Epigenetik – Das molekulare Gedächtnis für Umwelteinflüsse?

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  • Erstellungsdatum 30. Januar 2023
  • Zuletzt aktualisiert 30. Januar 2023

Epigenetik – Das molekulare Gedächtnis für Umwelteinflüsse?

2 Wo spielt Epigenetik eine Rolle?

2.1 Bei der menschlichen Entwicklung

Damit verschiedene Organe und Gewebe entstehen können, müssen unterschiedliche Gene abgelesen werden (Reik 2007). Dies regulieren epigenetische Markierungen und Transkriptionsfaktoren bis auf wenige Ausnahmen ohne DNA Veränderungen. Zum Beispiel haben eine Hautzelle und eine Nervenzelle das identische genetische Material, erfüllen jedoch ganz unterschiedliche Aufgaben.

2.2 Bei der Inaktivierung eines X-Chromosoms

Frauen haben in jeder Zelle zwei X-Chromosomen, Männer ein X- und ein Y-Chromosom. Um die höhere Menge an X-chromosomalen Genen auszugleichen, werden während der Embryonalentwicklung in Zellen mit mehr als einem X-Chromosom alle bis auf eines inaktiviert (Payer and Lee 2008). Diese Inaktivierung findet auf epigenetischer Ebene statt: eine spezielle Ribonukleinsäure, die X inactive specific transcript RNA (Xist-RNA), bindet an das betreffende X-Chromosom und führt dazu, dass die DNA so eng verpackt wird (Heterochromatinbildung), dass die meisten Gene auf diesem Chromosom nicht mehr abgelesen werden können (Ng et al. 2007).

2.3 Beim genomischen Imprinting

Eine weitere epigenetische Form der Genregulation stellt das genomische Imprinting dar.  Imprinting findet in der frühen Embryonalentwicklung statt und bewirkt, dass jeweils eine Kopie des gleichen Gens (entweder die Kopie von der Mutter oder die von dem Vater) inaktiviert wird. Auf funktioneller Ebene hat dieses Gen nur noch eine Kopie, was es natürlich sehr anfällig macht für negative Veränderungen, die sonst von der anderen Kopie des Gens ausgeglichen werden könnten.
Mehrere unabhängige Studien haben über eine Assoziation zwischen künstlicher Befruchtung und dem Beckwith-Wiedemann Syndrom, einem Großwuchs-Syndrom bedingt durch fehlerhaftes Imprinting der chromosomalen Region 11p15, berichtet. Große prospektive Studien werden allerdings benötigt, um das genaue Risiko für Erkrankungen, die durch fehlerhaftes Imprinting bedingt sind, zu ermitteln und eventuelle Langzeiteffekte bei künstlicher Befruchtung aufzudecken (Owen and Segars 2009).

2.4 Beim Schutz vor eindringendem genetischen Material

Fast die Hälfte des menschlichen Genoms beinhaltet repetitive Sequenzen, die ursprünglich von mobilen DNA-Elementen, wie z.B. von der Integration von Retroviren in das menschliche Genom, stammen. Normalerweise sind diese Bereiche durch epigenetische Mechanismen ausgeschaltet. Umwelteinflüsse wie UV-Licht, Hormone oder Viren können jedoch über eine Veränderung des DNA-Methylierungsmusters solche Sequenzen „reaktivieren“, was z.B. zur vermehrten Bildung retroviraler Proteine führen kann. Durch die Auslösung einer überschießenden Immunantwort wird eine Beteiligung dieser Proteine bei der Verursachung
von Autoimmunerkrankungen diskutiert (Balada, Ordi-Ros, and Vilardell-Tarres 2009).

2.5 Bei der Krebsentwicklung

Bei der Entwicklung bösartiger Tumore spielen fehlerhafte epigenetische Markierungen eine Schlüsselrolle: durch Fehlregulation von Genen, die das Zellwachstum fördern oder durch das Abschalten von Genen, die normalerweise Tumorwachstum verhindern.  Beim Retinoblastom, einem vor allem im Kindesalter auftretenden bösartigen Tumor der Netzhaut des Auges, wurde beispielsweise erstmalig beschrieben wie DNA-Hypermethylierung Tumorsupressorgene ausschalten kann (Feinberg 2007): Das Retinoblastomgen kodiert für ein Protein, das den Zellzyklus steuert. Wird der Kontrollbereich (Promotor) dieses Gens hypermethyliert, wird das Gen nicht mehr abgelesen und das Retinoblastom-Protein nicht mehr gebildet. Damit können sich die Zellen unkontrolliert teilen, was einen wichtigen Schritt
in Richtung Krebsentstehung darstellt.

2.6 Bei der Entwicklung neuer Medikamente

Da in den letzten Jahren bei immer mehr Erkrankungen epigenetische Veränderungen festgestellt wurden, bieten Substanzen, die regulatorisch in das epigenetische System eingreifen, neue Möglichkeiten, wirksame Therapien zu entwickeln, insbesondere bei Erkrankungen wie zum Beispiel Krebs oder AIDS, die auf viele konventionelle Therapieformen nicht mehr ansprechen.
So werden zum Beispiel DNA Methylierungsinhibitoren wie 5-Azacytidin und 5-aza2’-Deoxycytidin bei der Therapie des myelodysplastischen Syndroms angewendet (Ellis, Atadja,  and Johnstone 2009).