Der Gang der Handlung

– ein kurzer Überblick

Die Wechselwirkung zwischen den beiden Systemen ist ein ständig wiederkehrendes Thema dieses Buches, und es dürfte hilfreich sein, den Handlungsverlauf kurz zusammenzufassen. In der Geschichte, die ich erzählen werde, sind sowohl System 1 als auch System 2 immer aktiv, wenn wir wach sind. System 1 läuft automatisch, und System 2 befindet sich normalerweise in einem angenehmen Modus geringer Anstrengung, in dem nur ein Teil seiner Kapazität in Anspruch genommen wird. System 1 generiert fortwährend Vorschläge für System 2: Eindrücke, Intuitionen, Absichten und Gefühle. Wenn Eindrücke und Intuitionen von System 2 unterstützt werden, werden sie zu Überzeugungen, und Impulse werden zu willentlich gesteuerten Handlungen.


Wenn alles glattläuft, was meistens der Fall ist, macht sich System 2 die Vorschläge von System 1 ohne größere Modifikationen zu eigen. Im Allgemeinen vertraut man seinen Eindrücken und gibt seinen Wünschen nach, und das ist in Ordnung so – für gewöhnlich.


Wenn System 1 in Schwierigkeiten gerät, fordert es von System 2 eine detailliertere und spezifischere Verarbeitung an, die das anstehende Problem möglicherweise lösen wird. System 2 wird mobilisiert, wenn eine Frage auftaucht, für die System 1 keine Antwort bereitstellt, wie es vermutlich der Fall war, als Sie mit dem Multiplikationsproblem 17 × 24 konfrontiert waren. Auch wenn etwas Überraschendes geschieht, kommt es zu einem jähen Anstieg der bewussten Aufmerksamkeit. System 2 wird aktiviert, wenn ein Ereignis registriert wird, das gegen das Weltmodell von System 1 verstößt. In dieser Welt gibt es keine hüpfenden Lampen, bellenden Katzen und keine Gorillas, die über Basketballfelder laufen. Das Gorilla-Experiment zeigt, dass der unerwartete Reiz nur dann wahrgenommen wird, wenn eine gewisse Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt wird. Die Überraschung aktiviert und orientiert dann die Aufmerksamkeit: Man heftet den Blick auf den Reiz, und man durchsucht sein Gedächtnis nach einer Geschichte, die dem unerwarteten Ereignis einen Sinn gibt. System 2 ist auch für die fortwährende Überwachung des Verhaltens zuständig – die Kontrolle, die gewährleistet, dass man höflich bleibt, wenn man wütend ist, und dass man hellwach bleibt, wenn man nachts Auto fährt. System 2 wird hochgefahren, sobald es einen drohenden Fehler bemerkt. Erinnern Sie sich an eine Gelegenheit, bei der Ihnen beinahe eine unverschämte Bemerkung über die Lippen gekommen wäre, und erinnern Sie sich, wie hart Sie darum ringen mussten, die Kontrolle wiederzuerlangen. Kurz und gut, der größte Teil dessen, was Sie (Ihr System 2) denken und tun, geht aus System 1 hervor, aber System 2 übernimmt, sobald es schwierig wird, und es hat normalerweise das letzte Wort.


Die Arbeitsteilung zwischen System 1 und System 2 ist höchst effizient: Sie minimiert den Aufwand und optimiert die Leistung. Diese Regelung funktioniert meistens gut, weil System 1 im Allgemeinen höchst zuverlässig arbeitet: seine Modelle vertrauter Situationen sind richtig, seine kurzfristigen Vorhersagen sind in der Regel ebenfalls zutreffend, und seine anfänglichen Reaktionen auf Herausforderungen sind prompt und im Allgemeinen angemessen. Die Leistungsfähigkeit von System 1 wird jedoch durch kognitive Verzerrungen beeinträchtigt, systematische Fehler, für die es unter spezifischen Umständen in hohem Maße anfällig ist. Wie wir sehen werden, beantwortet es manchmal Fragen, die leichter sind als jene, die ihm gestellt wurden, und es versteht kaum etwas von Logik und Statistik. Eine weitere Beschränkung von System 1 besteht darin, dass es nicht abgeschaltet werden kann. Wenn Sie auf einem Bildschirm ein Wort in einer Sprache sehen, die Sie kennen, lesen Sie es – es sei denn, Ihre Aufmerksamkeit wird von etwas anderem vollkommen in Beschlag genommen.

Konflikt

Abbildung  zeigt eine Variante eines klassischen Experiments, das einen Konflikt zwischen den beiden Systemen erzeugt. Sie sollten diese Übung selbst ausprobieren, bevor Sie weiterlesen.

Abbildung 2


Wahrscheinlich haben Sie in beiden Aufgaben die richtigen Wörter gesagt, und Sie haben vermutlich bemerkt, dass einige Teile jeder Aufgabe viel leichter als andere waren. Als Sie Groß- und Kleinschreibung benannten, war die linke Spalte leicht, während Sie in der rechten Spalte langsamer wurden und vielleicht ins Stottern und Stocken kamen. Als Sie die Stellung der Wörter angeben sollten, war die linke Spalte schwierig und die rechte Spalte war viel einfacher.


Diese Aufgaben beanspruchen System 2, weil Sie beim Betrachten einer Spalte von Wörtern für gewöhnlich nicht »groß«, »klein« oder »rechts«, »links« sagen. Um sich auf die Aufgabe vorzubereiten, haben Sie unter anderem Ihr Gedächtnis so programmiert, dass Ihnen die relevanten Wörter (»groß« und »klein« für die erste Aufgabe) »auf der Zunge« lagen. Die Priorisierung der gewählten Wörter ist effektiv, und der schwachen Versuchung, andere Wörter zu lesen, konnten Sie recht leicht widerstehen, als Sie die erste Spalte durchgingen. Aber bei der zweiten Spalte war es anders, weil sie Wörter enthielt, auf die Sie eingestellt waren und die Sie nicht ignorieren konnten. Sie konnten größtenteils richtig antworten, aber es kostete Sie Mühe, die konkurrierende Antwort zu überwinden, und es bremste Sie aus.


Sie erlebten einen Konflikt zwischen einer Aufgabe, die Sie erledigen wollten, und einer automatischen Antwort, die damit interferierte. Konflikte zwischen einer automatischen Reaktion und dem Willen, die Kontrolle zu behalten, kommen in unserem Leben häufig vor. Wir alle haben schon erlebt, wie wir gegen den Impuls ankämpften, das seltsam angezogene Pärchen am Nachbartisch in einem Restaurant anzugaffen. Wir wissen auch alle, wie es ist, wenn man sich dazu zwingen muss, seine Aufmerksamkeit auf ein langweiliges Buch zu richten, und man immer wieder an die Stelle zurückkehrt, wo man den Faden verloren hat. In Gegenden mit harten Wintern erinnern sich viele Fahrer daran, wie ihr Wagen auf dem Eis ins Rutschen kam, sich nicht mehr kontrollieren ließ und sie darum rangen, die gründlich einstudierten Regeln zu befolgen, die das genaue Gegenteil dessen waren, was sie intuitiv tun würden: »In die Richtung lenken, in die der Wagen schleudert, und auf keinen Fall bremsen!« Und jeder Mensch hat schon erlebt, dass er jemandem nicht gesagt hat, er solle sich zum Teufel scheren. Eine der Aufgaben von System 2 besteht darin, die Impulse von System 1 zu überwinden. Anders gesagt, System 2 ist für die Selbstbeherrschung zuständig.

Illusionen

Um die Autonomie von System 1 und den Unterschied zwischen Eindrücken und Überzeugungen zu verstehen, sollten Sie sich Abbildung 3 genau ansehen. Das Bild ist nicht weiter bemerkenswert: zwei horizontale Linien unterschiedlicher Länge, die mit Pfeilspitzen oder »Schwanzflossen« versehen sind, die in unterschiedliche Richtungen zeigen. Die untere Linie ist scheinbar länger als die darüber. Das sehen wir alle, und wir glauben spontan, was wir sehen. Aber wenn Sie dieses Bild schon einmal gesehen haben, wissen Sie, dass es sich um die berühmte Müller-Lyer-Illusion handelt. Wie Sie leicht selbst überprüfen können, indem Sie die horizontalen Linien mit einem Lineal nachmessen, sind beide tatsächlich genau gleich lang.


Abbildung 3


Jetzt, nachdem Sie die Linien gemessen haben, haben Sie – Ihr System 2, das mit Bewusstsein begabte Wesen, das Sie »ich« nennen – eine neue Überzeugung: Sie wissen, dass die Linien gleich lang sind. Wenn Sie nach ihrer Länge gefragt werden, sagen Sie, was Sie wissen. Aber die untere Linie erscheint nach wie vor als die längere. Sie haben sich entschieden, der Messung zu glauben, aber Sie können System  nicht von seiner gewohnten Aktivität abhalten; Sie können nicht durch einen Willensentschluss Ihre Wahrnehmung so verändern, dass Sie die Linien als gleich lang sehen, obwohl Sie wissen, dass sie gleich lang sind. Um nicht der Illusion zu erliegen, können Sie nur eines tun: Sie müssen lernen, Ihren Wahrnehmungen der Länge von Linien zu misstrauen, wenn sie mit »Pfeilspitzen« oder »Schwanzflossen« versehen sind. Um diese Regeln zu befolgen, müssen Sie das illusorische Muster erkennen und sich an das erinnern, was Sie darüber wissen. Wenn Sie dies tun können, werden Sie sich nie mehr von der Müller-Lyer-Illusion hinters Licht führen lassen. Aber die eine Linie wird Ihnen nach wie vor länger erscheinen als die andere.


Es gibt nicht nur optische Täuschungen. Es gibt auch Illusionen des Denkens, die wir »kognitive Täuschungen« nennen. Als Student besuchte ich auch einige Lehrveranstaltungen über die Kunst und die Wissenschaft der Psychotherapie. In einer dieser Vorlesungen teilte uns der Dozent eine Lektion aus seiner langjährigen klinischen Erfahrung mit: »Hin und wieder werden Sie einem Patienten begegnen, der Sie mit der Äußerung verstören wird, dass in seinen zurückliegenden Therapien zahlreiche Fehler gemacht wurden. Er suchte mehrere klinische Therapeuten auf, und alle enttäuschten ihn. Der Patient kann in nachvollziehbarer Weise schildern, wie ihn seine Therapeuten missverstanden haben, aber er hat schnell bemerkt, dass Sie anders sind. Sie liegen auf der gleichen Wellenlänge, er ist überzeugt, dass Sie ihn verstehen und ihm helfen können.« An dieser Stelle hob der Dozent seine Stimme, als er sagte: »Kommen Sie bloß nicht auf den Gedanken, diesen Patienten zu nehmen! Werfen Sie ihn hinaus! Er ist wahrscheinlich ein Psychopath, und Sie werden ihm nicht helfen können.«


Viele Jahre später wurde mir klar, dass der Dozent uns vor dem Charme von Psychopathen gewarnt hatte, und der führende Experte auf dem Gebiet der Psychopathie-Forschung bestätigte mir, dass der Rat des Dozenten durchaus sinnvoll war.5 Hier besteht eine große Ähnlichkeit mit der Müller-Lyer-Illusion. Uns wurde nicht beigebracht, welche Gefühle wir diesem Patienten entgegenbringen sollten. Unser Dozent ging einfach davon aus, dass das Mitgefühl, das wir für den Patienten empfinden würden, nicht von uns kontrolliert werden könne; es würde aus System  hervorgehen. Uns wurde auch nicht beigebracht, unseren Gefühlen für Patienten grundsätzlich zu misstrauen. Uns wurde gesagt, dass eine starke Sympathie für einen Patienten mit mehreren gescheiterten Therapien ein Gefahrenzeichen ist – wie die spitzen Winkel an den parallelen Linien. Es ist eine Illusion – eine kognitive Täuschung –, und mir (System 2) wurde beigebracht, wie man sie erkennt, und geraten, ihr nicht zu glauben oder nachzugeben.Die Frage, die am häufigsten in Bezug auf kognitive Täuschungen gestellt wird, lautet: Kann man sie überwinden? Die Botschaft dieser Beispiele ist nicht ermutigend. Da System  automatisch operiert und nicht willentlich abgestellt werden kann, lassen sich intuitive Denkfehler oftmals nur schwer verhindern.


Kognitive Verzerrungen lassen sich nicht immer vermeiden, weil System 2 vielleicht nichts von dem Fehler ahnt. Selbst wenn Hinweise auf wahrscheinliche Fehler vorliegen, lassen diese sich nur durch gesteigerte Überwachung und mühsame Aktivierung von System 2 verhüten. Im Alltagsleben aber ist beständige erhöhte Wachsamkeit nicht unbedingt gut, und sie ist zweifellos unpraktisch. Es wäre unerträglich mühsam, ständig sein eigenes Denken zu hinterfragen, und System 2 ist viel zu langsam und ineffizient, um bei Routine-Entscheidungen als ein Ersatz für System 1 zu fungieren. Wir können bestenfalls einen Kompromiss erreichen: lernen, Situationen zu erkennen, in denen Fehler wahrscheinlich sind, und uns stärker darum bemühen, weitreichende Fehler zu vermeiden, wenn viel auf dem Spiel steht. Die Prämisse dieses Buches lautet, dass man die Fehler anderer leichter erkennt als seine eigenen.

Nützliche Fiktionen

Ich habe Sie gebeten, sich die beiden Systeme als mentale Akteure mit individuellen Persönlichkeiten, Fähigkeiten und Begrenzungen vorzustellen. Ich werde häufig Sätze verwenden, in denen die Systeme die Subjekte sind, wie etwa in »System 2 berechnet Produkte«.Ein solcher Sprachgebrauch gilt in den Fachkreisen, in denen ich mich bewege, als eine Sünde, weil er die Gedanken und Handlungen einer Person durch die Gedanken und Handlungen kleiner Menschen im Kopf dieser Person zu erklären scheint.6 Grammatikalisch gesehen, ähnelt der Satz über System  dem Satz: »Der Butler stiehlt die Portokasse.« Meine Kollegen würden darauf hinweisen, dass die Tat des Butlers das Verschwinden des Geldes erklärt, und sie fragen zu Recht, ob der Satz über System 2 erklärt, wie Produkte berechnet werden. Meine Antwort lautet, dass der kurze aktive Satz, der System 2 Berechnungen zuschreibt, eine Beschreibung, keine Erklärung sein soll. Er ist nur deshalb bedeutungsvoll, weil wir bereits etwas über System  wissen. Er ist eine Abkürzung des folgenden Satzes: »Mentale Arithmetik ist eine anstrengende willentliche Aktivität, die man nicht ausführen sollte, während man nach links abbiegt, und sie geht mit erweiterten Pupillen und beschleunigtem Herzschlag einher.«


In ähnlicher Weise bedeutet die Aussage, dass »das Fahren auf einer Fernstraße unter gewöhnlichen Umständen System 1 überlassen bleibt«, dass es ein automatisierter und fast müheloser Prozess ist, ein Auto durch eine Kurve zu steuern. Es bedeutet auch, dass ein routinierter Fahrer auf einer leeren Fernstaße fahren und gleichzeitig ein Gespräch führen kann. »System 2 verhinderte, dass James auf die Beleidigung in einer unklugen Weise reagierte« bedeutet schließlich, dass James aggressiver reagiert hätte, wenn seine Fähigkeit zu anstrengender willentlicher Kontrolle beeinträchtigt gewesen wäre (zum Beispiel, wenn er betrunken gewesen wäre).


System 1 und System 2 spielen in der Geschichte, die ich in diesem Buch erzähle, eine so zentrale Rolle, dass ich unmissverständlich klarmachen will, dass sie fiktive Figuren sind. System 1 und System 2 sind keine Systeme im üblichen Sinne, keine Gebilde aus Elementen oder Teilen, die miteinander wechselwirken. Und es gibt nicht einen bestimmten Teil des Gehirns, in dem eines der beiden Systeme fest ansässig wäre. Sie mögen jetzt fragen: Wozu soll es gut sein, fiktive Figuren mit hässlichen Namen in einem Sachbuch einzuführen? Die Antwort lautet, dass diese Figuren aufgrund gewisser Eigenheiten des menschlichen Denkens nützlich sind. Ein Satz ist leichter zu verstehen, wenn er beschreibt, was ein Akteur (System 2) tut, als wenn er beschreibt, was etwas ist, welche Eigenschaften es aufweist. Anders gesagt, »System 2« ist ein besseres Subjekt für einen Satz als »mentale Arithmetik«. Unser Denkvermögen – insbesondere System 1 – scheint Geschichten über tatkräftige Akteure, die Persönlichkeiten, Gewohnheiten und Fähigkeiten besitzen, besonders gut konstruieren und interpretieren zu können. Wir haben uns sehr schnell eine schlechte Meinung über den diebischen Butler gebildet, wir erwarten, dass er weitere Missetaten begeht, und wir werden uns eine Zeit lang an ihn erinnern. Die gleiche Hoffnung hege ich in Bezug auf die Sprache der Systeme.


Weshalb nenne ich sie System 1 und System 2 anstatt »automatisches System« und »willentliches System«, was anschaulicher wäre? Das hat einen einfachen Grund: Es dauert länger, »automatisches System« auszusprechen als »System 1«, und aus diesem Grund nimmt dieser Ausdruck mehr Platz in Ihrem Arbeitsgedächtnis ein. Das ist von Bedeutung, weil alles, was Ihr Arbeitsgedächtnis belegt, Ihr Denkvermögen vermindert. Sie sollten »System 1« und »System 2« als Spitznamen betrachten, ähnlich wie Bob und Joe, die Figuren darstellen, die Sie im Lauf der Lektüre dieses Buches kennenlernen werden. Die frei erfundenen Systembezeichnungen erleichtern es mir, über Urteils- und Entscheidungsprozesse nachzudenken, und sie erleichtern Ihnen das Verständnis meiner Darlegungen.