Zahl, Zeichen, Wort

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  • Erstellungsdatum 22. Juli 2023
  • Zuletzt aktualisiert 22. Juli 2023

Zahl, Zeichen, Wort

Einführung

Altes Wissen und Überlieferung

Wenn man heute von «altem Wissen» spricht, läuft man Gefahr, daß der andere meint, es handle sich um ein Wissen aus alten, fernliegenden Zeiten. Überhaupt, Wissen wird als eine zeitlich begrenzte Erscheinung erfahren. Gibt es nicht eine menschliche Qualität, die Wissen heißt und Attribut des Menschen ist? Gibt es nicht eine sprachliche Beziehung zwischen Wissen und Weisheit? Die Frage ist dann: Was versteht man unter einem Weisen? Und eine weitere Frage wäre, ob man vielleicht heute einen Weisen nicht mehr erträgt und ihn deshalb in eine alte, frühe Zeit verbannt. Man ist ihn los, kann ihn als wissenschaftlich interessantes, merkwürdiges Objekt studieren und dann auch von «altem Wissen» als eventuellem Studienfach sprechen.

Altes Wissen möchte ich aber lieber als verschüttetes, verdrängtes Wissen sehen - verschüttet von einer Überflut an Interesse für Erfahrungen mit zeiträumlich erscheinenden Gesetzmäßigkeiten. Dem Menschen ist Weisheit eigentlich nicht fremd, wenn auch eine Sintflut von Informationen aus dem naturwissenschaftlichen Bereich die Weisheit erstickt hat und den Weisen als verärgernde Erscheinung nicht zur Kenntnis nehmen läßt.

Wissen ist nicht identisch mit der Aufnahme und dem Im-Gedächtnis-Behalten von gelesenen, gehörten, empirisch gefundenen, systematisierten Mitteilungen. Ein Computer - beliebtes, oft benutztes Beispiel - könnte immer großes Wissen sammeln, speichern und beliebig auf Abruf abgeben. Ein Computer ist aber kein Weiser. Wenn dem Menschen ein Hang zur Massierung von Informationen innewohnt und er seine Bestätigung als Wesen in einer Gemeinschaft darin findet, fortwährend seine Kapazitäten an diesen Aufnahme- und Abgabefähigkeiten zu beweisen, also dies alles unter den Begriff des Wissens zu rechnen, dann ist Wissenschaft tatsächlich etwas anderes als Weisheit. Hier liegt dann ein Grundmißverständnis. Mankönnte vielleicht, um diese Verwirrung etwas zu klären, das «alte Wissen» Weisheit nennen und das vornehmlich naturwissenschaftlich bedingte «wissenschaftlich». Damit ergibt sich, daß es einem Menschen der heutigen Zeit wohl möglich ist, «altes Wissen» als Teil seines Lebens zu besitzen, und daß es einem Menschen in fernen Zeiten genauso möglich gewesen sein muß, sich sein Leben nach wissenschaftlichen Maßstäben einzurichten. Eben das ist gemeint, wenn vom Unterschied zwischen Gott und den Göttern gesprochen wird.

Wie erlangt der Mensch nun dieses «alte Wissen»? Wie er das moderne Wissen erlangt im Sinne eines gedächtnistechnischen Verfahrens, mit einer sorgfältigen Abgrenzung seines Betätigungsbereichs, im Zuge einer immer weiter führenden Detaillierung und Spezialisierung, er sich also - ich meine es nicht beleidigend - immer mehr dem Ideal eines hochwertigen, wenn auch etwas nervösen Computers nähert - so steht der Mensch des «alten Wissens» an der Gegenseite, was den Ausgangspunkt anbelangt. Weisheit kennt die «Gottesfurcht» als Fundament. Gottesfurcht meint nicht, daß man jemanden fürchtet oder sich ängstigt. Wieder ein Mißverständnis aus der Sprache, weil man auch Sprache zuviel als Wissenschaft betrieb. Nach dem
hebräischen Wort heißt es vielmehr das «Schauen» oder die «Schau» Gottes; es meint das Staunen, das Sprachloswerden, das Erbeben vor dem sinnlich nicht Faßbaren. Man droht als Gefäß zu zerbrechen. Das Ganze ist so groß, so unermeßlich, daß man seine eigenen Grenzen sprengt und daß eine Resonanz entsteht aus einem Menschlichen jenseits der Grenzen. Von dort
kommt dem Menschen dann eine Kunde, und er wird ein Künstler im Erzählen aus diesem Jenseits. Es ist dort ein Reich, wo jeder Mensch sein Zuhause findet, seine Sehnsuchterfüllung, und er findet dort mit frohem Erstaunen die anderen Menschen, die ihm ihrer Herkunft, ihrer Zunge oder ihrer Kultur wegen fremd und unzugänglich in der Welt waren, bevor er zu dieser Weisheit gelangte.

Der Einlaß aber durch dieses Tor der Gottesschau ist nicht bedingt durch technische Fähigkeiten, wissenschaftliche Studien zu bewältigen. Hier spielt, diesen quantitativen Forderungen entgegengesetzt, menschliche Qualität die entscheidende Rolle. Ein Weiser kann einfach kein Heuchler, kein Gauner, kein Karrierebesessener, kein Erotisierter, kein «mal Freund mit diesem, mal Freund mit jenem» sein. Man erkennt ihn an seinen Früchten. Diese sprechen für sich und für ihn. Was «die Welt» von so einem sagt, ist nicht relevant, denn «die Welt» würde so einen, eben weil er sie verärgert, ablehnen oder sogar zurückweisen und verfolgen. Dafür sprechen schon die Bilder aus der Bibel, sei es im Alten oder im Neuen Testament. Der Weise ist bescheiden, er lächelt über diese Welt und er liebt sie, er gibt sich den anderen hin und öffnet sich, die anderen zu empfangen. So kommt er, da er absichtslos und deshalb bescheiden ist, ohne daß er es selbst
bemerkt, durch das Tor der Gottesschau. Und was er erzählt, das ist nun, was man jetzt unter dem Begriff «altes Wissen» etwas distanziert, hygienisch- wissenschaftlich als Objekt studieren könnte.

Da gibt es natürlich auch das, was man Quellen nennt. Wenn man sie liest, staunt man oft, daß sie sich so unklar, so verschachtelt, so vieldeutig geben. Man denkt dann in moderner wissenschaftlicher Überheblichkeit - man nennt es aber objektive wissenschaftliche Bescheidenheit -, daß diese alten Zeiten nun mal nicht imstande waren, so rein, so digital präzise zu denken und darzustellen. Ein Gedicht, ein Gemälde, eine Landschaft, ein menschliches Antlitz, auch der Kopf eines Tieres sind aber genauso voller Rätsel. Viele Menschen erleben bei der Begegnung mit solch einem Phänomen große Freude; es bringt eben eine Kunde aus anderen Bereichen. Die Urheber der Quellen staunten, und ihr Staunen spiegelt sich in diesem Stammeln wider, womit der Wissenschaftler so wenig anfangen kann. Erst wenn er es tötet und seziert, findet er Gesetzmäßigkeiten und sagt dann, es sei alles ganz interessant - und lebt in seiner interessanten Langeweile weiter.

So ist es wichtig, daß man ein Ohr hat zu hören und Augen zu sehen. Man studiert deshalb solche «Quellen des alten Wissens» nicht in der Weise des analytisch-sezierenden Wissenschaftlers. Man erlebt sie, wie man sein eigenes Leben erleben könnte, wie man einem Kunstwerk als Verwandter gegenübersteht. Dann äußert sich dieses Erleben schon im Verhalten des Betrachtenden, des Schauenden. Es ergreift ihn eine unvorstellbare Freude, überquellend, über schäumend. Und deshalb erzählt man weiter, das eigene Leben wird ein Erzählen, das eigene Verhalten eine
ununterbrochene Mitteilung. So überliefert man die Quellen weiter, der Becher wird weitergereicht. Die Schüler sitzen mit am Tisch. Das sind die Gespräche der Weisen, und das ist die Überlieferung. Nicht technisch, nicht mechanisch, sondern gerade an der anderen Seite, von der anderen Seite her. Überlieferung ist Leben weitergeben, Liebe, Nachsicht, Zärtlichkeit und Kraft. So erzählen sich die Geschichten weiter, immer getragen von stark und froh lebenden Menschen. Man erfährt die Quellen als ein Wunder, man staunt und erzählt weiter, neu und alt, ohne Ende, weil hier das Geheimnis des Ewigen sich offenbart. Wie unsere Existenz Ausgangspunkt ist für immer neue Erlebnisse, so sind diese Geschichten Ausgangspunkt für immer weiteres Erzählen, für neue und andere Geschichten, alle aber aus derselben Quelle.Wo kommt diese Quelle her? Dieser Frage kann man nur mit einer anderen Frage gerecht werden: Wo kommt unsere Existenz her? Von den Eltern und Ahnen. Wo kommen diese her, und wo sind sie hin? Ewigkeiten, nicht benennbar. Eben das sind die Quellen, ist die Weisheit, ist die Überlieferung.

Jüdische Weisheit und jüdische Überlieferung, was sind diese? Wissenschaftlich könnte man versuchen abzugrenzen, zu definieren. Das alte Wissen aber sagt, daß das Wort «jüdisch» bedeutet «den Herrn preisen», und man deutet dies als «Staunen über den Jenseitigen, der doch in uns lebt, Sinn unseres Lebens ist». Das Wort «hebräisch» bedeutet in der Sprache «von der anderen Seite»; es ist das «Land», das wir immer als das dem Zeiträumlichen gegenüber empfinden. Das alte Wissen sagt, und unser Empfinden bejaht es, daß doch in jedem Menschen dieses Staunen lebt und in jedem Menschen das Jenseitige sich zeigt, «in seinem Herzen, in seinem Munde». Ist nicht der Name Mensch, adam, im Wort «ich gleiche» ? Und sagt man nicht, daß Gott das so zum Menschen sagt, wie der Mensch, wenn er sich Adam nennt, das zu Gott sagt?

Jüdisches altes Wissen und jüdische Überlieferung sei also für jeden Menschen eine Freude. Ein Anlaß zum Staunen und ein Erleben des Ewigen im Gange der Zeiten.