Entstehung
Dieses Buch stellt mein gegenwärtiges Verständnis von Urteils- und Entscheidungsprozessen dar, das maßgeblich von psychologischen Entdeckungen der letzten Jahrzehnte geprägt wurde. Die zentralen Ideen gehen allerdings auf jenen glücklichen Tag des Jahres zurück, an dem ich einen Kollegen bat, als Gastredner in einem Seminar zu sprechen, das ich am Fachbereich Psychologie der Hebräischen Universität von Jerusalem hielt.
Amos Tversky galt als ein aufstrebender Star auf dem Gebiet der Entscheidungsforschung – ja, auf allen Forschungsfeldern, auf denen er sich tummelte –, sodass ich wusste, dass es eine interessante Veranstaltung werden würde. Viele Menschen, die Amos kannten, hielten ihn für die intelligenteste Person, der sie je begegnet waren. Er war brillant, redegewandt und charismatisch. Er war auch mit einem vollkommenen Gedächtnis für Witze gesegnet und mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit, mit ihrer Hilfe ein Argument zu verdeutlichen. In Amos’ Gegenwart war es nie langweilig. Er war damals 32, ich war 35.
Amos berichtete den Seminarteilnehmern von einem aktuellen Forschungsprogramm an der Universität Michigan, bei dem es um die Beantwortung der folgenden Frage ging:
Sind Menschen gute intuitive Statistiker? Wir wussten bereits, dass Menschen gute intuitive Grammatiker sind: Ein vierjähriges Kind befolgt, wenn es spricht, mühelos die Regeln der Grammatik, obwohl es die Regeln als solche nicht kennt. Haben Menschen ein ähnlich intuitives Gespür für die grundlegenden Prinzipien der Statistik? Amos berichtete, die Antwort darauf sei ein bedingtes Ja. Wir hatten im Seminar eine lebhafte Diskussion, und wir verständigten uns schließlich darauf, dass ein bedingtes Nein eine bessere Antwort sei. Amos und mir machte dieser Meinungsaustausch großen Spaß, und wir gelangten zu dem Schluss, dass intuitive Statistik ein interessantes For-
schungsgebiet sei und dass es uns reizen würde, dieses Feld gemeinsam zu erforschen. An jenem Freitag trafen wir uns zum Mittagessen im Café Rimon, dem Stammlokal von Künstlern und Professoren in Jerusalem, und planten eine Studie über die statistischen Intuitionen von Wissenschaftlern. Wir waren in diesem Seminar zu dem Schluss gelangt, dass unsere eigene Intuition unzureichend war. Obwohl wir beide schon jahrelang Statistik lehrten und anwandten, hatten wir kein intuitives Gespür für die Zuverlässigkeit statistischer Ergebnisse bei kleinen Stichproben entwickelt. Unsere subjektiven Urteile waren verzerrt: Wir schenkten allzu bereitwillig Forschungsergebnissen Glauben, die auf unzureichender Datengrundlage basierten, und neigten dazu, bei unseren eigenen Forschungsarbeiten zu wenig Beobachtungsdaten zu erheben.1 Mit unserer Studie wollten wir herausfinden, ob andere Forscher an der gleichen Schwäche litten.
Wir bereiteten eine Umfrage vor, die realistische Szenarien statistischer Probleme beinhaltete, die in der Forschung auftreten. Amos trug die Antworten einer Gruppe von Experten zusammen, die an einer Tagung der Society of Mathematical Psychology teilnahmen, darunter waren auch die Verfasser zweier Statistik-Lehrbücher. Wie erwartet fanden wir heraus, dass unsere Fachkollegen, genauso wie wir, die Wahrscheinlichkeit, dass das ursprüngliche Ergebnis eines Experiments auch bei einer kleinen Stichprobe erfolgreich reproduziert werden würde, enorm überschätzten. Auch gaben sie einer fiktiven Studentin sehr ungenaue Auskünfte über die Anzahl der Beobachtungsdaten, die sie erheben müsse, um zu einer gültigen Schlussfolgerung zu gelangen. Selbst Statistiker waren also keine guten intuitiven Statistiker. Als wir den Artikel schrieben, in dem wir diese Ergebnisse darlegten, stellten Amos und ich fest, dass uns die Zusammenarbeit großen Spaß machte. Amos war immer sehr witzig, und in seiner Gegenwart wurde auch ich witzig, sodass wir Stunden gewissenhafter Arbeit in fortwährender Erheiterung verbrachten.
Die Freude, die wir aus unserer Zusammenarbeit zogen, machte uns ungewöhnlich geduldig; man strebt viel eher nach Perfektion, wenn man sich nicht langweilt. Am wichtigsten war vielleicht, dass wir unsere kritischen Waffen an der Tür abgaben. Sowohl Amos als auch ich waren kritisch und streitlustig – er noch mehr als ich, aber in den Jahren unserer Zusammenarbeit hat keiner von uns beiden irgendetwas, was der andere sagte, rundweg abgelehnt. Eine der größten Freuden, die mir die Zusammenarbeit mit Amos schenkte, bestand gerade darin, dass er viel deutlicher als ich selbst sah, worauf ich mit meinen vagen Gedanken hinauswollte. Amos war der bessere Logiker von uns beiden, er war theoretisch versierter und hatte einen untrüglichen Orientierungssinn.
Ich hatte einen intuitiveren Zugang und war stärker in der Wahrnehmungspsychologie verwurzelt, aus der wir viele Ideen übernahmen. Wir waren einander hinreichend ähnlich, um uns mühelos zu verständigen, und wir waren hinreichend unterschiedlich, um uns gegenseitig zu überraschen. Wir verbrachten routinemäßig einen Großteil unserer Arbeitstage zusammen, oftmals auf langen Spaziergängen. Während der kommenden Jahre bildete diese Zusammenarbeit den Mittelpunkt unserer Leben, und unsere gemeinsamen Arbeiten aus dieser Zeit waren das Beste, was jeder von uns überhaupt an wissenschaftlichen Beiträgen lieferte.
Wir entwickelten schon bald eine bestimmte Vorgehensweise, die wir viele Jahre lang beibehielten. Unsere Forschung bestand in einem Gespräch, in dem wir Fragen erfanden und gemeinsam unsere intuitiven Antworten überprüften. Jede Frage war ein kleines Experiment, und wir führten an jedem Tag viele Experimente durch. Wir suchten nicht ernsthaft nach der richtigen Antwort auf die statistischen Fragen, die wir stellten. Wir wollten die intuitive Antwort herausfinden und analysieren, die erste, die uns einfiel, diejenige, die wir spontan geben wollten, auch wenn wir wussten, dass sie falsch war. Wir glaubten – richtigerweise, wie sich zeigte –, dass jede Intuition, die wir beide teilten, auch von vielen anderen geteilt würde und dass es leicht wäre, ihre Auswirkungen auf
Urteile nachzuweisen. Einmal entdeckten wir zu unserer großen Freude, dass wir die gleichen verrückten Ideen über die zukünftigen Berufe mehrerer Kleinkinder hatten, die wir beide kannten. Wir identifizierten den streitlustigen dreijährigen Anwalt, den schrulligen Professor, den empathischen und leicht zudringlichen Psychotherapeuten. Natürlich waren diese Vorhersagen absurd, aber wir fanden sie trotzdem reizvoll. Es war auch klar, dass unsere Intuitionen von der Ähnlichkeit beeinflusst wurden, die das jeweilige Kind mit dem kulturellen Stereotyp eines bestimmten Berufs aufwies. Diese lustige Übung half uns dabei, eine Theorie zu entwickeln, die damals in unseren Köpfen im Entstehen begriffen war, und zwar über die Bedeutung der Ähnlichkeit bei Vorhersagen.Wir überprüften und verfeinerten diese Theorie in Dutzenden von Experimenten, wie etwa dem folgenden.
Wenn Sie über die nächste Frage nachdenken, sollten Sie davon ausgehen, dass Steve zufällig aus einer repräsentativen Stichprobe ausgewählt wurde:
Eine Person wurde von einem Nachbarn wie folgt beschrieben: »Steve ist sehr scheu und verschlossen, immer hilfsbereit, aber kaum an anderen oder an der Wirklichkeit interessiert. Als sanftmütiger und ordentlicher Mensch hat er ein Bedürfnis nach Ordnung und Struktur und eine Passion für Details.« Ist Steve eher Bibliothekar oder eher Landwirt?
Die Ähnlichkeit von Steves Persönlichkeit mit dem Stereotyp eines Bibliothekars fällt jedem sofort ins Auge, aber dabei werden sachdienliche statistische Erwägungen fast immer außer Betracht gelassen. Wussten Sie, dass in den Vereinigten Staaten auf jeden männlichen Bibliothekar zwanzig Landwirte kommen? Weil es so viel mehr Landwirte gibt, wird man höchstwahrscheinlich auch mehr »sanftmütige und ordentliche« Menschen auf Traktoren als hinter den Informationsschaltern von Bibliotheken finden. Wir stellten jedoch fest, dass diejenigen, die an unseren Experimenten teilnahmen, die relevanten statistischen Fakten außer Acht ließen und sich ausschließlich auf die Ähnlichkeit stützten.
Wir nahmen an, dass sie die Ähnlichkeit als eine vereinfachende Heuristik (grob gesagt: eine Faustregel) benutzten, um ein schwieriges Urteil zu fällen. Das Vertrauen auf die Heuristik verursachte vorhersehbare Verzerrungen in ihren Vorhersagen.
Ein anderes Mal fragten Amos und ich uns nach der Scheidungsrate bei Professoren an unserer Universität. Wir bemerkten, dass die Frage eine Gedächtnissuche nach geschiedenen Professoren, die wir kannten oder von denen wir gehört hatten, auslöste und dass wir die Größe der Kategorien nach der Leichtigkeit beurteilten, mit denen uns die Beispiele einfielen. Wir nannten diese Orientierung an der Leichtigkeit der Gedächtnissuche »Verfügbarkeitsheuristik« (availability heuristic). In einer unserer Studien forderten wir die Teilnehmer auf, eine einfache Frage über Wörter in einem typischen englischen Text zu beantworten:
Betrachten Sie den Buchstaben K.
Taucht K eher als erster oder als dritter Buchstabe in einem Wort auf?
Wie jeder Scrabble-Spieler weiß, ist es viel leichter, Wörter zu finden, die mit einem bestimmten Buchstaben anfangen, als Wörter, die denselben Buchstaben an der dritten Stelle aufweisen. Dies gilt für alle Buchstaben des Alphabets. Aus diesem Grund erwarteten wir, dass die Versuchsteilnehmer die Häufigkeit von Buchstaben an der ersten Stelle überschätzen würden – selbst der Buchstaben (wie K, L, N, R, V), die im Englischen tatsächlich häufiger an der dritten Stelle vorkommen. Hier führt der Rückgriff auf eine Heuristik erneut zu einem vorhersagbaren Urteilsfehler. So bezweifle ich beispielsweise mittlerweile meinen lange gehegten Eindruck, Ehebruch komme bei Politikern häufiger vor als bei Ärzten oder Anwälten. Ich hatte mir sogar Erklärungen für
die »Tatsache« einfallen lassen, wie etwa die aphrodisierende Wirkung von Macht und die Verlockungen des Lebens fern von zu Hause. Ich erkannte schließlich, dass über die Fehltritte von Politikern mit viel höherer Wahrscheinlichkeit berichtet wird als über die von Anwälten und Ärzten. Mein intuitiver Eindruck war womöglich ausschließlich auf die Themenwahl von Journalisten und meine Anwendung der Verfügbarkeitsheuristik zurückzuführen.
Amos und ich verbrachten mehrere Jahre damit, Verzerrungen des intuitiven Denkens bei verschiedenen Aufgaben zu erforschen und zu dokumentieren: bei der Zuschreibung von Eintrittswahrscheinlichkeiten zu Ereignissen, bei Vorhersagen über zukünftige Ereignisse, bei der Beurteilung von Hypothesen und der Abschätzung von Häufigkeiten. Im fünften Jahr unserer Zusammenarbeit stellten wir unsere wichtigsten Ergebnisse im Wissenschaftsmagazin Science vor, das von Wissenschaftlern vieler Disziplinen gele-
sen wird. Der Artikel (der in ganzer Länge am Ende dieses Buches abgedruckt ist) trug den Titel »Judgement under Uncertainty: Heuristics and Biases« (»Urteile unter Unsicherheit: Heuristiken und kognitive Verzerrungen«). Er beschrieb die vereinfachenden Abkürzungen des intuitiven Denkens und erläuterte etwa zwanzig kognitive Verzerrungen als Beispiele dieser Heuristiken – und auch, um die Rolle dieser Heuristiken bei der Urteilsbildung zu verdeutlichen.
Wissenschaftshistoriker haben oft darauf hingewiesen, dass bei den Wissenschaftlern eines Fachgebiets zu jedem beliebigen Zeitpunkt Einigkeit über die Grundannahmen ihrer Disziplin besteht. Sozialwissenschaftler bilden da keine Ausnahme; sie gehen von einem Bild der menschlichen Natur aus, das den Hintergrund der meisten Diskussionen über bestimmte Verhaltensweisen bildet und nur selten infrage gestellt wird. In den 1970er-Jahren erachteten die meisten Sozialwissenschaftler zwei Annahmen über die menschliche Natur als erwiesen. Zum einen, dass Menschen sich im Allgemeinen rational verhalten und normalerweise klar denken. Zum anderen, dass Emotionen wie Furcht, Zuneigung und Hass die meisten Fälle erklären, in denen Menschen von der
Rationalität abweichen.
Unser Artikel stellte beide Annahmen infrage, ohne sie direkt zu diskutieren. Wir dokumentierten systematische Fehler im Denken gewöhnlicher Menschen und führten diese Fehler auf die Konstruktion des Kognitionsmechanismus zurück und nicht auf die Verfälschung des Denkens durch Emotionen.
Unser Artikel stieß auf viel mehr Beachtung, als wir erwartet hatten, und er ist noch immer einer der meistzitierten Beiträge in den Sozialwissenschaften (im Jahr 2010 bezogen sich über 300 wissenschaftliche Aufsätze darauf ). Wissenschaftler in anderen Disziplinen fanden ihn nützlich, und das Konzept der Heuristiken und kognitiven Verzerrungen wurde in vielen Bereichen, wie etwa bei der medizinischen Diagnose, der Rechtsprechung, der Auswertung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse, der Philosophie, der Finanzwissenschaft, der Statistik und der Militärstrategie, gewinnbringend angewendet.
So haben beispielsweise Politikwissenschaftler herausgefunden, dass die Verfügbarkeitsheuristik zu erklären hilft, weshalb einige Probleme in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit finden, während andere vernachlässigt werden. Menschen neigen dazu, die relative Bedeutung von Problemen danach zu beurteilen, wie leicht sie sich aus dem Gedächtnis abrufen lassen – und diese Abrufleichtigkeit wird weitgehend von dem Ausmaß der Medienberichterstattung bestimmt. Häufig erwähnte Themen ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich, während andere aus dem Bewusstsein verschwinden. Andererseits entspricht das, worüber die Medien berichten, ihrer Einschätzung dessen, was die Öffentlichkeit gegenwärtig bewegt. Es ist kein Zufall, dass autoritäre Regime unabhängige Medien unter erheblichen Druck setzen. Da das Interesse der Öffentlichkeit am leichtesten durch dramatische Ereignisse und Stars geweckt wird, sind mediale »Fressorgien« weitverbreitet.
So war es beispielsweise nach Michael Jacksons Tod mehrere Wochen lang praktisch unmöglich, einen Fernsehsender zu finden, der über ein anderes Thema berichtete. Über höchst wichtige, aber langweilige Themen, die weniger herzergreifend sind, wie etwa sinkende Bildungsstandards oder die Überinvestition medizinischer Ressourcen im letzten Lebensjahr, wird dagegen kaum berichtet. (Während ich dies schreibe, fällt mir auf, dass meine Auswahl von Beispielen mit »geringer Medienpräsenz« von der Verfügbarkeit bestimmt wurde. Die Themen, die ich als Beispiele auswähle, werden häufig erwähnt; genauso wichtige Anliegen, die weniger verfügbar sind, fie-
len mir nicht ein.)
Damals war es uns nicht völlig klar, aber ein wesentlicher Grund für den breiten Anklang, den Heuristiken und kognitive Verzerrungen außerhalb der Psychologie finden, war ein zufälliges Merkmal unserer Arbeit: Wir nahmen fast immer den vollständigen Wortlaut der Fragen, die wir uns selbst und unseren Versuchspersonen stellten, in unsere Artikel auf. Diese Fragen dienten als Demonstrationen für den Leser; sie sollten ihm verdeutlichen, wie er selbst durch kognitive Verzerrungen zu Fehlurteilen gelangt. Ich hoffe, Sie hatten eine solche Erfahrung, als Sie die Frage über Steve, den Bibliothekar, lasen, die Ihnen helfen sollte, zu erkennen, wie stark Ähnlichkeit (mit Stereotypen) Wahrscheinlichkeitsaussagen beeinflusst und wie leicht relevante statistische Tatsachen ignoriert werden.
Die Fallbeispiele boten Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen – insbesondere aber Philosophen und Ökonomen – eine ungewöhnliche Gelegenheit, mögliche Fehler in ihrem eigenen Denken zu beobachten. Nachdem sie sich bei ihren eigenen Fehlern ertappt hatten, waren sie eher bereit, die damals vorherrschende dogmatische Annahme, jeder Mensch denke rational und logisch, infrage zu stellen. Die Wahl der Methode war entscheidend: Wenn wir nur über Ergebnisse konventioneller Experimente berichtet hätten, hätte der Artikel viel weniger Beachtung gefunden. Außerdem hätten sich skeptische Leser von den Ergebnissen distanziert, indem sie Urteilsfehler auf die bekannte Schludrigkeit von Studenten, die typischen Probanden psychologischer Studien, zurückgeführt hätten. Selbstverständlich haben wir Demonstrationsbeispiele nicht deshalb Standardexperimenten vorgezogen, weil wir Philosophen und Ökonomen beeinflussen wollten. Wir zogen Demonstrationen vor, weil sie unterhaltsamer waren, und wir hatten Glück bei der Wahl unserer Methode sowie in vielerlei anderer Hinsicht. Ein wiederkehrendes Thema dieses Buches ist, dass Glück in jeder Erfolgsgeschichte eine große Rolle spielt; wenn die Geschichte einen nur etwas anderen Verlauf genommen hätte, dann wäre statt einer bemerkenswerten eine mittelmäßige Leistung herausgekommen. Unsere Geschichte bildete da keine Ausnahme.
Die Reaktion auf unsere Arbeit fiel nicht einhellig positiv aus. Insbesondere wurde an unserer Fokussierung auf kognitive Verzerrungen kritisiert, dass sie eine unangemessen negative Sichtweise des menschlichen Denkens nahelege. Wie in der Wissenschaft üblich, haben einige Forscher unsere Ideen weiterentwickelt, und andere legten plausible Alternativen vor. Im Großen und Ganzen aber ist die Idee, dass unser Denken anfällig ist für systematische Fehler, heute allgemein anerkannt. Unsere Forschungsarbeiten über Urteilsprozesse hatten einen viel stärkeren Einfluss auf die Sozialwissenschaften, als wir es ursprünglich für möglich hielten.
Unmittelbar nachdem wir unsere neue Theorie über Urteilsprozesse vollständig ausgearbeitet hatten, wandten wir unsere Aufmerksamkeit der Entscheidungsfindung unter Ungewissheit zu. Wir wollten eine psychologische Theorie über die Entscheidungsfindung bei einfachen Glücksspielen erstellen. Zum Beispiel: Würden Sie eine Wette auf einen Münzwurf eingehen, bei der Sie 130 Dollar gewinnen, wenn die Münze mit Kopf nach oben liegt, und 100 Dollar verlieren, wenn die Zahl zu sehen ist? Diese elementaren Entscheidungen wurden schon seit Langem dazu benutzt, allgemeine Fragen der Entscheidungsfindung zu untersuchen, wie zum Beispiel das relative Gewicht, das Menschen sicheren Sachverhalten und ungewissen Ergebnissen zumessen.
Unsere Methode änderte sich nicht: Wir verbrachten viele Tage damit, uns Entscheidungsprobleme auszudenken und zu untersuchen, ob unsere intuitiven Präferenzen der Logik der Entscheidung entsprachen. Wie bei Urteilsprozessen beobachteten wir auch in unseren eigenen Entscheidungen systematische Verzerrungen – intuitive Präferenzen, die ständig gegen die Regeln rationaler Entscheidungsfindung verstießen.
Fünf Jahre nach dem Science-Artikel veröffentlichten wir den Beitrag »Prospect Theory: An Analysis of Decision Under Risk« (»Neue Erwartungstheorie: Eine Analyse der Entscheidungsfindung unter Unsicherheit«), eine Theorie der Entscheidungsfindung, die aus einigen Gründen einflussreicher ist als unsere Arbeit über Urteilsprozesse und eine der Grundlagen der Verhaltensökonomik darstellt.
Bis die geografische Trennung unsere weitere Zusammenarbeit vereitelte, genossen Amos und ich das außerordentliche Glück, dass wir unsere intellektuellen Fähigkeiten kombinieren konnten und so zu Leistungen in der Lage waren, die jeder von uns für sich allein nicht hätte erbringen können, und dass wir eine Beziehung hatten, die unsere Arbeit kurzweilig und produktiv machte. Unsere Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Urteils- und Entscheidungstheorie war der Grund dafür, dass mir 2002 der Nobelpreis zuerkannt wurde, den sich Amos mit mir geteilt hätte, wäre er nicht 1996 im Alter von 59 Jahren gestorben.