5 Die Seele verkaufen

Unser elfköpfiges Team verbrachte sechs Tage in Jakarta. Wir meldeten uns bei der amerikanischen Botschaft an, trafen uns mit verschiedenen Regierungsbeamten, organisierten unsere Arbeit und entspannten uns am Pool. Die Zahl der Amerikaner, die im Hotel InterContinental lebten, verblüffte mich. Mit großem Vergnügen betrachtete ich
die schönen jungen Frauen, die mit den Managern amerikanischer Ölgesellschaften und Bauunternehmen verheiratet waren und ihre Tage am Swimmingpool und die Abende in dem halben Dutzend nobler Restaurants in unserem Hotel und der näheren Umgebung verbrachten.


Dann verlegte Charlie unser Team in die Bergstadt Bandung. Das Klima war dort milder und die Armut weniger offensichtlich; allerdings gab es auch weniger Zerstreuungen. Wir wurden in einem Gästehaus der Regierung untergebracht, das als das Wisma bekannt war, komplett mit einem Verwalter, Koch, Gärtner und einer Reihe Bediensteter. Das Wisma war unter der holländischen Kolonialherrschaft erbaut worden und eine Oase der Ruhe. Der Blick von der großzügigen Veranda schweifte über Teeplantagen in der hügeligen Landschaft und an den Vulkanhängen Javas. Zusätzlich zum Gästehaus stellte uns die Regierung elf Toyota-Geländewagen zur Verfügung, jeweils mit Fahrer und Dolmetscher. Außerdem wurden wir in den exklusiven Golf and Racket Club von Bandung aufgenommen. Unsere Büros lagen in der örtlichen Niederlassung der Perusahaan Umum Listrik Negara (PLN), der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft.


In den ersten Tagen in Bandung hatte ich mehrere wichtige Besprechungen mit Charlie und Howard Parker. Howard war über siebzig und eigentlich schon im Ruhestand. Früher hatte er die Lastprognosen für die Elektrizitätsgesellschaft New England Electric System erstellt. Heute sollte er Prognosen über die Strommenge und Stromerzeugungskapazität (die Last) erstellen, die die Insel Java in den kommenden 25 Jahren benötigen würde. Zusätzlich schlüsselte er den Bedarf nach Städten und Regionen auf. Da der Strombedarf eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung zusammenhängt, stützten sich seine Prognosen auf meine wirtschaftlichen Hochrechnungen. Das restliche Team sollte den Generalplan anhand dieser Vorhersagen entwickeln, Standorte für Kraftwerke auswählen und planen, außerdem die Übertragungs- und Verteilungsleitungen und die Wege für die Treibstoffversorgung so planen, daß unsere Hochrechnungen so gut wie möglich realisiert wurden.


Bei unseren Besprechungen betonte Charlie ständig, wie wichtig meine Aufgabe sei, und lag mir in den Ohren, daß meine Prognosen möglichst optimistisch ausfallen sollten. Claudine hatte Recht gehabt; ich war der Schlüssel für den gesamten Masterplan. »In den ersten Wochen geht es darum, Daten zu sammeln«, erklärte Charlie. Er, Howard und ich saßen in den großen Korbsesseln in Charlies luxuriösem privatem Büro. Die Wände schmückten gebatikte Wandbehänge, die Epen aus alten Hindu-Texten, der Ramayana, darstellten. Charlie paffte eine dicke Zigarre. »Die Ingenieure erstellen ein detailliertes Bild des vorhandenen Stromnetzes, der Hafenkapazitäten, Straßen, Schienenverbindungen, all diese Sachen.« Er deutete mit der Zigarre auf mich. »Sie müssen schnell arbeiten. Am Ende des ersten Monats braucht Howard eine ziemlich genaue Vorstellung vom Ausmaß des Wirtschaftswunders, das sich einstellen wird, wenn wir das neue Netz installieren. Am Ende des zweiten Monats braucht er mehr Details, aufgeschlüsselt nach Regionen. Im letzten Monat werden die Lücken gefüllt. Das wird ganz entscheidend sein. Wir werden dann alle die Köpfe zusammenstecken. Bevor wir hier abreisen, müssen wir absolut sicher sein, daß wir sämtliche Informationen haben, die wir benötigen. Daheim Thanksgiving feiern, das ist mein Motto. Wir kommen nicht zurück.«

 

Howard wirkte wie ein liebenswürdiger, großväterlicher Typ. Tatsächlich war er ein verbitterter alter Mann, der sich vom Leben betrogen fühlte. Er hatte es nie bis an die Spitze der Elektrizitätsgesellschaft geschafft, und darüber ärgerte er sich sehr. »Ich wurde übergangen«, erzählte er mir immer wieder, »weil ich den Standpunkt der Firma nicht vertreten habe.« Howard war in den Ruhestand geschickt worden, aber weil er die Untätigkeit daheim mit seiner Frau nicht aushielt, hatte er eine Stelle als Berater für MAIN angenommen. Indonesien war sein zweiter Auftrag, und Einar und Charlie hatten mich vor ihm gewarnt. Sie beschrieben Howard mit Begriffen wie halsstarrig, niederträchtig und nachtragend.


Wie sich herausstellen sollte, war Howard einer meiner besten Lehrer, allerdings konnte ich ihn damals noch nicht als solchen akzeptieren. Er hatte die Ausbildung nicht, die ich von Claudine erhalten hatte. Ich nehme an, er galt als zu alt, vielleicht auch als zu stur. Oder vielleicht dachte man, er sei ohnehin nur kurze Zeit dabei, bis man einen gefügigen Vollzeitmitarbeiter wie mich gefunden hatte. Auf jeden Fall erwies sich Howard aus Sicht der Firma als Problemfall. Er verstand ganz genau die Situation und wußte, was man von ihm erwartete, wollte sich aber nicht auf dieses Spiel einlassen. Die Adjektive, mit denen Einar und Charlie ihn beschrieben hatten, paßten sehr gut, aber zumindest ein Teil seiner Sturheit erwuchs aus seiner Entschlossenheit, nicht ihr Knecht zu werden. Ich bezweifle, daß er je den Begriff Economic Hit Man gehört hatte, aber er wußte, daß man ihn dazu benutzen wollte, eine Form des Imperialismus durchzusetzen, die er nicht akzeptieren konnte.


Nach einer unserer Besprechungen mit Charlie nahm er mich beiseite. Er trug ein Hörgerät und fummelte an dem kleinen Kästchen unter seinem Hemd herum, mit dem er die Lautstärke kontrollierte. »Das bleibt unter uns«, sagte Howard mit gedämpfter Stimme. Wir standen am Fenster unseres gemeinsamen Büros und blickten auf das träge Wasser im Kanal, der am PLN-Gebäude vorbeifloß. Eine junge Frau badete im stinkenden Wasser und versuchte, zumindest einen Hauch von Anstand zu wahren, indem sie einen Sarong lose um ihren nackten Körper geschlungen hatte. »Sie versuchen, Sie davon zu überzeugen, daß die Wirtschaft wie eine Rakete abheben wird«, sagte Howard. »Charlie ist rücksichtslos. Lassen Sie sich von ihm nicht beeinflussen.« Seine Worte gaben mir ein flaues Gefühl im Magen. Andererseits regte sich in mir auch der Wunsch, ihn davon zu überzeugen, daß Charlie Recht hatte; schließlich hing meine Karriere davon ab, daß ich die Erwartungen meiner Chefs bei MAIN erfüllte.

 

»Natürlich wird die Wirtschaft hier boomen«, sagte ich. Ich konnte den Blick nicht von der Frau im Kanal abwenden. »Sehen Sie doch nur, was sich hier abspielt.« »Da haben wir’s«, murmelte er, offensichtlich hatte er die Szene vor uns gar nicht mitbekommen. »Sie sind denen also schon auf den Leim gegangen?« Eine Bewegung weiter oben am Kanal lenkte mich ab. Ein älterer Mann war das Ufer hinuntergestiegen, ließ die Hosen fallen, kauerte sich hin und folgte dem Ruf der Natur. Die junge Frau sah ihn, war aber offensichtlich von seinem Treiben nicht beeindruckt und badete weiter. Ich wandte mich vom Fenster ab und sah Howard direkt an.


»Ich war viel unterwegs und kenne mich aus«, sagte ich. »Ich bin vielleicht jung, aber ich war gerade drei Jahre in Südamerika. Ich habe erlebt, was passiert, wenn Öl gefunden wird. Die Dinge können sich schnell ändern.« »Oh, ich war auch viel unterwegs«, sagte Howard spöttisch. »Viele Jahre lang. Ich sage Ihnen was, junger Mann. Ich kümmere mich einen Dreck um Öl und all das. Ich habe mein ganzes Leben lang Stromlasten vorausberechnet – während der Weltwirtschaftskrise, im Zweiten Weltkrieg, in Pleiten und Boomzeiten. Ich habe erlebt, was das so genannte Wirtschaftswunder von Massachusetts an der Route 128 Boston gebracht hat. Und ich kann mit Gewißheit sagen, daß eine Stromlast langfristig gesehen noch nie um mehr als 7 bis 9% pro Jahr gestiegen ist. Und das im bestmöglichen Fall. Sechs Prozent sind realistischer.«


Ich starrte ihn an. Ein Teil von mir vermutete, daß er Recht hatte, aber ich fühlte mich angegriffen. Ich ich wollte ihn unbedingt überzeugen, schon um mein eigenes Gewissen zu beruhigen. »Howard, das hier ist nicht Boston. Das ist ein Land, in dem bis jetzt niemand Strom hatte. Die Dinge liegen hier anders. « Howard machte auf dem Absatz kehrt und wedelte mit der Hand, als ob er mich beiseite fegen könnte.


»Nur weiter so«, knurrte er. »Verkaufen Sie sich. Mir ist es egal, welche Prognose Sie erstellen.« Er zog seinen Stuhl vom Schreibtisch zu sich heran und ließ sich darauf fallen. »Ich erstelle meine Elektrizitätsprognose so, wie ich es für richtig halte, nicht anhand von irgendwelchen hochfliegenden Wirtschaftsprognosen.« Er nahm einen Bleistift und begann, auf einem Block Notizen zu machen. Diese Provokation konnte ich nicht ignorieren. Ich baute mich vor seinem Schreibtisch auf. »Sie werden ganz schön dumm dastehen, wenn ich das liefere, was alle erwarten – einen Boom, der es mit dem Goldrausch in Kalifornien aufnehmen kann –, und Sie prognostizieren eine Wachstumsrate beim Strombedarf, die der von Boston in den sechziger Jahren entspricht.«


Er schleuderte den Bleistift auf den Schreibtisch und starrte mich an. »Unerhört! Das ist unerhört. Sie – Sie alle hier …« Er fuchtelte mit den Armen und deutete auf die Büros hinter der Wand, »Sie haben Ihre Seele an den Teufel verkauft. Sie machen das wegen des Geldes. Nun gut …« Er verzog die Lippen zu einem scheelen Lächeln und faßte unter sein Hemd. »Ich stelle jetzt mein Hörgerät ab und arbeite weiter.« Der Streit erschütterte mich sehr. Ich polterte aus dem Zimmer und machte mich auf den Weg zu Charlies Büro. Auf halbem Weg blieb ich jedoch stehen, weil ich nicht wußte, was ich eigentlich wollte. Ich machte kehrt und ging die Treppe hinunter, verließ das Gebäude und trat ins nachmittägliche Sonnenlicht. Die junge Frau kletterte aus dem Kanal, den Sarong eng um den Körper geschlungen. Der ältere Mann war verschwunden. Ein paar Jungen spielten im Kanal und bespritzten sich gegenseitig, begleitet von Rufen und Kreischen. Eine ältere Frau stand knietief im Wasser und putzte sich die Zähne, eine andere schrubbte Wäsche. Ich hatte einen dicken Klumpen im Hals. Ich setzte mich auf ein Stück bröckelige Betonmauer und versuchte, den beißenden Gestank des Kanals zu ignorieren. Ich konnte nur mühsam die Tränen unterdrücken. Ich mußte herausfinden, warum es mir so schlecht ging.


Sie machen das wegen des Geldes. Ich hatte Howards Worte noch in den Ohren, ich hörte sie wieder und wieder. Er hatte den Finger in die Wunde gelegt. Die kleinen Jungen bespritzten sich weiter, ihre fröhlichen Stimmen erfüllten die Luft. Ich fragte mich, was ich tun konnte. Was brauchte ich, um so sorglos zu werden wie sie? Die Frage quälte mich, während ich zusah, wie sie in paradiesischer Unschuld herumtobten. Offenbar hatten sie keine Ahnung, daß das übelriechende Wasser sie krank machen konnte. Ein buckliger alter Mann mit einem knorrigen Stock humpelte am Ufer entlang. Er blieb stehen und sah den Jungen zu, sein Mund verzog sich zu einem zahnlosen Grinsen.

 

Vielleicht konnte ich mich Howard anvertrauen, vielleicht würden wir gemeinsam eine Lösung finden. Sofort überkam mich ein Gefühl der Erleichterung. Ich hob einen kleinen Stein auf und schleuderte ihn in den Kanal. Als die kleinen Wellen verebbten, schwand auch meine Euphorie. Ich wußte, daß ich das nicht machen konnte. Howard war alt und verbittert. Er hatte sich einige Karrierechancen entgehen lassen. Sicher würde er jetzt nicht nachgeben. Ich war jung, fing gerade erst an und wollte ganz gewiß nicht enden wie Howard. Ich starrte auf das Wasser des ekligen Kanals und hatte wieder Bilder der Schule auf dem Hügel in New Hampshire vor Augen. Ich dachte daran, wie ich meine Ferien allein verbracht hatte, während die anderen Jungen zu ihren Bällen gingen und mit den Debütantinnen tanzten. Langsam erkannte ich die traurige Tatsache. Wieder einmal gab es niemanden, mit dem ich reden konnte.


Abends lag ich noch lange wach und dachte an die Menschen in meinem Leben – Howard, Charlie, Claudine, Ann, Einar, Onkel Frank. Ich fragte mich, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich sie alle nie getroffen hätte. Wo würde ich leben? Sicher nicht in Indonesien. Ich dachte auch über meine Zukunft nach, fragte mich, wohin ich steuerte. Ich grübelte über die Entscheidung, die ich treffen mußte. Charlie hatte klar gesagt, daß er von Howard und mir Wachstumsraten von mindestens 17% im Jahr erwartete. Was für eine Prognose würde ich erstellen?

 

Plötzlich kam mir ein Gedanke, der mich sehr beruhigte. Warum war mir das nicht schon früher eingefallen? Die Entscheidung lag gar nicht bei mir. Howard hatte gesagt, er würde tun, was er für das Richtige halte, egal, welche Schlußfolgerungen ich traf. Ich konnte meine Chefs mit einer optimistischen Wirtschaftsprognose zufrieden stellen, und er würde seine eigene Prognose abgeben. Meine Arbeit würde keine Auswirkung auf den Masterplan haben. Ständig wurde die Bedeutung meiner Aufgabe betont, aber das war falsch. Eine schwere Last war mir von den Schultern genommen. Ich fiel in tiefen Schlaf.


Ein paar Tage später wurde Howard krank, er hatte sich eine schwere Darminfektion zugezogen. Wir brachten ihn schnell ins katholische Missionskrankenhaus. Die Ärzte verschrieben ihm Medikamente und rieten ihm dringend, sofort in die USA zurückzukehren. Howard versicherte uns, er habe bereits alle notwendigen Informationen und könne die Lastprognose leicht in Boston fertig stellen. Seine Abschiedsworte waren eine Wiederholung seiner früheren Warnung. »Kein Grund, die Zahlen zu manipulieren«, sagte er. »Bei diesem Betrug mache ich nicht mit, egal, was Sie über die Wunder des Wirtschaftswachstums sagen!«