Zwei Systeme

Seit mehreren Jahrzehnten erforschen Psychologen intensiv die beiden Denkmodi, für die das Bild der zornigen Frau einerseits und das Multiplikationsproblem andererseits stehen, und sie haben zahlreiche Bezeichnungen dafür vorgeschlagen.1 Ich verwende die Termini, die ursprünglich von den Psychologen Keith Stanovich und Richard West eingeführt wurden, und ich werde entsprechend zwei kognitive Systeme unterscheiden, System 1 und System 2.

  • System 1 arbeitet automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung.
  • System 2 lenkt die Aufmerksamkeit auf die anstrengenden mentalen Aktivitäten, die auf sie angewiesen sind, darunter auch komplexe Berechnungen. Die Operationen von System 2 gehen oftmals mit dem subjektiven Erleben von Handlungsmacht, Entscheidungsfreiheit und Konzentration einher.

Die Bezeichnungen System 1 und System 2 sind in der Psychologie allgemein geläufig, aber ich gehe in diesem Buch, das Sie als ein Psychodrama mit zwei Figuren lesen können, weiter als die meisten.Wenn wir an uns selbst denken, identifizieren wir uns mit System 2, dem bewussten, logisch denkenden Selbst, das Überzeugungen hat, Entscheidungen trifft und sein Denken und Handeln bewusst kontrolliert. Obwohl System 2 von sich selbst glaubt, im Zentrum des Geschehens zu stehen, ist das unwillkürliche System 1 der Held dieses Buches.


In System 1 entstehen spontan die Eindrücke und Gefühle, die die Hauptquellen der expliziten Überzeugungen und bewussten Entscheidungen von System 2 sind. Die automatischen Operationen von System 1 erzeugen erstaunlich komplexe Muster von Vorstellungen, aber nur das langsamere System 2 kann in einer geordneten Folge von Schritten Gedanken konstruieren. Ich beschreibe auch Umstände, unter denen System 2 die Kontrolle übernimmt, indem es die ungezügelten Impulse und Assoziationen von System 1 verwirft. Man kann die beiden Systeme mit Akteuren vergleichen, die jeweils individuelle Fähigkeiten, Beschränkungen und Funktionen aufweisen.


In näherungsweiser Reihenfolge der Komplexität sind hier einige Beispiele für die automatischen Aktivitäten aufgelistet, die System 1 zugeschrieben werden:

  • Erkennen Sie, dass ein Gegenstand weiter entfernt ist als ein anderer.
  • Wenden Sie sich der Quelle eines plötzlichen Geräuschs zu.
  • Vervollständigen Sie den Ausdruck »Brot und …«
  • Ziehen Sie ein »angewidertes Gesicht«, wenn man Ihnen ein grauenvolles Bild zeigt.
  • Hören Sie die Feindseligkeit aus einer Stimme heraus.
  • Beantworten Sie: 2 + 2 = ?
  • Lesen Sie Wörter auf großen Reklameflächen.
  • Fahren Sie mit einem Auto über eine leere Straße.
  • Finden Sie einen starken Schachzug (wenn Sie Schachmeister sind).
  • Verstehen Sie einfache Sätze.
  • Erkennen Sie, dass eine »sanftmütige und ordentliche Person mit großer Liebe zum Detail« einem beruflichen Stereotyp entspricht.

All diese mentalen Ereignisse gehören zur gleichen Kategorie wie die wütende Frau – sie geschehen automatisch und weitgehend mühelos. Zu den Funktionen von System 1 gehören angeborene Fähigkeiten, die wir mit anderen Tieren gemeinsam haben. Wir werden mit der Fähigkeit geboren, unsere Umwelt wahrzunehmen, Gegenstände zu erkennen, unsere Aufmerksamkeit zu steuern, Verluste zu vermeiden und uns vor Spinnen zu fürchten. Andere mentale Aktivitäten werden durch lange Übung zu schnellen, automatisierten Routinen. System 1 hat Assoziationen zwischen Vorstellungen gelernt (die Hauptstadt Frankreichs?); es hat auch Fähigkeiten gelernt, wie etwa das Lesen und Verstehen von Nuancen sozialer Situationen. Einige Fähigkeiten, wie etwa das Finden starker Schachzüge, werden nur von spezialisierten Experten erworben. Andere sind weitverbreitet. Um die Ähnlichkeit eines Persönlichkeitsprofils mit einem beruflichen Stereotyp zu erkennen, benötigt man ein umfassendes Wissen um Sprache und Kultur, das die meisten von uns besitzen. Das Wissen ist im Gedächtnis gespeichert und wird ohne Intention und ohne Anstrengung abgerufen.


Etliche der mentalen Aktivitäten in der Liste erfolgen vollkommen unwillkürlich. Man kann sich nicht davon abhalten, einfache Sätze in seiner Muttersprache zu verstehen oder sich zu einem unerwarteten lauten Geräusch umzudrehen, noch kann man sich daran hindern, zu wissen, dass 2 + 2 = 4 ist, oder an Paris zu denken, wenn von der Hauptstadt Frankreichs die Rede ist. Andere Aktivitäten, wie das Kauen, sind der willentlichen Kontrolle zugänglich, werden für gewöhnlich aber von einem Autopiloten gesteuert. Beide Systeme sind an der Aufmerksamkeitssteuerung beteiligt. Die Hinwendung zu einem lauten Geräusch ist normalerweise eine unwillkürliche Operation von System , das sofort die willkürliche Aufmerksamkeit von System  mobilisiert. Vielleicht können Sie dem Impuls widerstehen, sich der Quelle einer lauten und unverschämten Bemerkung bei einer übervollen Party zuzuwenden, aber selbst wenn sich Ihr Kopf nicht bewegt, ist Ihre Aufmerksamkeit zunächst auf die Quelle gerichtet, zumindest eine Zeit lang. Allerdings kann die Aufmerksamkeit von einem ungewollten Fokus abgezogen werden, hauptsächlich dadurch, dass man sich gezielt auf etwas anderes konzentriert. Die höchst vielfältigen Aktivitäten von System 2 haben ein Merkmal gemeinsam: Sie erfordern Aufmerksamkeit, und sie werden gestört, wenn die Aufmerksamkeit abgezogen wird.


Hier sind einige Beispiele:

  • Sich bei einem Wettlauf auf den Startschuss einstellen.
  • Die Aufmerksamkeit auf die Clowns in einem Zirkus richten.
  • Sich auf die Stimme einer bestimmten Person in einem überfüllten und sehr lauten Raum konzentrieren.
  • Nach einer Frau mit weißem Haar Ausschau halten.
  • Das Gedächtnis durchsuchen, um ein ungewohntes Geräusch zu identifizieren.
  • Schneller gehen, als Sie es normalerweise tun.
  • Die Angemessenheit Ihres Verhaltens in einer sozialen Situation überwachen.
  • Zählen, wie oft der Buchstabe a auf einer Textseite vorkommt.
  • Jemandem seine Telefonnummer mitteilen.
  • In eine schmale Lücke einparken (für die meisten Leute, bis auf die Mitarbeiter von Kfz-Werkstätten).
  • Zwei Waschmaschinen auf das bessere Preis-Leistungs-Verhältnis hin vergleichen.
  • Eine Steuererklärung anfertigen.
  • Die Gültigkeit einer komplexen logischen Beweisführung überprüfen.

In all diesen Situationen muss man sich konzentrieren, und die Leistung, die man erbringt, fällt schlechter aus, wenn man nicht dazu bereit ist oder wenn die Aufmerksamkeit in unangemessener Weise fokussiert wird. System 2 besitzt die Fähigkeit, die Funktionsweise von System 1 in gewissem Umfang zu verändern, indem es die normalerweise automatischen Funktionen von Aufmerksamkeit und Gedächtnis programmiert. Wenn man zum Beispiel auf einem belebten Bahnhof auf einen Verwandten wartet, kann man sich willentlich darauf konzentrieren, nach einer weißhaarigen Frau oder einem bärtigen Mann Ausschau zu halten, und dadurch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass man den Verwandten schon von fern bemerkt. Man kann in seinem Gedächtnis gezielt nach Hauptstädten, die mit dem Buchstaben N beginnen, oder nach den Titeln existenzialistischer französischer Romane suchen. Und wenn man ein Auto am Londoner Heathrow Airport mietet, wird einen der Mitarbeiter vermutlich daran erinnern, dass »wir hier links fahren«. In all diesen Fällen wird man aufgefordert, etwas zu tun, was nicht spontan geschieht, und man stellt fest, dass die Aufrechterhaltung einer bestimmten Einstellung zumindest ein gewisses Maß an andauernder Anstrengung erfordert.


Der im Englischen häufig verwendete Ausdruck to pay attention (wörtlich: »Aufmerksamkeit zahlen«, also schenken) ist passend: Man verfügt über ein begrenztes Aufmerksamkeitsbudget, das man auf verschiedene Aktivitäten verteilen kann; wenn man versucht, sein Budget zu überschreiten, misslingt dies. Es ist das Kennzeichen anstrengender Aktivitäten, dass sie einander überlagern, und aus diesem Grund ist es schwer oder unmöglich, mehrere gleichzeitig auszuführen. Wir können nicht das Produkt von 17 × 24 berechnen, während wir bei dichtem Verkehr links abbiegen, und man sollte es mit Sicherheit gar nicht erst versuchen. Man kann mehrere Dinge gleichzeitig tun, aber nur wenn sie einfach und anspruchslos sind. Es ist wahrscheinlich ungefährlich, wenn Sie mit Ihrem Beifahrer plaudern, während Sie auf einer leeren Fernstraße fahren, und viele Eltern haben entdeckt – vielleicht mit einem leicht schlechten Gewissen –, dass sie einem Kind eine Geschichte vorlesen können, während sie an etwas anderes denken.


Jeder Mensch ist sich seiner begrenzten Aufmerksamkeitskapazität irgendwie bewusst, und unser soziales Verhalten berücksichtigt diese Beschränkungen. Wenn der Fahrer eines Autos auf einer schmalen Straße einen Laster überholt, verstummen die erwachsenen Mitfahrer aus nachvollziehbaren Gründen jäh. Sie wissen, dass es keine gute Idee ist, den Fahrer abzulenken, und sie nehmen auch an, dass er vorübergehend taub ist und nicht hören würde, was sie sagen.


Die intensive Konzentration auf eine Aufgabe kann Menschen tatsächlich blind für Stimuli machen, die normalerweise ihre Aufmerksamkeit erregen würden. Die spektakulärste Demonstration dafür lieferten Christopher Chabris und Daniel Simons in ihrem Buch Der unsichtbare Gorilla. Sie produzierten einen kurzen Film über zwei Mannschaften, die sich Basketbälle zuspielten, wobei ein Team weiße Hemden trug und das andere schwarze. Die Betrachter des Films werden aufgefordert, die Zahl der Ballwechsel der weißen Mannschaft zu zählen und die schwarzen Spieler zu ignorieren. Das ist eine schwierige Aufgabe, die volle Konzentration verlangt. Ungefähr in der Mitte des Videos taucht eine Frau auf, die als Gorilla verkleidet ist, überquert das Spielfeld und verschwindet wieder. Der Gorilla ist neun Sekunden lang zu sehen.


Tausende von Menschen haben sich das Video angeschaut, und etwa der Hälfte vonihnen fällt nichts Ungewöhnliches auf. Ursache dieser Blindheit ist die Zählaufgabe – und insbesondere die Anweisung, eines der Teams zu ignorieren. Niemand, der das Video ohne diese Aufgabe betrachtet, würde den Gorilla übersehen. Sehen und Sich-orientieren sind automatische Funktionen von System 1, aber sie sind darauf angewiesen, dass dem relevanten Stimulus eine gewisse Aufmerksamkeit zugewendet wird. Die Autoren weisen darauf hin, dass die bemerkenswerteste Beobachtung ihrer Studie darin besteht, dass Menschen deren Ergebnisse sehr überraschend finden. Tatsächlich sind die Filmbetrachter, die den Gorilla nicht gesehen haben, zunächst fest davon überzeugt, dass er nicht da war – sie können sich nicht vorstellen, dass ihnen ein so auffallendes Ereignis entgangen ist. Die Gorilla-Studie verdeutlicht zwei wichtigen Tatsachen über mentale Prozesse: Wir können gegenüber dem Offensichtlichen
blind sein, und wir sind darüber hinaus blind für unsere Blindheit.