IZ: 3.4 Das Geheimnis des Lebens

Wie Sie in diesem Kapitel erfahren haben, machten die Wissenschaftler in der letzten Zeit große Fortschritte beim Verständnis der auf den ersten Blick so schlicht wirkenden Membran. Doch auch schon vor zwanzig Jahren waren ihre Funktionen im Wesentli­chen bekannt. Damals erkannte ich zum ersten Mal, wie ein Verständnis der Funktionen der Membran das Leben verändern kann.

 

Mein Aha-Erlebnis ähnelte der Dynamik einer übersättigten Lösung in der Chemie, wo ein einziger zusätzlicher Tropfen eine dramati­sche Reaktion auslösen kann, in deren Verlauf sich die gesamte gelöste Substanz zu ei­nem einzigen großen Kristall vereinigt.

 

Im Jahr 1985 lebte ich in einem gemieteten Haus auf der Gewürzinsel Grenada in der Karibik und lehrte an einer anderen medizinischen Hochschule. Es war zwei Uhr mor­gens, und ich sah meine Unterlagen über die Funktionsweise der Membran durch, um zu begreifen, wie sie Informationen verarbeitet, als ich eine umwälzende Erkenntnis hatte. Sie verwandelte mich zwar nicht in einen Kristall, aber in einen membranzentrier­ten Biologen, der keine Entschuldigung mehr dafür hatte, daß er aus seinem Leben nichts machte.

 

Ich war in jener frühen Morgenstunde damit befaßt, mein Verständnis von der struktu­rellen Organisation der Membran zu überprüfen. Ich starrte auf die lutscherähnlichen Phosphorlipid-Moleküle, die wie Soldaten bei einer Parade perfekt ausgerichtet in der Membran platziert sind. Definitionsgemäß ist eine Struktur, deren Moleküle in einem regelmäßig wiederholten Muster angeordnet sind, ein Kristall. Es gibt grundsätzlich zwei Arten von Kristallen. Die meisten Menschen kennen sie als harte, unnachgiebige Mineralien wie Diamanten, Rubine oder auch Salz. Die zweite Art von Kristallen hat eine flüssigere Struktur, obwohl auch hier die Moleküle in einem regelmäßigen Muster angeordnet sind. In unserem Alltag finden wir solche flüssigen Kristalle in Digitaluhren und in Flachbildschirmen.


Um die Flüssigkristalle besser zu verstehen, kehren wir zu den Soldaten zurück. Wenn eine Kompanie marschierender Soldaten um die Ecke biegt, bleibt ihre strukturelle An­ordnung erhalten, obwohl sie sich individuell bewegen. Sie verhalten sich wie eine flie­ßende Flüssigkeit und verlieren doch nicht ihre kristalline Struktur. Die Phosphorlipid-Moleküle der Membran verhalten sich ganz ähnlich. Ihre flüssige, kristalline Struktur
ermöglicht es der Membran, ihre Form dynamisch zu verändern und dabei ihre Integri­tät zu bewahren, was für eine flexible Membranbarriere sehr wichtig ist. Um diese Ei­genschaft der Membran zu definieren, schrieb ich auf: »Die Membran ist ein flüssiger Kristall.«

 

Dann dachte ich weiter darüber nach, daß eine Membran nur mit Phosphorlipiden wie ein Butterbrot ohne Oliven ist. Wie ich an dem Beispiel gezeigt habe, kann die dunkle Flüssigkeit die Butterschicht nicht durchdringen. Das Butterbrot ist nicht leitend. Wenn man jedoch die IMP-»Oliven« hinzufügt, läßt die Membran manche Dinge durch und andere nicht. Ich notierte also weiter: »Die Membran ist ein Halbleiter.«

 

Als Letztes wollte ich in meine Beschreibung die beiden häufigsten IMPs einfügen, die Rezeptoren und die Kanalproteine, die es der Zelle erlauben, Nährstoffe hinein- und Ab­fallstoffe hinauszubefördern. Ich wollte gerade schreiben, daß die Membran Rezeptoren und Kanäle enthält, als mir klar wurde, daß ich statt Rezeptor auch Tor sagen konnte. Also vervollständigte ich meine Beschreibung mit den Worten: »Die Membran enthält Tore und Kanäle.«Ich lehnte mich zurück und betrachtete meine Beschreibung der Membran. »Die Mem­bran ist ein flüssiger, kristalliner Halbleiter mit Toren und Kanälen.« Ich merkte sofort, daß ich genau diesen Satz vor kurzem gehört oder gelesen hatte, wußte aber zuerst nicht wo. Eines war jedoch sicher, es war nicht im Zusammenhang mit Biologie.

 

Während ich mich auf meinem Stuhle zurücklehnte, fiel mein Blick auf die Ecke meines Schreibtischs, auf der ein nagelneuer Macintosh stand, mein erster Computer. Neben dem Computer lag ein knallrotes Buch mit dem Titel: WIE FUNKTIONIERT MEIN COMPUTER?, ein für Laien geschriebenes Handbuch, das ich mir vor kurzem aus der Grabbelkiste eines Computerladens gefischt hatte. Ich griff nach dem Buch und fand in der Einleitung die Definition eines Computerchips: »Ein Chip ist ein kristalliner Halb­leiter mit Toren und Kanälen.«Zuerst war ich einfach nur baff darüber, daß ein Chip und eine Zellmembran mit der gleichen technischen Definition beschrieben werden können. Die nächsten Sekunden verbrachte ich intensiv damit, biologische Membranen und Silikon-Halbleiter zu ver­gleichen.

 

Die Erkenntnis, daß die gleiche technische Definition nicht zufällig zustande kam, verblüffte mich noch mehr. Tatsächlich: Die Zellmembran entsprach funktional und strukturell einem Silikonchip! Zwölf Jahre später veröffentlichte ein australisches Forschungsteam unter B. A. Cornell in Nature einen Artikel, der meine Hypothese bestätigte [Cornell et al., 1997]. Die For­scher isolierten eine Zellmembran und steckten ein Stück Goldfolie darunter. Dann füll­ten sie in den Raum zwischen der Goldfolie und der Membran eine spezielle Elektrolyt-Lösung. Wenn die Rezeptoren der Membran durch ein komplementäres Signal stimu­liert wurden, öffneten sich die Kanäle und ließen die Elektrolyt-Lösung durch die Mem­bran. Die Folie diente dabei als Wandler, mit dessen Hilfe die elektrische Aktivität der Kanäle digital auf einen Bildschirm übertragen werden konnte. Diese Versuchsanord­nung beweist, daß die Zellmembran nicht nur wie ein Chip aussieht, sondern auch so funktioniert. Cornell und seine Mitarbeiter haben eine biologische Zellmembran erfolg­reich in einen digital ablesbaren Computerchip umfunktioniert.

 

Und was soll daran so toll sein, fragen Sie sich jetzt vielleicht? Die Tatsache, dass die Zellmembran einem Computerchip ähnelt, bedeutet, daß man sich die Funktionsweise einer Zelle besser vorstellen kann, wenn man sie mit einem PC vergleicht.

Die erste gro­ße Erkenntnis dabei ist,

  • dass Computer und Zellen programmierbar sind.
  • Die zweite Er­kenntnis, die damit einhergeht, ist, daß der Programmierer außerhalb des Computers be­ziehungsweise der Zelle sitzt.

Biologisches Verhalten und Gen-Aktivität stehen in dyna­mischer Beziehung zu den Informationen aus der Umgebung, die in die Zelle herunter­geladen werden.Während ich meine Vorstellung des Biocomputers entwickelte, wurde mir klar, daß der Nukleus einer Festplatte entspricht, auf der die DNS-Programme zur Produktion von Proteinen gespeichert sind. Nennen wir es den Doppelhelix-Speicher.

 

Sie können in Ihren Computer ein Speichermedium mit einer Vielzahl von Programmen zur Textver­arbeitung, Bildbearbeitung etc. einlegen. Nachdem Sie diese Programme in Ihren Com­puter geladen haben, können Sie das Speichermedium wieder aus dem Computer entfer­nen, ohne die Programme dadurch zu beeinträchtigen. Wenn man den Doppelhe­lix-Speicher aus der Zelle entfernt, indem man den Zellkern herausnimmt, arbeitet der zelluläre Proteinapparat weiter, weil die Informationen zur Erzeugung dieses Proteinap­parats bereits heruntergeladen sind. Enukleierte Zellen bekommen erst Probleme, wenn sie die Gen-Programme brauchen, um alte Proteine zu ersetzen oder andere Proteine zu erzeugen.

 

Ich war als nukleuszentrierter Biologe ausgebildet worden, ebenso wie Kopernikus als erdzentrierter Astronom ausgebildet worden war. Daher war es für mich ein Schock, als ich erkannte, daß der Nukleus mit seinen Genen nicht die Zelle programmiert. Die Da­ten werden durch die Rezeptoren in die Zelle bzw. in den Computer eingegeben. Die Rezeptoren entsprechen also der Tastatur der Zelle. Sie lösen einen Reiz auf die Effek­
torproteine der Membran aus, den Prozessor. Die Prozessor-Proteine setzen die Um­weltinformationen dann in das Verhalten des Organismus um.In jenen frühen Morgenstunden erkannte ich, daß die neueste Zellforschung, in der sich das Geheimnis der magischen Membran immer weiter offenbart, eine ganz andere Ge­schichte erzählt als die konservative Biologie mit ihrem genetischen Determinismus.

 

In diesem Augenblick der Erkenntnis war ich frustriert, weil ich meine Aufregung mit niemandem teilen konnte. Ich lebte allein in einer ländlichen Gegend. Mein Haus hatte
kein Telefon. Aber vielleicht saßen noch ein paar Studenten in der Bibliothek. Ich warf mir schnell ein paar Klamotten über und rannte zum Uni-Gebäude hinüber, um irgend­jemandem von dieser aufregenden Entdeckung zu erzählen. Wie ich da so atemlos, mit feurigem Blick und zerzaustem Haar über den Hof rannte, wirkte ich wohl wie der Pro­totyp des verwirrten Professors. Ich erspähte einen meiner Erstsemester-Studenten und lief mit den Worten: »Ich muß dir unbedingt was erzählen! Es ist so großartig!« auf ihn zu.

 

Ich erinnere mich, daß er einen Schritt zurücktrat und sich vor diesem verrückten Wissenschaftler, der in die schläfrige Stille der Bibliothek hereingeplatzt war, beinahe
zu fürchten schien. In der komplexen, vielsilbigen Sprache der konventionellen Biologie überschüttete ich ihn mit meinen neuen Erkenntnissen über die Zellen. Als ich fertig war, erwartete ich seine Glückwünsche oder zumindest ein »Bravo«, aber er schaute mich nur sprachlos und mit weit aufgerissenen Augen an. Das Einzige, was er nach ei­ner Weile sagte, war: »Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Dr. Lipton?«

 

Ich war enttäuscht. Der Student hatte kein Wort von dem verstanden, was ich ihm er­zählt hatte. Im Rückblick sehe ich ein, daß er als Erstsemester weder über das Vokabu­lar noch über den wissenschaftlichen Hintergrund verfügte, um aus meinem aufgeregten Wortschwall irgendeinen Sinn herauszuhören. Doch damals nahm es mir erst einmal den Wind aus den Segeln. Ich hatte den Schlüssel zum Geheimnis des Lebens gefunden und niemand war da, der mich verstehen konnte! Ich muß zugeben, dass ich bei den meisten meiner Kollegen, die mit der vielsilbigen, wissenschaftlichen Ausdrucksweise durchaus vertraut sind, auch nicht mehr Glück hatte. Im Laufe der Jahre verbesserte ich meine Darstellung der magischen Membran und verfeinerte sie immer mehr, bis auch Erstsemester und Laien sie verstehen konnten. Ich arbeitete auch die jeweils neuesten Forschungsergebnisse ein. Dadurch fand ich sowohl unter medizinischen Fachleuten als auch unter Laien ein immer empfänglicheres Publikum. In meinem Publikum gab es zu­dem immer mehr Menschen, die für die spirituellen Implikationen meiner Entdeckung offen waren.

 

Der Wandel von einer nukleuszentrierten zu einer membranzentrierten Biologie war aufregend, aber nur deswegen wäre ich nicht so aufgeregt in die Biblio­thek gerannt. In jener Nacht in der Karibik verwandelte ich mich nicht nur in einen membranzentrierten Biologen, sondern auch von einem agnostischen Wissenschaftler in jemanden, der fest daran glaubt, dass das ewige Leben unseren Körper transzendiert.Ich werde im Epilog noch weiter auf den spirituellen Teil der Geschichte eingehen.

 

An dieser Stelle möchte ich nur noch einmal die Lehren der magischen Membran wiederho­len: Die Kontrolle über unser Leben wird im Augenblick unserer Empfängnis nicht ei­nem genetischen Würfelspiel überlassen, sondern in unsere eigenen Hände legt. Wir können unsere eigene Biologie steuern, so wie ich dieses Textprogramm steuere. Wir haben die Macht, die Daten zu bestimmen, die wir in unseren Biocomputer eingeben, so wie wir wählen können, welche Worte wir tippen. Wenn wir begreifen, wie die IMPs die Biologie steuern, dann werden wir zu Meistern unseres Schicksals.