Schmetterling

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  • Erstellungsdatum 2. Juni 2022
  • Zuletzt aktualisiert 2. Juni 2022

Schmetterling

Peter H. Richter

Institut für Dynamische Systeme der Universität Bremen

erschienen in: R. Breuer (Hrsg.)

Der Flügelschlag des Schmetterlings – ein neues Weltbild durch die Chaosforschung

Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1993, pp. 25-49

Wer als Naturwissenschaftler oder Techniker Forschung treibt, setzt als Bedingung ihrer Fortentwicklung voraus, dass die Welt nicht ein Chaos sei, sondern ein ”Kosmos“; damit ist gemeint, dass eine Ordnung existiere und Naturgesetze, die erfasst und untersucht werden können und die insofern eine Verwandtschaft mit dem Geist aufweisen . . .

 

Mit diesem Gedanken, in französischer Sprache formuliert, beendete am 31. Oktober 1992 Papst Johannes Paul II. die Ansprache an seine Akademie, in der er den Versuch unternahm, das Verhältnis von Religion und Wissenschaft unserer Zeit
gemäß zu definieren. Er verwies auf Albert Einstein, der sich über die Intelligibilität der Welt nie genug wundern konnte, und rehabilitierte – dreieinhalb Jahrhunderte nach dessen Tod – Galileo Galilei, dessen Prozess von 1633 bis heute das Verhältnis der beiden so unterschiedlichen Welten des Geistes belastet.

Unnachahmlich die Mischung aus freundlich bescheidenem Gestus, in der der von Krankheit eben genesene Heilige Vater diese Stellungnahme vortrug, und dem ihn umgebenden sakralen Pathos, das jedem einzelnen der in der Sala Regia versammelten Würdenträger aus Wissenschaft und Kirchenhierarchie ein Gefühl von Winzigkeit vermitteln musste. Grandioses Schauspiel fernab der realen Welt von 1992: ein ernster historischer Moment oder bloß ein genial inszenierter Jux?

Vermutlich beides. Denn viel zu empfänglich ist unsere Seele für Irrationales, als dass man nicht mit dessen prägender Kraft rechnen müsste. Auch Galileo und Descartes konnten nicht rational begründen, wovon sie zutiefst durchdrungen waren.

Dass die Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben und somit dem denkenden Geist einsichtig sein sollte, war eine Wette auf die Zukunft. Erst die Erfolge des Unternehmens Wissenschaft, über mehrere Jahrhunderte akkumuliert, haben ihnen recht gegeben; absehen ließ sich die Entwicklung zu ihrer Zeit so wenig, wie wir heute sagen können, welches Weltverständnis im Jahre 2350 vorherrschen werde. Nun also hat der Vatikan das Credo seiner einstigen Kontrahenten übernommen.

Ist damit die Sache entschieden? Regen sich nicht gerade in dieser Zeit massive Zweifel an der Intelligibilität – und damit verbunden: der Beherrschbarkeit – der Natur?