Geheimes Pflanzen-Bewusstsein: Denken Pflanzen mit Hilfe von Elektrosignalen?
Denken Pflanzen mit Hilfe von Elektrosignalen?
»Pflanzen«, macht Forscher Volkmann klar, »haben keine Nerven in dem Sinn, wie sie der Mensch hat. Aber es gibt eine ganze Reihe durchaus vergleichbarer Strukturen.« Lange bereits ist bekannt, dass es bei Pflanzen neben den gut erforschten chemischen otenstoffen auch elektrische Aktionspotenziale gibt: wechselnde elektrische Spannungen, die der Informationsübertragung dienen – ähnlich wie in den Nerven der Tiere und Menschen. »Menschen gebrauchen elektrische Aktionspotenziale, um
Botschaften – zum Beispiel ›Schmerz‹ – weiterzuleiten. Vergleichbar damit«, so Professor Trewavas, »können Strompotenziale der Pflanze ›Verletzung‹ signalisieren.« Der Biologe führt den Vergleich weiter: Auch für Lernvorgänge und für Gedächtnisleistungen sind die molekularen Grundlagen von Pflanze und Tier sehr ähnlich. Wenn Tiere vor Gefahr zurückschrecken, erhöht sich in Sekundenbruchteilen Geschwindigkeit und
Menge der elektrischen Signale. Dies löst eine Kaskade weiterer Reaktionen aus, und das Tier weicht zurück. Eine stete Gefahr führt zu ständig erhöhter elektrischer Spannung, und auf diese Art »lernt« das Tier erhöhte Alarmbereitschaft.
Wenn eine Pflanze Wassermangel spürt, veranlassen dieselben elektrischen Signale in gleichen Kommunikationskanälen sie dazu, ihren Wasserhaushalt einzuschränken und zum Beispiel ihre Spaltöffnungen in den Blättern zu schließen, so dass möglichst wenig Wasser verdunstet. Hält der Wassermangel an, bildet die Pflanze mit der Zeit weniger Blätter und mehr Wurzeln. »Auch eine Pflanze lernt. Sie lernt durch Versuch und Irrtum, wann genug Veränderung erreicht ist, um Stress und Verletzung zu minimieren«, sagt Trewavas.
Weil Pflanzen im Gegensatz zu Tieren keine spezialisierten Nervenfasern besitzen, in denen die elektrischen Signale weitergeleitet werden, suchten die Forscher jahrzehntelang nach dem Reizleitungssystem. Generationen von Botanikern hat insbesondere das faszinierende tierähnliche Verhalten von Mimosen in Atem gehalten. Werden ihre Sinneshaare gereizt, breitet sich ähnlich wie bei tierischen Nervenzellen eine elektrische Spannungsänderung über das gesamte Blatt aus: mit einer Geschwindigkeit von rund drei Zentimetern pro Sekunde. Das ist schneller als die Erregungsleitung im Nervensystem einfacher Tiere, etwa bei Teichmuscheln. Bei ihnen kommt die Erregung einen Zentimeter pro Sekunde voran.
Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermutete der Bonner Biologe Heinz Welten (1876–1933), dass Plasmafäserchen, die von Zelle zu Zelle reichen, als pflanzliche Nervenbahnen fungieren. Jüngste elektrophysiologische Messungen des Zellularbiologen Baluska bestätigen: »Im Stengel und in den Wurzeln einer Pflanze stehen die Zellen röhrenförmig und geordnet übereinander. Sie sind stabil, und sie verlaufen immer in eine Richtung, von oben nach unten oder von links nach rechts. Das ist nicht so ein Durcheinander wie in tierischem oder menschlichem Gewebe. Darüber hat man bisher nicht viel nachgedacht.«
Elektrophysiologische Signale laufen entlang den Leitungsbahnen für Wasser (Xylem) und Nährstoffe (Phloem). Die einzige Spezialisierung der Leitbündel ist eine Lage toter Zellen um sie herum, ähnlich der Isolierung um ein Kabel. Sie sorgt dafür, dass die Signale nicht in anderes Gewebe eindringen und verschwinden. »Diese Signalübertragung ist um den Faktor 1000 langsamer als bei Nerven«, sagt Balsuka. Doch es werden zuweilen lange Strecken zurückgelegt; bei der Sonnenblume 30 Zentimeter und mehr, was rund 1000 Zellen entspricht.
Jüngst stießen Professor Massimo Maffei von der Universität Turin und Professor Wilhelm Boland vom Max-Planck-Institut für Chemische Ökologie in Jena auf etwas völlig Unerwartetes: spezifische elektrische Felder und wechselnde Spannungen im Blatt. Als die Forscher eine Raupe des Ägyptischen Baumwollwurms (Spodoptera littoralis) auf eine Limabohne (Phaseolus lunatus) setzten, änderte sich auf der Blattoberfläche innerhalb von Sekunden und deutlich messbar die elektrische Spannung. Das normale zelluläre elektrische Aktionspotenzial wurde fast auf die Hälfte heruntergesetzt: von –130 auf etwa –90 Millivolt. Diese Depolarisation setzte sich mit einer Geschwindigkeit von etwa einem Zentimeter pro Sekunde über das ganze Blatt hinweg fort. »Schon in den ersten Sekunden, nachdem das Blatt verletzt worden ist, ist dieses Alarmsignal durch die ganze Pflanze gelaufen – von einem Ende bis zum anderen«, erklärt Boland. »Im Effekt erreicht das Signal das Gleiche, was das Nervensystem tut.« Denn elektrische Spannungen über biologischen Membranen sind ein wichtiges und messbares Merkmal für jede lebende Zelle, sei sie nun menschlichen, tierischen oder pflanzlichen Ursprungs. Somit dienen Plasmamembranen auch als Sensor und Vermittler für äußere Signale, damit jede Zelle und am Ende ganze Gewebe schnell und effizient auf Änderungen in ihrer Umgebung reagieren können – so wie bei der Limabohne.
Das Bemerkenswerteste dabei: Die Spannungsänderung warnt zudem die noch nicht betroffenen Pflanzenzellen vor der nahenden Raupe. Diese Zellen können dann vorbeugend Abwehrstoffe produzieren. Sollte sich dieser Reaktionszyklus bestätigen, hätte man etwas schier Unglaubliches bei der Pflanze entdeckt: ein Nerven- und ein Immunsystem in einem!
Seit der Entdeckung der Membransensoren sprechen die Pflanzenneurobiologen auch von Neurotransmittern und Synapsen. Wie kann das sein? In unserem Gehirn koppelt, verstärkt und reguliert eine Flut chemischer Botschaften, Neurotransmitter genannt, die Signale. Ist das bei Pflanzen ebenso? »Fast alle bekannten Neurotransmitter hat man auch in Pflanzen gefunden«, sagt Baluska. Darunter Acetylcholin, das im menschlichen Gehirn für die Verarbeitung von Gedächtnisspuren sorgt. In unserem Gehirn überspringen die Signale mit Hilfe von Neurotransmittern die Lücke zwischen den Zellen: den synaptischen Spalt.
Und bei Pflanzen? Der Begriff Synapse – 1897 vom britischen Nobelpreisträger Charles Sherrington geprägt – bezeichnet ursprünglich die Kontaktstellen zwischen den Neuronen. »Doch es gibt«, sagt Baluska, »noch eine weitere Definition von Synapsen. Sie sind die Zellkontakte, über die Zellen miteinander kommunizieren.« Dies würde direkte Synapsentransmission überflüssig machen.
Als »indirekte« Transmitter könnten jene Vesikel elektrische Antworten in benachbarten Zellen auslösen, die Baluska entdeckt hat: mikroskopisch kleine »Bläschen in den pflanzlichen Zellmembranen. Sie sind extrem mit dem Pflanzenhormon Auxin angereichert und könnten nach einigen Sekunden elektrische Signale weiterreichen.«
Gleichzeitig kommunizieren die Zellen innerhalb des Gewebes mit Botenstoffen. Diese Moleküle schwimmen in den feinen Äderchen der Gewächse, driften mit dem Körpersaft in alle Regionen. Zudem produzieren Pflanzen viele Substanzen, die Nervenzellen direkt beeinflussen können – wir kennen sie als Drogen wie Cannabis, Nikotin, Koffein. Bislang glaubte man, diese chemischen Moleküle dienten vor allem zur Abwehr von Schädlingen. Neuere Untersuchungen indes zeigen, dass sie auch für die Regulierung wichtiger Prozesse innerhalb der Pflanze eine Rolle spielen.
»Pflanzenkommunikation ist ebenso komplex wie die in einem Gehirn ablaufende«, meint Professor Trewavas. »Gehirnsignale benutzen meist kleine Moleküle, während bei Pflanzensignalen große, komplizierte Moleküle wie Eiweiße im Spiel sind. Große Moleküle können große Informationsmengen übertragen, was bedeutet, dass bei der Pflanzenkommunikation Spielraum für enorme Komplexität besteht.«