Bruno Schoch: Alle Macht geht vom Volk aus

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  • Zuletzt aktualisiert 21. Dezember 2022

Bruno Schoch: Alle Macht geht vom Volk aus

III.
Die Kategorien Volk und Nation haben durch die demokratische Revolution am Ende des 18.
Jahrhunderts ihre entscheidende Bedeutung bekommen. 1776 und 1789 trat das souveräne
Volk in die Geschichte und etablierte sich als Staatsbürgernation der freien und politisch

gleichen Bürger, von der allein alle legitime Macht ausgeht. In dieser Bedeutung ist das Volk
der politische Demiurg aller rechtmäßigen Herrschaft.

Diese Revolution hatte Vorbildcharakter. Sie bleibe unvergessen und werde zur
„Wiederholung neuer Versuche dieser Art” anregen, schrieb Kant. Er sollte recht behalten.

Freilich entging ihm, daß die Wiederholung aufgrund der militärischen Expansion des
revolutionären Frankreich eigene, anders geartete Modelle entstehen ließ. Unter der
napoleonischen Besatzung politisierte sich die Kategorie des deutschen Volkes, dabei
verlagerte sich der Akzent von Freiheit und Gleichheit zur nationalen Zugehörigkeit.
Schon Herder hatte das Volk zu einer beseelten kollektiven Individualität aufgewertet; der
„Volksgeist” war für ihn ein metaphysischer Demiurg, den Individuen vor- und übergeordnet.
Die „Herdersche Form des Nationalstaats” (Meinecke) bevorzugt national homogene Staaten.
Ihr Kern ist nicht der demos der souveränen, im revolutionären Gründungsakt „subjektiv”
gesetzten Nation, sondern die „objektive”, verstanden als partikulare Wesenheit seit
urdenklichen Zeiten. Dergestalt entzeitlicht und substanzialisiert, wird Volk zu einer dem
Individuum vorausgehenden, verfassungsindifferenten Substanz: Volk als ethnos.
Für das Staatensystem zeitigte dieses Modell ebenso revolutionäre Konsequenzen wie das der
Volkssouveränität. Es verengte das naturrechtlich-republikanische Recht des souveränen
Volks auf Selbstregierung zur nationalen Selbstbestimmung und forderte in Gestalt des
Nationalitätsprinzips seit dem 19. Jahrhundert für jede Nation ihren eigenen Nationalstaat.
In der Wirklichkeit greifen die beiden idealtypischen Nationsbegriffe vielfach ineinander.
Zwischen demos und ethnos besteht ein Konnex, der bis heute nicht hinlänglich geklärt ist.
Vergleichsweise einfach beantwortet sich die Frage, wer zum Volk gehört, wo bereits
vordemokratische Staaten eine gefestigte Tradition mit unstrittigen Territorialgrenzen und
Zugehörigkeitsgefühlen geschaffen haben. Schwierig gestaltet sich das dort, wo
unterschiedliche Nationalitäten aufeinanderstoßen, wie in vordemokratischen multinationalen
Imperien die Regel. Ihre Demokratisierung akzentuiert meist den Stellenwert nationaler
Zugehörigkeit, vorher waren alle gleich als Untertanen. Das gehört zu den Antinomien des
demokratischen Friedens: Erst wenn alle Macht vom Volk ausgeht, gewinnt an Gewicht, wer
zum Volk gehört und wer nicht.

Auch die Staatsbürgernation leitet ihre kollektiven Loyalitäten nicht aus demokratischen
Verfahren allein ab. Volkssouveränität, Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger sind
universalistisch begründet – verwirklicht wurden und werden sie immer in besonderen
Gemeinwesen. In diesen sind sie als Bürgerrechte materiell einklagbar. Indem sie das eigene
Volk national-partikular aufladen, verweben die modernen, egalitären Republiken die
Bürgerrechte unauflösbar mit einem emotionalen Patriotismus. Diesem Konnex muß der
Verfassungspatriotismus Rechnung tragen.

Volksnationale Lehren, die Gleichheit der Staatsbürger setze eine substantielle Volks- oder
Kulturgleichheit voraus, haben eine tiefe Tradition in Deutschland. Wo der eigene partikulare
Nationsbegriff lange von der polemischen Distanzierung von universalistischen
Menschenrechten gelebt hatte, weist die jeweilige Ausgestaltung der Spannung zwischen
ethnos und demos auf den Stand des erreichten Gleichklangs mit dem politisch-kulturellen
Westen hin.