Wer Wir Sind

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  • Erstellungsdatum 13. Mai 2024
  • Zuletzt aktualisiert 13. Mai 2024

Wer Wir Sind

Stefanie Stahl

Wer wir sind
Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben
Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten

Der Bauplan der Psyche

Es hat bei mir ganz früh angefangen. Schon als Kind habe ich öfter darüber nachgedacht, wie der Mensch wohl »funktioniert«. Warum regt die eine etwas auf, was den anderen völlig kaltlässt? Warum handelt der eine so und die andere so? Warum gibt es in meiner Klasse Streber und Faulpelze? Warum bin ich manchmal ohne erkennbaren Grund schlecht drauf? Und wie kann ich es schaffen, am besten immer gut gelaunt zu sein?

Ich wusste damals nicht, dass ich mir grundlegende psychologische Fragen stellte: Fragen dazu, wie wir uns selbst und andere Menschen wahrnehmen. Wonach wir streben und wovor wir Angst haben. Was wir meinen, wer wir sind und was wir tun müssen, um geliebt zu werden. Was uns motiviert und was uns hemmt. Ob wir morgens Lust auf einen neuen Tag haben oder uns lieber verkriechen würden. Was wir uns zutrauen oder auch nicht zutrauen. Wie wir uns selbst gestalten, unsere Beziehungen und unser Leben.

Im Grunde genommen ist alles Psychologie – oder, wenn unser Ansatz bei diesen Fragen etwas abstrakter ist, dann ist alles auch Philosophie. Vielen erscheint diese alte denkerische Disziplin womöglich als wenig alltagstauglich oder sogar weltfremd. Tatsächlich beschäftigt sich die Philosophie aber seit jeher damit, Menschen bei der Lösung schwieriger Lebenssituationen zu helfen.

Der Philosoph Wilhelm Schmidt (1), bekannt durch seine Besteller »Gelassenheit« oder »Selbstfreundschaft«, hat beispielsweise einen Ansatz, der sich mit meiner psychotherapeutischen Vorgehensweise vergleichen lässt: Er will dabei helfen, »ein Verständnis des Lebens zu gewinnen, das ermöglicht, die Situation einzuordnen und eine Haltung dazu zu finden«.

Wo fängt man da an? Ich beginne mit: Woraus besteht der Mensch denn eigentlich? Aus Körper und Geist. Bei Geist muss ich unwillkürlich an die doppelte Bedeutung des Wortes denken: Geist bedeutet auch Gespenst. Vielleicht ist das kein Zufall, beides lässt sich materiell schwer erfassen. Wenn ich jetzt einfach das Wort Geist durch Psyche ersetze – ohne mich in semantischen Erörterungen zu verlieren –, dann kann man sagen: Der Mensch besteht aus Körper und Psyche. Das Gehirn ist die materielle Substanz der Psyche.

Mich beschäftigt die Frage, wie wir psychisch strukturiert sind. Was ist der Bauplan der Psyche? Gibt es ein geistiges Grundgerüst, das alle Menschen teilen? Und aus welchen Komponenten besteht es? Die wissenschaliche Datenlage ist sehr komplex und vermittelt (noch) kein in sich geschlossenes Bild. Es gibt ein riesiges Spektrum an psychologischen Begriffen, Modellen, Theorien und Forschungsergebnissen.

Diese Komplexität ergibt sich sowohl aus dem Umstand, dass die Psychologie sehr viele Teildisziplinen und somit sehr viele Forschungsfelder aufweist, als auch aus dem Umstand, dass sich im Verlauf ihrer Geschichte verschiedene psychologische Schulen ausgebildet haben. Diese Schulen vertreten unterschiedliche Lehrmeinungen über das grundsätzliche Bild des Menschen und bestimmen mithin auch wesentlich über die Forschungsinhalte und Methoden. Zu den bekanntesten Schulen gehören:

  • die Psychoanalyse,
  • die kognitive Psychologie, deren Erkenntnisse unter anderem in die sogenannte Verhaltenstherapie einfließen,,
  • die humanistische Psychologie, aus der sich die Gesprächspsychotherapie entwickelt hat.

Die systemischen oder auch familientherapeutischen Modelle entwickelten sich später aus diesen drei Grundrichtungen.

Seit den 1990er Jahren gewinnt die neurowissenschaftliche Forschung immer mehr an Bedeutung, was auch mit der Weiterentwicklung medizinischer Untersuchungsmethoden einhergeht. Hierdurch kann man Gehirnprozesse viel genauer untersuchen. Wie funktioniert die menschliche Wahrnehmung? Wo entstehen Emotionen und wie werden sie verarbeitet? Welche Abläufe verfolgen Denkprozesse? Wie entsteht Motivation? Wie interagieren all diese Vorgänge miteinander?

Die Neurowissenschaften haben uns viele Erkenntnisse zu den Abläufen im Gehirn geliefert. Allerdings können sie nur die Prozesse beschreiben, aber nicht die Bedeutung, die sie für die jeweilige Versuchsperson haben. Was denkt die Person gerade, was empfindet sie, wenn sie Musik hört, welche Erfahrungen haben sie geprägt?

Auch wurde bis heute kein Gehirnareal entdeckt, in dem unser Selbstwertempfinden verankert ist. Ebenso wenig lassen sich unsere psychischen Grundbedürfnisse nach Bindung und Autonomie bislang präzise im Gehirn verorten.

Kleiner Exkurs: Selbstbewusstsein und das Gehirn

Neurowissenschaftliche Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren gingen lange davon aus, dass drei Areale im Gehirn vorrangig am Selbstbewusstsein beteiligt sind: der insuläre, der vordere zinguläre und der mediale präfrontale Kortex. Die Forschung von US -Neurowissenschaftlern hat aber inzwischen gezeigt, dass auch diese Lokalisierung noch zu einfach scheint. Bei einem Patienten, dessen vermeintliche »Selbstbewusstseins-Areale« durch eine Erkrankung weitgehend zerstört waren, übernahmen andere Hirnregionen die Funktionen. Aus diesen Untersuchungen lässt sich schließen, dass Selbstbewusstsein ein Patchwork-Produkt aus vielen Arealen ist.

Für mich persönlich bahnbrechend sind die Arbeiten des Psychotherapieforschers Klaus Grawe, der postulierte, dass die Erkenntnisse der Neuropsychologie viel stärkeren Eingang in die Psychotherapie finden sollten. Zudem plädierte Grawe für einen schulenübergreifenden Ansatz in der Psychotherapie. Grawes Forschungsarbeiten fokussierten darauf, in welcher Art und Weise die Evolution unsere psychische Struktur herausgebildet hat. Dieser Ansatz erscheint mir einleuchtend. Auch stimme ich mit Grawe überein, dass wir das Schulen-Denken überwinden und stattdessen einen allgemeingültigen Plan zur Behandlung psychologischer Probleme finden sollten.

Ich kann mir sogar vorstellen, dass die Psychotherapie in manchen Bereichen nur eine Übergangslösung darstellt und wir in ganz ferner Zukunft, wenn das Gehirn noch viel besser erforscht ist und die entsprechende medizinische Technik zur Verfügung steht, psychologische Störungen wie beispielsweise Panikattacken, Depressionen oder Verhaltenszwänge direkt in den Köpfen der Betroffenen »verlöten« können.

Das bedeutet natürlich nicht, dass wir auf diese Weise alles seelische Leid einfach ausknipsen können! Schließlich sind die Ursachen von Kummer, Wut oder Angst nicht nur genetisch und durch neuronale Fehlverbindungen bedingt, sondern lassen sich oft auf unsere Lebensumstände und unsere Erfahrungen zurückführen. Der Tod eines geliebten Menschen etwa oder eine schlimme Kindheit hinterlassen Spuren. Wie viel Zeit wir brauchen, um mit bestimmten Prägungen oder Schicksalsschlägen umgehen zu können, ist hochindividuell.

Ich widerspreche daher jedes Mal massiv, wenn es vonseiten der Krankenkassen oder Gesetzgeber Vorschläge gibt, die Behandlungsdauer eines psychischen Problems konkret vorab festzulegen. Das entspricht der menschlichen Psyche nicht.

(1) Wilhelm Schmid: Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers, Suhrkamp 2016