bekämpfen, die keineswegs in einem Mangel an Medikamenten bestehen.“


Das Beseitigen der Ursache ist nicht nur sicherer und günstiger, sondern kann auch besser funktionieren. Warum gehen also nicht mehr meiner Medizinerkollegen diesen Weg? Weil sie nicht nur nicht dafür ausgebildet wurden, sondern auch nicht dafür bezahlt werden. Niemand profitiert von der Lebensstilmedizin (außer den Patienten), also ist sie auch kein wesentlicher Bestandteil der medizinischen Ausbildung oder Praxis. So eben funktioniert das gegenwärtige medizinische System: Es ist dafür ausgelegt, das Verschreiben von Tabletten und Behandlungen finanziell zu belohnen, nicht aber das Empfehlen gesunder Lebensmittel. Nachdem Dr. Ornish nachgewiesen hatte, dass sich Herzerkrankungen auch ohne Medikamente oder Operationen behandeln und sogar heilen ließen, glaubte er, dass seine Forschungsergebnisse die Praxis der Schulmedizin stark beeinflussen würden. Schließlich hatte er erfolgreich herausgefunden, wie man der Todesursache Nummer 1 entgeht! Leider irrte er, allerdings nicht, was seine wegweisenden Forschungsergebnisse zur Ernährung und der Behandlung und Heilung von Krankheiten anbelangte, sondern was den Einfluss des medizinischen Geschäfts auf die medizinische Praxis angeht. Dr. Ornish schlussfolgerte daraus, dass „die tatsächlich stattfindende Vergütung ein weitaus entscheidenderer Faktor in der medizinischen Praxis ist als die Forschung.“ Doch auch wenn hier versteckte Interessen am Werk sind, wie z. B. die der konventionellen Lebensmittel- und Pharmaindustrie, die hart dafür kämpfen, diesen Status Quo beizubehalten, gibt es dennoch einen großen Unternehmenssektor, der davon profitiert, wenn Menschen gesund bleiben – nämlich die Versicherungsbranche. Kaiser Permanente, die größte Gesundheitsorganisation der USA, veröffentlichte in ihrer offiziellen medizinischen Fachzeitschrift ein Update zum Thema Ernährung für Ärzte, in dem ihre fast fünfzehntausend Partnerärzte darüber informiert wurden, dass eine gesunde Ernährung „am besten mit einer pflanzenbasierten Diät und pflanzlichen Lebensmitteln, aber ohne Fleisch- und Milchprodukte, Eier oder raffinierte und industriell verarbeitete Produkte erreicht wird.“


„Zu oft ignorieren Ärzte die potenziellen Vorteile einer guten Ernährung und verschreiben zu schnell Medikamente, als ihren Patienten die Möglichkeit zu geben, ihre Krankheiten mithilfe einer gesunden Ernährung und eines aktiven Lebensstils zu bekämpfen. […] Ärzte sollten in Betracht ziehen, all ihren Patienten, insbesondere aber denjenigen mit Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Fettleibigkeit, eine pflanzenbasierte Ernährung zu empfehlen.“ Ärzte sollten ihren Patienten die Möglichkeit geben, ihre Erkrankung zunächst selbst mit einer pflanzenbasierten Ernährung zu kurieren.

 

Der große Nachteil, den das Ernährungsupdate von Kaiser Permanente erwähnt, ist, dass diese Ernährungsweise vielleicht sogar zu gut funktioniert. Wenn die Menschen beginnen, sich pflanzenbasiert zu ernähren, während sie weiterhin ihre Medikamente einnehmen, ist es möglich, dass ihr Blutdruck oder Blutzucker so stark absinkt, dass die Ärzte die Medikation anpassen oder die Medikamente ganz absetzen müssen. Ironischerweise besteht die „Nebenwirkung“ dieser Ernährung also darin, zukünftig eventuell gar keine Medikamente mehr nehmen zu müssen. Der Artikel endet mit einem vertrauten Refrain: Weitere Forschungen sind notwendig. In diesem Fall jedoch sind „weitere Forschungen notwendig, um Wege zu finden, eine pflanzenbasierte Ernährungsweise zur neuen Norm werden zu lassen. …“

 

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Wir sind noch weit von Thomas Edisons Prophezeiung aus dem Jahr 1903 entfernt. Ich hoffe aber, dass dieses Buch Ihnen verstehen hilft, dass die meisten unserer häufigsten Todes- und Invaliditätsursachen viel eher vermeidbar denn unausweichlich sind. Der Hauptgrund für familiär auftretende Krankheiten sind sehr wahrscheinlich familiäre Essgewohnheiten. Für mindestens 80 bis hin zu 90 % aller durch die häufigsten Krankheiten verursachten Todesfälle sind nicht-genetische Faktoren wie unsere Ernährung verantwortlich. Wie bereits angemerkt beruht dies auf der Tatsache, dass die Raten für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und verschiedene Krebsarten weltweit zwischen fünf- bis zu hundertfach voneinander abweichen. Migrationsstudien zeigen, dass dies nicht nur genetisch bedingt ist. Wenn Menschen aus Gebieten mit einem geringen in Gebiete mit einem hohen Risiko ziehen, erreicht ihr Erkrankungsrisiko fast immer das der neuen Umgebung. Auch innerhalb von einer Generation dramatisch veränderte Erkrankungsraten unterstreichen die Rolle externer Faktoren. In den 1950er-Jahren entsprach die Darmkrebsmortalität in Japan weniger als einem Fünftel der in den USA (Amerikaner japanischer Abstammung eingeschlossen). Heutzutage ist die Darmkrebserkrankungsrate in Japan genauso hoch wie in den USA; ein Anstieg, der zum Teil der Verfünffachung des Fleischkonsums zugeschrieben wird.


Untersuchungen haben gezeigt, dass eineiige Zwillinge, die nach der Geburt getrennt wurden, je nach ihrer individuellen Lebensweise an unterschiedlichen Krankheiten erkranken. Eine neuere Studie, die von der American Heart Association finanziert wurde, verglich die Lebensweisen und die Arterien von über fünfhundert Zwillingen. Dabei stellte sich heraus, dass die Faktoren Ernährungs- und Lebensweise die genetischen Voraussetzungen eindeutig übertrumpften. Sie teilen 50 Prozent Ihrer Gene mit Ihren Eltern. Wenn Ihre Mutter oder Ihr Vater an einem Herzinfarkt stirbt, wissen Sie, dass Sie einen Teil dieser Anfälligkeit geerbt haben. Doch sogar bei eineiigen Zwillingen, die exakt dieselben Gene haben, könnte eine an einem Herzinfarkt sterben und die andere ein langes, gesundes Leben mit freien Arterien führen; je nachdem, was sie isst oder wie sie lebt. Sogar wenn beide Ihrer Eltern an einer Herzkrankheit gestorben sind, sollte es für Sie möglich sein, sich zu einem gesunden Herzen zu essen. Ihre Familiengeschichte muss nicht zu Ihrem persönlichen Schicksal werden.


Nur weil Sie mit schlechten Genen geboren wurden, heißt das nicht, dass Sie diese nicht wirksam ausschalten können. Wie Sie in den Kapiteln zu Brustkrebs und Alzheimer lesen werden, haben Sie, auch wenn Sie mit Hochrisikogenen geboren wurden, eine immense Kontrolle über Ihr eigenes medizinisches Schicksal. Das neue, spannende Fachgebiet, das sich mit der Kontrolle der Genaktivität befasst, ist die Epigenetik. Hautzellen sehen z. B. anders aus und funktionieren auch gänzlich anders als Knochenzellen, Hirnzellen oder Herzzellen, doch bestehen alle von ihnen aus denselben DNA-Bausteinen. Sie funktionieren deshalb unterschiedlich, weil sie bestimmte Gene an- oder ausgeschaltet haben. Die gleiche DNA, aber unterschiedliche Ergebnisse.


Lassen Sie mich Ihnen an einem Beispiel zeigen, wie erstaunlich diese Wirkung sein kann. Denken Sie an die fleißigen Honigbienchen. Königinnen und Arbeiterinnen sind genetisch identisch. Dennoch legt eine Königin täglich bis zu zweitausend Eier, während die Arbeiterinnen funktionell steril sind. Königinnen leben bis zu drei Jahre lang, Arbeiterinnen manchmal nur drei Wochen. Der Unterschied zwischen beiden liegt in der Ernährung. Wenn die Königin eines Bienenvolkes stirbt, wird von den Ammenbienen eine Larve ausgewählt, die ihr Leben lang mit einem speziellen Drüsensekret, dem Königinfuttersaft, gefüttert wird. Wenn die Larve dieses Sekret frisst, wird ein Enzym ausgeschaltet, das die Ausprägung der Königinnengene verhindert, und eine neue Königin wird geboren. Die Königin hat exakt dieselben Gene wie die Arbeiterinnen, doch sind diese Gene aufgrund ihrer Ernährung unterschiedlich ausgeprägt, wodurch sich ihr Leben und ihre Lebensdauer dramatisch verändert. Krebszellen können die Epigenetik gegen uns verwenden, indem sie die Gene ausschalten, die Tumore unterdrücken und das Entstehen von Krebs verhindern können. Sogar wenn Sie mit guten Genen geboren wurden, kann der Krebs mitunter einen Weg finden, diese auszuschalten. Es gibt eine Reihe von Medikamenten, die für die Chemotherapie entwickelt wurden, um die natürlichen Abwehrkräfte des Körpers wiederherzustellen. Diese werden aber wegen ihrer hochgradigen Giftigkeit nur sehr selten eingesetzt. Es existieren jedoch im Pflanzenreich, bspw. in Bohnen, grünem Blatt- und Kohlgemüse und Beeren, eine Reihe von Substanzen, die denselben natürlichen Effekt zu haben scheinen.108 So wurde z. B. gezeigt, wie durch das Tröpfeln von grünem Tee auf Darm-, Speiseröhren- oder Prostatakrebszellen die vom Krebs ausgeschalteten Gene reaktiviert wurden. Und dies wurde nicht nur in vitro, also in einer Laborschale, nachgewiesen. Drei Stunden nach dem Verzehr einer Tasse Brokkolisprossen wird das Enzym, das verschiedene Krebsarten dafür benutzen, um unsere Abwehrkräfte auszuschalten, in der Blutbahn in gleicher oder sogar stärkerer Weise unterdrückt als mit dem Chemotherapeutikum, das extra zu diesem Zweck entwickelt wurde, nur ganz ohne die giftigen Nebenwirkungen. Was würde passieren, wenn unser Essen zum Großteil aus vollwertigen pflanzlichen Lebensmitteln bestünde? In der „Gene Expression Modulation by Intervention with Nutrition and Lifestyle“-Studie (Studie zur Modulation der Genexpression durch Intervention mittels Ernährung und Lebensstil), kurz GEMINAL, entnahmen Dr. Ornish und seine Kollegen Gewebeproben von Männern mit Prostatakrebs bevor und nachdem diese ihre Lebensweise drei Monate lang intensiv verändert hatten und dabei auch zu einer vollwertigen, pflanzenbasierten Ernährung gewechselt waren. Ohne jede Chemotherapie oder Bestrahlung wurden positive Veränderungen in der Genexpression von fünfhundert verschiedenen Genen gemessen. Innerhalb nur weniger Monate verstärkte sich die Auswirkung dieser krankheitsverhindernden Gene, und die Onkogene, die Brust- und Prostatakrebs verursachen, wurden unterdrückt. Egal welche Gene wir von unseren Eltern geerbt haben – was wir essen, kann bestimmen, wie sich diese Gene auf unsere Gesundheit auswirken. Die Macht dazu liegt in unseren Händen und auf unseren Tellern.

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Dieses Buch besteht aus zwei Teilen: dem „Warum“ und dem „Wie“. In Teil 1, dem „Warum wir gesund essen sollten“, gehe ich darauf ein, welche Rolle die Ernährung bei der Prävention, Behandlung und Umkehrung der fünfzehn häufigsten Todesursachen der USA bzw. der westlichen Welt einnehmen kann. In Teil 2, dem „Wie“, erkläre ich die praktischen Aspekte einer gesunden Ernährung. So schauen wir uns z. B. in Teil 1 an, warum Bohnen und grünes Blattgemüse zu den gesündesten Lebensmitteln der Welt gehören. In Teil 2 geht es dann darum, wie wir sie am besten essen, d. h. wie viel davon täglich in welcher Form, sprich gekocht, konserviert, frisch oder gefroren gegessen werden sollten. Wir werden in Teil 1 sehen, warum es wichtig ist, täglich mindestens neun Portionen Obst und Gemüse zu essen, und in Teil 2 erörtern, ob es besser ist, konventionelle oder Bio-Lebensmittel zu kaufen. Ich werde versuchen, alle Fragen zu beantworten, die ich häufig gestellt bekomme, und realistische Tipps zum Einkaufen und zur Planung der Mahlzeiten geben, um es Ihnen so einfach wie möglich zu machen, sich und Ihre Familie gut zu ernähren.


Neben dem Schreiben weiterer Bücher habe ich vor, weiter Vorträge an medizinischen Fakultäten, in Krankenhäusern und bei Konferenzen zu halten, solange ich es kann. Ich werde weiterhin versuchen, den Funken zu entfachen, der meine Kollegen ursprünglich dazu gebracht hat, Ärzte zu werden: um Menschen zu helfen, gesund zu werden. Es gibt Werkzeuge, die in den Koffern zu vieler Ärzte fehlen bzw. extrem wirkungsvolle Maßnahmen, die vielen Patienten helfen können, wieder gesund zu werden, anstatt einfach nur den weiteren körperlichen Verfall aufzuhalten. Ich werde weiterhin versuchen, das System zu ändern, aber Sie, liebe Leserin oder lieber Leser, Sie müssen nicht länger warten. Sie können schon jetzt ganz neu anfangen und den Empfehlungen der folgenden Kapitel folgen. Gesünder zu essen ist einfacher als Sie glauben, es ist günstig, und es könnte Ihnen tatsächlich das Leben retten.