Abschied vom Maschinenmenschen

Wenn Menschen erkranken, wenn sie sich aus der Bahn geworfen fühlen, wünschen sie sich nur eines: dass alles wieder sein möge wie zuvor, dass die Aufmerksamkeit, die nun mehr und mehr den Symptomen gilt und vielleicht der Angst vor der Zukunft, wieder ganz für die Dinge des Alltags zur Verfügung stehe. Aber immer wieder lenkt das Bewusstsein die Schärfe der Wahrnehmung auf den Schmerz, der im Hintergrund schwingt, manchmal auch nur auf die Erwartung des Schmerzes oder auf andere Zeichen einer fortschreitenden Erkrankung. In solchen Zeiten scheint der Körper mehr und mehr Raum einzunehmen, und das innere Bild des erkrankten Körpers wirkt wie verzerrt, denn die Wahrnehmung macht jene Bereiche, über die sie streift, viel größer, als es aus der Sicht des Gesunden angemessen wäre.


Wenn die Erkrankung chronisch geworden ist, wenn sie sich also schon viel Zeit genommen hat, dann besetzt sie im Bewusstsein einen immer größeren Raum. Alles dreht sich nur noch um die wechselnden oder gleichbleibenden Symptome, und die Odyssee durch die Praxen der Ärzte bestimmt längst den Alltag. Immer wieder neue Hoffnung, immer wieder Angst, immer wieder neue Enttäuschung.


In solchen Zeiten setzen die Menschen auf die täglich wachsenden Angebote der Heilungsindustrie: auf Tinkturen und Tabletten, die einen Ausweg versprechen, auf die neueste Diagnosetechnik oder die freiwillige Teilnahme an einer Studie, in der die rastlosen Erfinder der Pharmaindustrie neue Wirkstoffe testen. Es gibt nur noch ein Ziel, dem sich alles andere unterzuordnen hat: Das, was mich schmerzt und ängstigt, soll wieder verschwinden. Und damit dies geschieht, ist mir
jedes Mittel recht. In diesem völlig verständlichen, oft verzweifelten Kampf geschieht es leicht, dass Patienten sich selbst Schaden zufügen, vor allem aber, dass sie die Chancen zu einer grundlegenden Heilung übersehen, die das innere Gleichgewicht wiederherstellt, so dass Körper und Seele in die natürliche Balance zurückfinden können. Aber diese Haltung einzunehmen ist nicht leicht, denn sie widerspricht einer jahrhundertealten philosophischen Vorstellung, die zu einem der Grundpfeiler der konventionellen Medizin geworden ist.

 

Unsere Vorstellung vom Menschen und seinen Erkrankungen ist von der Trennung von Körper und Seele bestimmt, wie sie von dem Philosophen René Descartes begründet wurde. Der Körper erscheint danach wie eine leere Hülle, die in gewisser Weise ein Eigenleben führt. Die unterschiedlichen Prozesse, die sich hier abspielen, vom äußerlich Sichtbaren bis hinunter auf die Ebene der Zellen, folgen biologischen Regelkreisen. Sie brauchen eigentlich keinen Geist und existieren un-
abhängig von der Seele. Ein Roboter bewegt sich da, ein Automat, eine Maschine. Ganz oben aber, im Kopf, lebt der eigentliche Mensch, ein körperloser Geist, der gleichsam die Leitwarte besetzt hat und von dort dem Roboter steuernde Impulse sendet. Dieser Geist kann nur im Rahmen enger biologischer Vorgaben Einfluss auf die Maschine nehmen, die er besitzt. Er kann aber Entscheidungen treffen über das, was sie tun soll, sofern das die Schaltkreise erlauben. Der Körper ist das Hilfsmittel, mit dem der Geist sich in der alltäglichen Wirklichkeit ausdrückt. Wie das mit Maschinen so ist, kann die Bedienung zu Fehlern führen (was manchmal Unfälle auslöst), und natürlich kann der steuernde Geist versäumen, seinen Roboter instand zu halten, zu warten und zu schmieren, was seine Lebensdauer natürlich verkürzt. Aber von diesen grundsätzlichen Fehlern des Besitzers abgesehen, funktioniert die Körpermaschine weitgehend automatisch, und zwar so lange, bis der unvermeidliche Verschleiß zu irreparablen Schäden führt. Eine Zeitlang schleppt sie sich dann noch mit (chronischen) Schäden herum, bis sie schließlich für immer
stehenbleibt, weil zentrale Teile nicht mehr funktionieren.


Wenn Menschen von sich selbst sprechen, dann meinen sie dieses verkleinerte Abbild ihrer Persönlichkeit, das irgendwo oben im Kopf in der Leitwarte sitzt und den Roboter steuert. Sie sehen sich als vollkommen getrennt von der Körpermaschine und erleben sie tatsächlich als etwas weitgehend Eigenständiges, manchmal geradezu Fremdes, vor allem, wenn Schmerz von ihr ausgeht. Dieser Gedanke ist tauglich für den Alltag, denn genau so nehmen wir uns ja in der meisten Zeit unseres Lebens wahr. Aber er entspricht nicht der wissenschaftlich fundierten Wirklichkeit. Denn nach neuen Erkenntnissen, für die sich inzwischen genügend Belege gefunden haben, sind Körper und Geist nur zwei Seiten desselben Wesens, sozusagen untrennbar miteinander verbundene Bilder derselben Wirklichkeit. Nach dieser Vorstellung sind wir gleichzeitig Körper und Geist, und tatsächlich finden sich die Abdrücke des Geistes überall im Körper, und zwar in so dichter Folge, dass es
durchaus berechtigt ist, zu behaupten, Körper und Geist seien eines (mehr dazu im Kapitel »Ist der Geist überall?«).


Ist das Ich, das über »seine« Erkrankung nachdenkt, also nur ein Teil des Körpers, weil es im Gehirn entsteht? So vertreten das nicht wenige Forscher. Manche gehen noch einen Schritt weiter und betrachten den Geist insgesamt als »Nebenprodukt« der Evolution, als einen Trick der Natur, mit dem sich die »Bio-Roboter« Vorteile im Kampf um die Vorherrschaft auf diesem Planeten sicherten. Denn je mehr Bewusstheit ein Wesen besitze, sagen sie, umso mehr könne es planend seine Vorteile nutzen und immer mehr Nischen besetzen. So erschufen in der Vorstellung dieser radikaldarwinistischen Denkrichtung »egoistische Gene« komplizierte biologische
Gebilde, die immer bewusster wurden und damit immer mehr Terrain eroberten, am Ende dann den Menschen, dem jedes Mittel recht ist, über den Planeten und alle seine Lebewesen zu herrschen, selbst der Einsatz so subtiler Hilfsmittel wie eines planenden und steuernden Geistes.


Diese Reduktion der Evolution auf ein Spiel seelenloser Gene, deren einziger Sinn in sich selbst besteht, hat ein Menschenbild hervorgebracht, in dem sich alles auf den biologischen Kampf ums Dasein reduziert. Tiefe Gefühle wie Liebe und Hass oder die Fähigkeit zu spiritueller Verbindung sind in dieser Vorstellung nur Nebenprodukte, die manchmal im Überlebenskampf nützen – mehr Bedeutung kommt ihnen nicht zu.


Es ist dieses Menschenbild, das die moderne Medizin noch immer beeinflusst, die Medizin einer vollständig entzauberten Welt. Ihre großen Erfolge auf dem Gebiet der Akutbehandlung in lebensbedrohlichen Situationen, vor allem in der Chirurgie, geben ihr im Alltag recht, und es ist ein in der Geschichte der Menschheit unschätzbarer Fortschritt, über derart wirkungsvolle Methoden zu verfügen. Aber die konventionelle Medizin hat ihre Grenzen: wenn nämlich Erkrankungen chronisch werden, wenn sie nicht plötzlich aufflammen und nach der ersten Attacke des Arztes wieder verschwinden, wenn sie also nicht auf einfache und leicht
verständliche Ursachen zurückzuführen sind. Chronische Erkrankungen erscheinen als verwirrendes Puzzle.


Wenn eine eindeutige Ursache nicht erkennbar ist oder ein wissenschaftlich überprüfter Heilungsweg nicht zur Verfügung steht, bekämpft die konventionelle Medizin vor allem die Symptome, in der Hoffnung, damit Linderung für den Patienten zu erreichen. Aber das ist keine angemessene Antwort auf eine komplexe Frage. Deshalb geben Mediziner oft mehrere Antworten, indem sie für jedes Symptom ein eigenes Mittel verschreiben, bis sie schließlich mit der nächsten Staffel von Medikamenten die Nebenwirkungen der ersten Arzneien bekämpfen. Nach einer Untersuchung Bremer Wissenschaftler6 gibt es in Deutschland jährlich mindestens 200 000 schwere Fälle von Medikamenten-Nebenwirkungen, von denen 12 000 bis 16 000 tödlich enden. Und es ist erstaunlich, wie viele Patienten jahrelang schier unglaubliche Mixturen von Wirkstoffen überleben. Nicht wenige Ärzte erzielen bei neuen Patienten überraschende Soforterfolge, wenn sie sich zu einem radikalen Schritt entschließen und die Zahl der Medikamente reduzieren, manchmal sogar alle, wenn sie nicht lebensnotwendig erscheinen, für eine gewisse Zeit absetzen. Plötzlich verschwinden Schmerzen, Magenbeschwerden, Hauterkrankungen: Es kann tatsächlich sehr heilsam sein, wenn man dem Körper die Chance gibt, mit sich selbst wieder ins Reine zu kommen.

 

Ist Heilung also vor allem Selbstheilung oder ist sie doch grundlegend von der Hilfe eines anderen Menschen abhängig, der stellvertretend für den Patienten den Kampf aufnimmt: Arzt, Heilpraktiker, Psychotherapeut oder Schamane, je nach den Vorlieben und dem Kulturkreis, in dem sich ein Mensch bewegt? Solche Fragen stellen sich Patienten oft erst dann, wenn die gewohnten Instrumente der Medizin nicht mehr greifen, wenn die störenden Symptome nicht von selbst oder mit Hil-
fe einer kleinen Intervention verschwinden, wenn der dumpfe Schmerz als Hintergrundgeräusch stets präsent bleibt, wenn der Geist keine Chance mehr hat, dem Körper seine Aufmerksamkeit zu entziehen. Aber dies sind die grundlegenden Fragen der Medizin, wenn sie auch im Alltag der Gesundheitsindustrie erst langsam an Bedeutung gewinnen – denn dort herrscht immer noch die Mentalität eines großen, immer perfekter organisierten Reparaturbetriebs für defekte Maschinenmenschen.


Für jedes Segment des »Roboters« gibt es eigene Werkstätten mit immer höher spezialisierten Mechanikern, die oft schon die Kollegen aus den Nachbarwerkstätten nicht mehr vollständig verstehen, denn immer komplizierter werden die Mittel und Methoden der Fehlerdiagnose, der Wartung und Reparatur und die Techniken des Austausches defekter Teile.


Auch für den Geist gibt es eigene Werkstätten, wo Spezialisten versuchen, den immateriellen Steuermann funktionstüchtig zu halten, indem sie die Steuerkanzel selbst reparieren. Das ist jener Ort, wo Psychiater mit Medikamenten und (seltener) mit chirurgischen Eingriffen am materiellen Substrat des Geistes drehen, wo sie also einen Steuermann, der verrückt wurde, wieder geradezurücken versuchen.

 

Ganz im Sinne der Trennung von Körper und Geist gibt es aber auch den Versuch, Verletzungen der Seele zu heilen, indem ein Geist mit dem anderen kommuniziert. Das sind die unterschiedlichen Formen der Psychotherapie, von der Psychoanalyse bis zur Gesprächstherapie. Es gehört zur Trennung im Fühlen und Denken seit Descartes’ Zeiten, dass dieser Bereich nur den Problemen der Seele selbst vorbehalten ist. Körperliche Schäden sollen Psychologen nicht behandeln, dafür sind andere zuständig. Immerhin hat die Psychotherapie im Laufe ihrer Geschichte körperliche Bewegung als ein machtvolles Mittel des Einflusses auf die Seele entdeckt und
so die Grenzen verwischt: Persönliche Krisen und Traumata können sich nach ihrer Vorstellung im Körper spiegeln. Deshalb versuchen verschiedene Richtungen der humanistischen Psychologie, psychosomatische Erkrankungen auch über besondere Körperhaltungen zu behandeln.

 

Aber noch immer ist unser Medizinbetrieb so organisiert, dass es unterschiedliche Werkstätten für unterschiedliche Beschwerden gibt, und die jeweiligen Werkstattleiter und ihre Standesorganisationen achten streng darauf, dass sich daran möglichst wenig ändert. Gerade die Psychotherapeuten aber, vor allem die Vertreter der klinischen Hypnose, haben begonnen, die Grenzen mehr und mehr zu überschreiten, und deshalb kommt aus diesem Raum der Anstoß für
einen Bewusstseinswandel, der langfristig die Medizin revolutionieren könnte: Wenn nämlich aus der Beziehung zwischen Geist und Geist körperliche Veränderungen erwachsen, wenn Heilung auf diesem Wege möglich ist, dann steht auf lange Sicht das ganze Konzept des Reparaturbetriebs in Frage.


Die Psychosomatik versucht, mit einem eigenen Fachgebiet die offenkundige Trennung zu überwinden. Sie beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele und hat seit ihrem Entstehen den Vertretern der Körpermedizin ein gewisses Terrain abgetrotzt. Obwohl ihre Pioniere mit ihrer Forschungsarbeit die Grenzen immer weiter hinausschieben, bleibt sie dennoch nur ein medizinisches Fachgebiet unter vielen, und so hält sich der Glaube, dass fast alle
Erkrankungen »rein körperliche« Störungen seien, nicht beeinflusst durch die Bewegungen der Seele.

 

Im Bewusstsein auch der meisten Patienten ist das nicht anders, und so wünschen sie sich, der Arzt möge ihre Erkrankung an einem klar umrissenen Ort des Körpers entdecken und von dort auch wieder vertreiben. »Ich bin doch nicht verrückt«, sagen viele Menschen, wenn ein Arzt vorsichtig nach Problemen in ihrem Leben fragt. Sie ahnen, dass der Versuch, das Leben insgesamt wieder ins Gleichgewicht zu bringen, erheblich länger dauern kann als die Auslöschung unangenehmer Symptome mit Hilfe der Chemie. So spielen Patienten und Ärzte im medizinischen Alltag oft ein gemeinsames Spiel, das die Trennung von Körper und Seele festschreibt und das Bild des Maschinenmenschen festigt.

 

Dass die moderne Neurobiologie Körper und Seele längst als Einheit betrachtet, lässt sich mit dem Verstand zwar nachvollziehen, aber nicht wirklich begreifen. Denn es entspricht einfach nicht der alltäglichen Wahrnehmung, die das alte Weltbild in jedem Augenblick zu bestätigen scheint. Das denkende Ich fühlt sich vom Körper getrennt, es verweilt in den schwebenden Bildern der Vergangenheit oder reist in die ungelebten Landschaften der Zukunft, nur selten hält es sich in der Gegenwart auf, dort, wo der Körper agiert, wo sich also das Leben tat-sächlich abspielt. Der Körper bindet uns an die Gegenwart und die Alltagsrealität. Der Geist und darin das
Ich, das sich für die eigentliche Person hält, flieht diesen Ort und damit auch ein wenig das Leben. Je mehr aber eine Erkrankung Raum greift, umso mehr verbinden sich Geist und Körper zu einer ständig gegenwärtigen Einheit. Der Wunsch, diesen schmerzhaften Zustand zu beenden, wird zum Zentrum des Seins. So führt uns jede Erkrankung von den Ausflügen in längst gelebtes oder nur gewünschtes Leben in die Gegenwart zurück, und darin liegt auch eine große Chance zur Veränderung.
Wenn nämlich Körper und Geist im Grunde eines sind, dann kann der Geist, indem er sich selbst verändert, auch den Körper verändern, aber dies ist schon wieder in der Sprache der Trennung formuliert. Wenn Körper und Geist eines sind, dann bedeutet eine Veränderung des Geistes unmittelbar eine Veränderung des Körpers. Oder mit anderen Worten: Schon in der Intention, in der Absicht, im Willen, im tief empfundenen Wunsch und auch in der Hoffnung liegen machtvolle Quellen der Heilung.


In der Geschichte der Medizin gibt es viele Beispiele, die diesen Gedanken nahelegen. Jeder Arzt, jeder Heilpraktiker, jeder Therapeut, jeder Heiler und viele Menschen in pflegenden Berufen können von Fällen berichten, deren Heilung unerwartet, manchmal geradezu wunderbar verlief. Es sind auch solche persönlichen Erfahrungen, die immer mehr Mediziner zum Umdenken bringen. Sie geben nicht ihren hohen wissenschaftlichen Standard auf, erkennen aber gleichzeitig,
dass im medizinischen Alltag die Dimension des Geistes und der Seele offenbar noch immer zu wenig Beachtung findet. Und so entwickeln sie eine wachsende Sensibilität dafür, im Gespräch mit ihren Patienten auch auf diese Ebene zu achten.


Diese Haltung erfordert Mut, denn sie kann zu Entscheidungen führen, die auf den ersten Blick medizinischem Wissen widersprechen.Aber so können manchmal Dinge geschehen, die nach dem Lehrbuch und langjähriger Erfahrung eigentlich undenkbar scheinen. Aus meiner Sicht sind es nicht zuletzt diese ungewöhnlichen Geschichten, die der Heilkunst neue Impulse geben, denn sie zeigen, dass in Wirklichkeit viel mehr möglich ist, als unsere wissenschaftlichen Definitionen einräumen
möchten.