Heilendes Bewusstsein: Begegnung im Regenwald-II

Bei den Behandlungen in den entlegenen Dörfern, habe sie inzwischen in Erfahrung gebracht, seien meist alle Familienmitglieder anwesend, manchmal sogar alle Nachbarn, oft beteilige sich die ganze Dorfgemeinschaft. Wenn der Patient krank bliebe, werde dies nicht als sein persönliches Problem gesehen, sondern alle fühlten sich verantwortlich. Ein faszinierender Gedanke, der dem Weltbild der westlichen Schulmedizin magisch erschien, wenn auch neuere Erkenntnisse über psychologische Zusammenhänge diese indianische Vorstellung schon damals in ein anderes Licht zu rücken begannen.


Und dann erzählte die Ärztin eine zweite Geschichte, ein persönliches Erlebnis, das etwa ein Jahr zurücklag: Auf einer Reise durch die Felsenlandschaft der Anden sei sie eines Abends in ein abgelegenes Dorf gekommen. In der schneidenden Kälte nach Sonnenuntergang sei sie in einem der Bauernhäuser Zeugin eines Abschiedes geworden. In einem Bett in der Ecke eines düsteren Zimmers lag eine sterbende Frau, und nach und nach kamen die Bewohner des Dorfes zu einem letzten Besuch. Die Ärztin hatte den Impuls zu helfen und fragte vorsichtig, ob sie die Patientin untersuchen dürfe. Die Angehörigen stimmten zu, auch wenn sie offenkundig wenig Hoffnung in die Fremde setzten.

 

Nach wenigen Minuten war der Ärztin klar, dass die Krankheit heilbar war, mit einem neuen Medikament, das erst seit kurzer Zeit auf dem Markt war. Und genau dieses hochwirksame Mittel hatte sie im Reisegepäck. Sie gab es der Frau und sagte den Angehörigen, sie müssten sich keine Sorgen mehr machen – die Patientin werde mit Sicherheit ganz schnell gesund werden.

 

Einige Stunden später starb die alte Frau, wie es die Angehörigen erwartet hatten, und das Dorf begann mit den Trauerritualen. Die deutsche Ärztin war verzweifelt und schockiert. Lange suchte sie nach dem Fehler, der sie in dieser schwierigen Situation scheitern ließ, aber sie war sicher, die richtige Diagnose gestellt und nach den Regeln ihrer Kunst behandelt zu haben. Warum also musste die Frau in jener Nacht sterben?


Erst ein Jahr später, nach der Erfahrung mit der wunderbaren Heilung des Mädchens im Tiefland, fast 1000 Kilometer von jenem Dorf in den Anden entfernt, begann sie zu begreifen, dass sie schon damals Zeugin einer besonderen Macht geworden war: der Macht des Bewusstseins. Schon immer waren in den Hochebenen Perus Menschen gestorben, die an dieser Krankheit litten, allen Hoffnungen zum Trotz. Die Angehörigen am Krankenbett und alle Besucher glaubten tief in ihrem Inneren, dass es keine Rettung gab. Auch die Patientin selbst war sich über ihr Schicksal im Klaren und hatte begonnen loszulassen, den Kampf um das Leben aufzugeben. Die Sterbende und ihre Freunde und Verwandten waren im Einklang mit ihrer Tradition und ihrem alten Wissen vom Leben und von Tod.

 

Gegen diesen tiefen Glauben konnte die Fremde aus Europa nichts ausrichten. Ihre medizinische Kunst war im Angesicht dieses kollektiven Wissens ohne Bedeutung. Der Körper der Patientin folgte der Botschaft des Bewusstseins und zog die Abwehrkräfte zurück. In diesem Moment verlor auch das Medikament aus dem Westen seine Macht, die es in Jahren intensiver Forschung gewonnen hatte: Wenn das Bewusstsein die Heilung verweigert, weil es sie nicht für möglich hält, sind äußere Eingriffe in die Chemie des Körpers offenbar ohne Bedeutung. Die Patientin starb friedlich, wie sie selbst und alle anderen es erwartet hatten.

 

Die moderne Medizin kann sich mit der Macht des Bewusstseins nur schwer abfinden. Seit meiner Begegnung mit dieser deutschen Ärztin sind mehr als 30 Jahre vergangen, aber noch immer liegen die Vertreter einer mechanistischen Medizin mit jenen Ärzten im Streit, die sich in das unüberschaubare Grenzgebiet von Körper und Seele wagen. In diesen Regionen aber könnte sich die Lösung des Rätsels verbergen, denn dort sind die Forscher geheimnisvollen Mechanismen auf der Spur, die unfassbar erscheinende Wunder ebenso möglich machen wie tragische Niederlagen.


Die grundlegende Frage, um deren Lösung sich alle bemühen, steht seit Menschengedenken fest: Was ist die Kraft, die Kranke gesund macht, die Leben verlängert und den Tod hinauszögert? Was ist der Grund, der den einen Menschen auf wunderbare Weise genesen, den anderen sterben lässt?


Wo liegt die verborgene Quelle der Heilung?