2001/08: Die Schuld am Holocaust – der ungeschriebene Befehl

DER UNGESCHRIEBENE BEFEHL

Hitler hat die Ermordung der Juden Europas autorisiert und gesteuert. Doch eine schriftliche Anordnung gab es nicht. Der Holocaust bestand aus einer jahrelangen Serie von Massakern. Krieg und Genozid bildeten eine Einheit.
 
Von Peter Longerich – aus DER SPIEGEL 33/2001

POSEN, 4. OKTOBER 1943

Noch hat das nationalsozialistische Deutschland den Krieg nicht verloren, doch die Niederlage zeichnet sich schon deutlich ab. In einer Rede vor den SS-Gruppenführern kommt der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, fast beiläufig auf »ein ganz schweres Kapitel« zu sprechen: die »Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes«. In eher geschäftsmäßigem Tonfall redet der Mann mit dem Habitus eines Oberlehrers vom Massenmord, den die Nazis als ihren geschichtlichen Auftrag verstehen.

  • »Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammenliegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht.«

 

Fast 60 Jahre nach Himmlers offenem Bekenntnis haben die Historiker den Mord an den europäischen Juden in vielen Einzelheiten dokumentiert und beschrieben. Es steht außer Zweifel, dass ein Verbrechen mit so monströsen Dimensionen nur durch den Mann an der Spitze des NS-Regimes, den »Führer« Adolf Hitler, autorisiert worden sein konnte – durch den Mann, der von seiner ersten politischen Stellungnahme aus dem Jahre 1919 bis zu seinem Testament im April 1945 von der Idee besessen war, die Juden auf die eine oder andere gewaltsame Art zu »entfernen«.

Weit schwieriger zu beantworten ist die Frage, wie der radikale Antisemitismus Hitlers in ein staatliches Programm zur systematischen Ermordung der europäischen Juden umgesetzt wurde. Lässt sich ein bestimmter Zeitpunkt festlegen, an dem die Entscheidung zur Ermordung der europäischen Juden fiel? Wie soll man sich einen solchen folgenschweren Augenblick vorstellen? Gab Hitler den Mordbefehl während einer Konferenz, in einer Ansprache, in einem Gespräch unter vier Augen? Fällte er die Entscheidung zur Ermordung von Millionen im Wahn der eigenen Omnipotenz, im Sommer 1941, als er im Krieg gegen die Sowjetunion seine bis dahin größten militärischen Erfolge erreichte? Oder war sie als Racheakt angelegt, als Vergeltung am »Weltjudentum« für das sich bereits abzeichnende Scheitern megalomaner Lebensraumpläne?

 

Dass bei der Rekonstruktion der »Endlösung« so viel Raum für Imagination bleibt, ist nur auf den ersten Blick erstaunlich. Im Land der bürokratischen Perfektion scheinen die wichtigsten Beschlüsse über den Holocaust nicht schriftlich festgehalten worden zu sein. Was die Nazis an Dokumenten angelegt hatten, zerstörten die Täter selbst zumeist so gründlich, wie sie die Gaskammern dem Erdboden gleichmachten oder die verscharrten Leichen wieder ausgraben und verbrennen ließen. Von diesem Verbrechen sollten keine Spuren zurückbleiben. Nicht zufällig nannte Himmler am 4. Oktober 1943 vor den SS-Gruppenführern den Judenmord ein »niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte«.

 

Hinzu kommt, dass diejenigen Dokumente, die trotz systematischer Tilgung der Spuren nach Kriegsende gefunden wurden, in einer Tarnsprache abgefasst sind. Die Täter zogen es vor, anstatt von liquidieren, töten, morden lieber von Endlösung, Umsiedlung, Evakuierung, Vernichtung oder Ausrottung zu schreiben. Dies geschah aus Gründen der Geheimhaltung, aber wohl auch aus Scheu, der Wirklichkeit des Massenmordes ins Auge zu blicken. Vom Zentrum der Macht aus gesehen, blieb der millionenfache Mord an Kindern, Frauen und Männern aus Ost-, West- und Mitteleuropa ein abstrakter Vorgang.

 

Die Rekonstruktion der »Endlösung« kann sich daher nicht ausschließlich auf Dokumente stützen. Vielmehr muss man versuchen, aus dem Ablauf der Massenexekutionen, der Deportationen und der Morde in den Vernichtungslagern auf die Urheber dieses Menschheitsverbrechens zu schließen.

BERLIN, 30. JANUAR 1939

Hitler kündigt in einer Rede vor dem Reichstag an, im Falle eines erneuten Weltkriegs werde

  • »das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa«.

Damit ist die Drohung eines Völkermordes offen ausgesprochen. Im Klartext heißt das: Sollten die Westmächte einer weiteren deutschen Expansion in Europa entgegentreten, sollte der regionale Krieg also in einen Weltkrieg münden, würde Hitler die europäischen Juden als Geiseln ansehen.

 

Nach dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 ging das NS-Regime tatsächlich daran, konkrete Vorbereitungen für eine solche gigantische Geiselnahme zu treffen: Die NS-Führung plante ein »Judenreservat«, zunächst im östlichen Teil des besetzten Polens, seit Sommer 1940 auf der afrikanischen Insel Madagaskar. Dann aber, nach der Jahreswende 1940/41, gingen Hitler, Himmler und SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich davon aus, dass sie die Juden Europas in Kürze in die zu erobernden sowjetischen Gebiete deportieren könnten. Hinter allen diesen »territorialen« Plänen stand die Drohung der »Vernichtung« – die Bereitschaft, die verschleppten Menschen zu töten.

PRETZSCH, FRÜHJAHR 1941

In einer Polizeischule in der preußischen Provinz Sachsen wird das Führungspersonal der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD auf seine Aufgaben im bevorstehenden Krieg gegen die UdSSR vorbereitet: die Vernichtung des »jüdischen Bolschewismus«. Die Kommandos bestehen zumeist aus lang gedienten und hart- gesottenen Angehörigen der SS und der Polizei, insgesamt sind das etwa 3000 Männer. Ihre Führer gehören zumeist einer neuen Generation nationalsozialistischer Juristen an, einer Garde zweckrational denkender Fachleute und fanatischer Ideologen ohne jegliche Skrupel.

 

Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, im Gegensatz zum schwächlich erscheinenden Himmler ein körperlich durchtrainierter Mann, äußerlich ohne erkennbare Emotionen, fasst in einem Befehl noch einmal schriftlich die Anweisungen zusammen, die er den Einsatzgruppen mit auf den Weg gegeben hat: »Zu exekutieren«, so heißt es da, seien – neben verschiedenen Kategorien sowjetischer Funktionäre – sämtliche »Juden in Partei- und Staatsstellungen«, aber auch alle »sonstigen radikalen Elemente (Saboteure, Propagandeure, Heckenschützen, Attentäter, Hetzer usw.).« Das »usw.« gibt bereits einen Hinweis darauf, dass der Kreis der Opfer absichtlich nicht klar umrissen wird.

 

Die Massenmorde der Einsatzgruppen in den besetzten sowjetischen Gebieten sind detailliert dokumentiert: In den 195 »Ereignismeldungen UdSSR«, zwischen Juni 1941 und April 1942 verfasst, berichten die Führer dieser Kommandos ausführlich über die Ermordung von Hunderttausenden jüdischer Zivilisten. Verteilt wurden diese Berichte an Dutzende Adressaten im SS-, Militär- und Regierungsapparat. Vom Bemühen um strenge Geheimhaltung kann keine Rede sein; der rassistische Vernichtungskrieg sollte unter den Entscheidungsträgern innerhalb der zentralen Dienststellen des Reiches regelrecht propagiert werden.

 

Die Meldungen der Einsatzgruppen zeigten, dass diese Einheiten und andere deutsche Tötungskommandos – Ordnungspolizei und SS-Brigaden – die Morde phasenweise ausdehnten: Zunächst wurden jüdische Männer, meist Angehörige einer vage definierten Oberschicht, ermordet, dann zunehmend alle Männer im wehrfähigen Alter, dann unterschiedslos auch alte Männer sowie Frauen und Kinder.

 

Dabei gingen einige Einheiten bereits sechs Wochen nach Kriegsbeginn Anfang August 1941 zur unterschiedslosen Ermordung der jüdischen Zivilbevölkerung über, andere erst nach mehr als drei Monaten. Ganz offensichtlich hatten die Führer der Kommandos gewisse Handlungsspielräume und folgten nicht einem von Anfang an exakt festgelegten Plan, sondern Befehlen, die bewusst offen gehalten worden waren. Durch zahlreiche Inspektionsreisen zu den Brennpunkten des Geschehens lenkten Himmler und andere SS-Funktionäre die Tötungskommandos zusätzlich in die gewünschte Richtung.

BERLIN, 31. JULI 1941

Hermann Göring, seit 1938 der formal verantwortliche Koordinator der »Judenpolitik«, ermächtigt Heydrich in einem von diesem vorbereiteten Schriftstück, »alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa«.

Unter einer »Gesamtlösung der Judenfrage« verstehen die Nazis zu diesem Zeitpunkt die seit Jahresbeginn geplante Deportation der europäischen Juden in die zu besetzenden sowjetischen Gebiete. Knapp sechs Monate später, auf der Wannsee-Konferenz, wird Heydrich auf die »Ermächtigung« zurückkommen und auf ihren eigentlichen Urheber verweisen: Hitler.

BERLIN, OKTOBER 1941

Die Deportation der jüdischen Einwohner der Reichshauptstadt setzt ein, offen und am helllichten Tag. Mitte September hat Hitler befohlen, die Deportationen aus dem Reich beginnen zu lassen, zunächst in das – ohnehin schon völlig überfüllte – Ghetto von Lodz. Wenig später kommen Riga und Minsk als Verschleppungsziele hinzu.

Hitler ordnet die Deportation der Juden »in den Osten« wie seit Anfang 1941 vorgesehen an – ohne allerdings die ursprüngliche Voraussetzung abzuwarten, den Sieg über die Sowjetunion. Er selbst begründet diesen Schritt im Oktober 1941, wie ein Ministerialbeamter notierte, unter anderem damit, er wolle sich »Pressalien« gegen die deutschen Juden »für einen eventuellen Eintritt Amerikas in den Krieg aufheben«.

Wenige Tage nach dem Beginn der Deportationen äußert der Diktator im kleinen Kreis, es sei »gut, wenn uns der Schrecken vorangeht, dass wir das Judentum ausrotten«. Den Berliner Auslandskorrespondenten der Zeitungen aus den neutralen Staaten bleiben die Deportationen nicht verborgen, und sie sollten wohl auch nicht verborgen bleiben. Joseph Goebbels gibt die Anweisung, auf Anfragen ausländischer Journalisten lediglich Folgendes zu antworten: »Die Juden kommen in kein Lager, weder in ein Konzentrationslager noch in ein Gefängnis. Sie werden individuell behandelt. Wohin sie kommen, kann aus kriegswirtschaftlichen Gründen nicht gesagt werden.«

In der Inlandspropaganda, so Goebbels‘ Anordnung, erscheine es hingegen zweckmäßig, »über dieses Thema überhaupt nichts zu sagen«.

 

Bereits Wochen zuvor hat Goebbels eine antisemitische Propagandakampagne gestartet; unter anderem wird in einer Plakataktion der NSDAP an Hitlers Drohung vom 30. Januar 1939 erinnert, im Falle eines Weltkriegs die europäischen Juden zu vernichten. Der Propagandaminister geht nun daran, diese Kampagne noch zu steigern. Am 25. Oktober ordnet er an, in den öffentlichen Verkehrsmitteln Schilder mit folgendem Inhalt anzubringen: »Die Juden sind unser Unglück. Sie haben diesen Krieg gewollt, um Deutschland zu vernichten. Deutsche Volksgenossen, vergesst das nie!«

Die Deportationen fanden also nicht nur vor aller Augen statt, sondern in einer Atmosphäre, die durch antisemitische Ausfälle der staatlichen Propaganda bestimmt war, während die offizielle Nachrichtenpolitik im Innern eisiges Schweigen über das Ziel der Transporte bewahrte. Geheimhaltung stand unvermittelt neben offen propagierter Verschärfung der Verfolgung.

 

Dass die Deportationen Tagesgespräch waren, die Wirkung der antisemitischen Propaganda sich aber nicht in vollem Umfang einstellen wollte, stellte Goebbels Ende Oktober in seinem Tagebuch fest: »Unsere intellektuellen und gesellschaftlichen Schichten haben plötzlich wieder ihr Humanitätsgefühl für die armen Juden entdeckt. Der deutsche Michel ist ihnen nicht auszutreiben.« Goebbels entschloss sich nun, propagandistisch erneut in die Offensive zu gehen.

 

In der Wochenzeitung »Das Reich« vom 16. November 1941 kam er unter der Überschrift »Die Juden sind schuld!« auf Hitlers Drohung vom 30. Januar 1939 zurück, ein erneuter Weltkrieg werde die »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« zur Folge haben. Goebbels: »Wir erleben eben den Vollzug dieser Prophezeiung, und es erfüllt sich damit am Judentum ein Schicksal, das zwar hart, aber mehr als verdient ist.« Das »Weltjudentum« erleide »nun einen allmählichen Vernichtungsprozess«.

Als die Deportationen aus dem Reich begannen, arbeitete die SS unter Hochdruck daran, die Mordtechnik, mit der bereits seit 1939/40 massenhaft Anstaltspatienten im Rahmen der »Euthanasie« umgebracht wurden, nun auch zur Ermordung der osteuropäischen Juden einzusetzen: Die »Euthanasie«-Spezialisten sollten mit Hilfe von Gaswagen und Gaskammer »Platz schaffen« in den Ghettos, um die aus dem Reichsgebiet verschleppten Juden aufzunehmen.

 

Im Raum Lodz tötete ein Sonderkommando einheimische Juden seit Oktober in Gaswagen; ab Dezember stand Chelmno zur Verfügung, eine Gaswagenstation; die NS-Funktionäre erörterten Pläne für den Bau eines Vernichtungslagers im weißrussischen Mogilew und für Gaskammern in Riga. Mitte Oktober fiel die Entscheidung, das Vernichtungslager Belzec im Distrikt Lublin des Generalgouvernements zu bauen, also in jenem Gebiet, in das ab Frühjahr 1942 die Juden aus dem Reichsgebiet deportiert werden sollten.

 

Ebenfalls im Oktober verhängte Himmler ein europaweites Ausreiseverbot für Juden, und noch vor Ende des Jahres ließ die Lagerleitung des KZ Auschwitz die ersten Häftlinge – sowjetische Kriegsgefangene und Kranke – durch Zyklon B ermorden.

Die Eskalation der Vernichtung setzte nun auch in anderen Gebieten ein: Im Oktober dehnten die Erschießungskommandos im ostpolnischen Galizien ihre Mordtätigkeit auf Frauen und Kinder aus, im Oktober begann die Wehrmacht in Serbien mit der systematischen Erschießung der jüdischen Männer unter dem Vorwand von »Repressalien«.

 

Noch traf es aber nicht unterschiedslos alle europäischen Juden: Als im November 1941 deutsche Sicherheitspolizei 6000 Juden aus dem Reichsgebiet unmittelbar nach ihrer Ankunft in Riga und Kowno erschoss, stoppte Himmler diese Exekutionen zunächst für einige Monate. Auch die Baugeschichte der Vernichtungslager ließ zu diesem Zeitpunkt noch keine Vorbereitungen für einen europaweiten Genozid erkennen: Die ersten beiden Vernichtungslager Chelmno und Belzec waren für regionale Massenmorde ausgelegt, und nichts deutete darauf hin, dass man sich in Auschwitz im Winter 1941/42 darauf vorbereitete, den Einsatz des Gases Zyklon B in wenigen Monaten auf Hunderttausende Juden auszudehnen. Ganz offensichtlich stellte sich die NS-Führung immer noch vor, die »Endlösung« werde im Wesentlichen nach Beendigung des Krieges stattfinden – im neu eroberten »Osten«.

BERLIN, 12. DEZEMBER 1941

Einen Tag nach der Kriegserklärung an die USA versammelt Hitler die Gau- und Reichsleiter der Partei in der Reichskanzlei. Goebbels hält in seinem Tagebuch fest:

  • Bezüglich der Judenfrage ist der Führer entschlossen, reinen Tisch zu machen. Er hat den Juden prophezeit, dass, wenn sie noch einmal einen Weltkrieg herbeiführen würden, sie dabei ihre Vernichtung erleben würden. Das ist keine Phrase gewesen.
  • Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muss die notwendige Folge sein. Diese Frage ist ohne jede Sentimentalität zu betrachten. Wir sind nicht dazu da, Mitleid mit den Juden, sondern nur Mitleid mit unserem deutschen Volk zu haben. Wenn das deutsche Volk jetzt wieder im Ostfeldzug an die 160 000 Tote geopfert hat, so werden die Urheber dieses blutigen Konflikts dafür mit ihrem Leben bezahlen müssen.

Die Rede ist eine Aufforderung an die Parteifunktionäre zu noch größerer Radikalität in der »Judenfrage«. Sechs Tage später meldet sich Himmler zum Vortrag bei Hitler, um sich rückzuversichern, dass seine SS auf dem richtigen Weg ist. Er notiert: »Judenfrage – als Partisanen auszurotten«. Hitler bestätigt ihm also, dass die seit Monaten im Gang befindliche Ausrottung der Juden in Osteuropa unter dem Deckmantel der Partisanenkriegführung fortzusetzen und zu intensivieren sei.

 

Im Januar und Februar 1942 meldete Hitler sich mit einer Reihe von öffentlichen Erklärungen zu Wort, in denen er wiederum auf seine Drohung vom 30. Januar 1939 zurückkam. Er verschärfte seine Rhetorik, indem er offen davon sprach, die Juden »auszurotten«.

BERLIN-WANNSEE, 20. JANUAR 1942

Der Chef der Sicherheitspolizei Heydrich empfängt die Staatssekretäre verschiedener Ministerien und eine Reihe von mit der »Endlösung« befassten SS-Funktionäre in einem Gästehaus der SS. Das »Protokoll« schrieb Heydrichs »Judenreferent« Adolf Eichmann nachträglich um. Die Tarnsprache des erhaltenen Textes muss also auf ihre authentische Bedeutung zurückgeführt werden.

 

»An Stelle der Auswanderung«, so wird Heydrich hier zitiert, sei »nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten«. Diese »Aktionen« – gemeint sind die bereits eingeleiteten Deportationen – seien »lediglich als Ausweichmöglichkeiten anzusprechen, doch werden hier bereits jene praktischen Erfahrungen gesammelt, die im Hinblick auf die kommende Endlösung der Judenfrage von wichtiger Bedeutung sind«.

 

Heydrich unterschied also zwei zeitliche Ebenen: die »kommende Endlösung« und die bereits begonnenen und in Kürze wieder aufzunehmenden »Ausweichmöglichkeiten«. Für die kommende »Endlösung«, so Heydrich weiter, kämen insgesamt über elf Millionen Juden in Betracht; nach der dem Protokoll beigefügten Statistik unter anderem auch diejenigen Englands, Irlands und Portugals. Durchzuführen war die »kommende Endlösung« demnach in vollem Umfang erst nach Kriegsende. Die »Ausweichmöglichkeiten« sollten jedoch wieder aufgenommen werden, sobald die militärische Lage es erlaubte.

 

In der Tarnsprache des Protokolls ist auch nachzulesen, wie Heydrich sich die »kommende Endlösung« vorstellte:

  • »In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden Straßen bauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird.« Der »allfällig endlich verbleibende Restbestand« werde, da »es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil« handele, »entsprechend behandelt werden müssen«, um zu verhindern, dass hieraus wiederum eine »Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues« entstünde. Zunächst sollten die Juden in »Durchgangsghettos« gebracht werden, um »von dort aus weiter nach dem Osten transportiert zu werden«.

Es spricht einiges dafür, dass Heydrich zu diesem Zeitpunkt immer noch an der Absicht zur Deportation in die besetzten sowjetischen Gebiete festhielt. Dort würde man die europäischen Juden durch eine Kombination von »Vernichtung durch Arbeit« und direkten Mordaktionen umbringen – ein Prozess, der aber erst nach dem »Endsieg« in vollem Umfang verwirklicht werden sollte.

 

Der Vertreter des Generalgouvernements, Staatssekretär Josef Bühler, wollte jedoch bei der Wannsee-Konferenz die schon seit langem immer wieder angekündigte Deportation der polnischen Juden nach Osten nicht mehr abwarten. Er schlug stattdessen vor, »mit der Endlösung dieser Frage im Generalgouvernement« zu beginnen, »weil einmal hier das Transportproblem keine übergeordnete Rolle spielt und arbeitseinsatzmäßige Gründe den Lauf dieser Aktion nicht behindern würden«. Zudem seien die insgesamt etwa 2,5 Millionen Juden, die »so schnell wie möglich« aus dem Generalgouvernement zu entfernen wären, ohnehin ganz überwiegend »arbeitsunfähig«.

 

Am Ende der Wannsee-Konferenz machten sich die Mordplaner auch Gedanken über die »verschiedenen Lösungsmöglichkeiten«, wobei sowohl Bühler als auch der Staatssekretär im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, Alfred Meyer, den Standpunkt vertraten, »gewisse vorbereitende Arbeiten im Zuge der Endlösung gleich in den betreffenden Gebieten selbst durchzuführen«.

 

Bühler und Meyer schlugen demnach nichts anderes vor, als die Juden in ihren Gebieten an Ort und Stelle zu ermorden, also ihr Schicksal von der durch Heydrich skizzierten »kommenden Endlösung« abzukoppeln. Über die entsprechenden »Lösungsmöglichkeiten« verfügte man ja bereits: Exekutionskommandos, Gaswagen und – mit dem im Bau befindlichen Belzec – über ein erstes Vernichtungslager.

 

Auf der Wannsee-Konferenz selbst wurden über diese Vorschläge offensichtlich noch keine Entscheidungen getroffen. Doch nach einigen Monaten verfuhr man so wie von Bühler und Meyer vorgeschlagen.

LUBLIN, 16. MÄRZ 1942

Mit der blutigen Liquidierung des Ghettos Lublin und dem Beginn der Todestransporte in das mittlerweile fertig gestellte Belzec beginnt die systematische Ermordung der Juden in den Distrikten Galizien und Lublin.

 

Wenige Tage nach Beginn der Deportationen hält Propagandaminister Goebbels in seinem Tagebuch fest, es werde »ein barbarisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt und von den Juden selbst bleibt nicht viel übrig«. Er notiert, dass »60 Prozent davon liquidiert werden müssen, während nur noch 40 Prozent in die Arbeit eingesetzt werden könnten«.

 

Parallel zur Ausdehnung der Morde auf die beiden Distrikte erweiterte das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) das Deportationsprogramm: Im Großdeutschen Reich organisierte es neue Massenverschleppungen – die »dritte Rate«, von der Heydrich bereits im November 1941 gegenüber Goebbels gesprochen hatte. Diese Transporte gingen in den Distrikt Lublin, ebenso zwischen März und Ende Mai insgesamt 28 Deportationszüge aus der Slowakei auf Grund einer Abmachung Himmlers mit der dortigen Regierung.

 

Was in Lublin geschah, schrieb Goebbels in seinem Tagebuch auf:

  • »Die in den Städten des Generalgouvernements frei werdenden Ghettos werden jetzt mit den aus dem Reich abgeschobenen Juden gefüllt, und hier soll sich dann nach einer gewissen Zeit der Prozess erneuern.«

Gleichzeitig begannen Ende März die Deportationen aus Frankreich nach Auschwitz. Zunächst auf Betreiben der Militärverwaltung als Geiselnahme für die Anschläge der französischen Widerstandsbewegung deklariert, waren diese Transporte im Juni bereits Teil eines ersten europäischen Deportationsprogramms des RSHA.

 

Bereits am 10. April 1942 hatte Heydrich dem slowakischen Ministerpräsidenten Vojtech Tuka auseinander gesetzt, es fände zurzeit eine »Aussiedlung« von insgesamt einer »halbe Million ,Juden‘ aus Europa nach Osten statt«; betroffen seien außer der Slowakei und dem Reich einschließlich des Protektorats Böhmen und Mähren noch die Niederlande, Belgien und Frankreich.

 

BERLIN, MÜNCHEN, PRAG, 25. APRIL BIS 2. MAI 1942

In acht Tagen trifft Himmler insgesamt siebenmal Heydrich in Berlin, München und Prag. Eingerahmt wird diese ungewöhnliche Besprechungsserie von zwei längeren Treffen Himmlers mit Hitler. Diese genaue Abfolge ergibt sich aus dem erst vor wenigen Jahren in Moskau aufgefundenen Dienstkalender Himmlers; was in diesen Treffen besprochen wurde, verrät der Kalender aber nicht. Die sich unmittelbar anschließenden Ereignisse deuten jedoch darauf hin, dass dabei die letzten Entscheidungen zur systematischen Ermordung der Juden Europas gefallen waren.

 

Seit Ende Mai dehnen SS und Zivilverwaltung die Massenmorde an den polnischen Juden auf das gesamte Generalgouvernement aus. Im Mai wird das Vernichtungslager Sobibór eröffnet, während Belzec wegen einer Vergrößerung der Mordkapazität vorübergehend schließen muss. Spätestens Anfang Juni beginnen die Arbeiten am dritten Vernichtungslager Treblinka, vorrangig eine Mordstätte für die Juden Warschaus. Im Mai setzt außerdem die systematische Deportation der oberschlesischen Juden nach Auschwitz ein.

 

Zur völligen Enthemmung der Täter dürfte das britisch gesteuerte Attentat auf Heydrich am 27. Mai 1942 beigetragen haben. Zwei Wochen später, im Anschluss an den Staatsakt für Heydrich, sagte Himmler in einer Rede vor höchsten SS-Führern:

  • »Die Völkerwanderung der Juden werden wir in einem Jahr bestimmt fertig haben. Dann wandert keiner mehr.«

Ebenfalls im Mai 1942 organisierte das RSHA eine vierte Deportationswelle aus dem Reich, Ziel Minsk. Nun wurden die verschleppten Menschen nicht mehr in das Ghetto gesperrt, sondern ganz überwiegend unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet. Die aus der Slowakei im Distrikt Lublin eintreffenden, nicht als »arbeitsfähig« geltenden Juden kamen seit Juni direkt in das Vernichtungslager Sobibór. Die Überlebenden unter den im Herbst zuvor nach Lodz verschleppten zentraleuropäischen Juden, insgesamt 11 000 Menschen, fanden zwischen dem 4. und 15. Mai in Chelmno den Tod.

 

Im Mai begann in den besetzten Teilen der Sowjetunion eine neue Mordwelle, die im Sommer in der fast totalen Vernichtung der jüdischen Zivilbevölkerung gipfelte. Am 28. Juli 1942 äußerte sich Himmler in einem Brief zu seinem Auftrag:

  • »Die besetzten Ostgebiete werden judenfrei. Die Durchführung dieses sehr schweren Befehls hat der Führer auf meine Schultern gelegt.«

Mitte Juli setzte das Deportationsprogramm aus Westeuropa in vollem Umfang ein. Diese Transporte gingen nach Auschwitz, wohin nun ebenfalls alle Züge aus der Slowakei sowie bald auch die ersten Transporte aus dem Reich rollten. In Auschwitz geschah nun nach der überhasteten Fertigstellung provisorischer Gaskammern in zwei Bauernhäusern das Gleiche, was im Mai in Minsk und im Juni in Sobibór begonnen hatte: Seit Anfang Juli ermordete die SS die Mehrzahl der Verschleppten unmittelbar nach deren Ankunft in den Gaskammern. Nur die »Arbeitsfähigen« wurden überhaupt in das Lager eingewiesen, um dort in der Regel nach kurzer Zeit an den katastrophalen Haftbedingungen zu sterben.

AUSCHWITZ, 17. JULI 1942

Himmler überzeugt sich persönlich davon, dass das Mordprogramm in großem Umfang angelaufen ist: In Birkenau schaut er sich den gesamten Prozess von der Selektion bis zur Ermordung in den Gaskammern an. Abends gibt er sich auf einer Gesellschaft des oberschlesischen Gauleiters Fritz Bracht entspannt und befriedigt. Gäste dieser Gesellschaft ziehen aus seinen Äußerungen die Schlussfolgerung, nun sei die Ermordung der europäischen Juden endgültig beschlossene Sache. Diese Information wird in die Schweiz geschmuggelt und erreicht im Telegramm des Vertreters des World Jewish Congress in Genf, Gerhart Riegner, die – ungläubige – westliche Welt.

 

Im Winter 1941/42 hatte die NS-Führung den zunächst erwogenen Plan einer groß angelegten Deportation der europäischen Juden in die besetzten sowjetischen Gebiete, wo sie mittel- oder langfristig zum Aussterben verurteilt gewesen wären, in ein konkretes Mordprogramm umgewandelt. Dies war das Ergebnis längerer Umdenkungsprozesse über das Wann, Wo und Wie der Endlösung: noch vor Ende des Kriegs; im besetzten Polen; durch Gas in besonderen Vernichtungslagern.

 

Die eine Führer-Entscheidung zur Ermordung der Juden Europas gab es nicht. Bereits mit dem Kriegsbeginn gingen die Nazis konzeptionell von der Verfolgung zur physischen Vernichtung der Juden über. Je weiter sie den Krieg ausdehnten, desto mehr radikalisierten sie ihre »Judenpolitik«. Für sie bildeten Krieg und Genozid eine Einheit.

Mit der genaueren Kenntnis der Abläufe und Zusammenhänge verändert sich auch das Bild vom Holocaust.

 

Ursprünglich stellte man sich im Nachkriegsdeutschland die Ermordung der Juden als einen industriellen Tötungsprozess vor, die Entscheidungen als Verwaltungsakte, die Täter als Schreibtischmörder. Der Genozid erschien entweder vollkommen unerklärlich, oder aber es wurden Erklärungen angeboten, die heute als unzureichend erscheinen: der pathologisch antisemitische Wahn Hitlers oder die Eigendynamik des Antisemitismus, der zu eigenmächtigen Aktionen von untergeordneten Dienststellen geführt haben sollte.

 

Tatsächlich bestand der Holocaust aus einer nahezu ganz Europa umfassenden, über Jahre anhaltenden Serie von Massakern, von unvorstellbaren Grausamkeiten und Leid, verübt von Hunderttausenden – teilweise hoch motivierten – Tätern und Helfern und beobachtet von einer noch weitaus größeren Anzahl Augenzeugen.

 

Ein solches gigantisches Verbrechen war nur möglich, weil erhebliche Teile der deutschen Eliten in die mörderische Politik einbezogen waren und sie in nicht geringer Zahl guthießen. Experten verschiedenster Sparten lieferten die unterschiedlichsten »fachlichen« Argumente, um zu begründen, warum die Juden aus ihrem Gesichtskreis verschwinden müssten: Demografen und Wirtschaftsplaner, Umsiedlungsfachleute, Raumplaner und Militärs, Beamte in der Wohnungsverwaltung und bei den Ernährungsbehörden, dazu die in der Seuchenbekämpfung eingesetzten Mediziner und in der »Ostforschung« tätige Historiker.

 

Die »Entfernung« der Juden war von Anfang an ein Kernanliegen nationalsozialistischer Politik. Da sich die wirre Utopie einer rassisch homogenen »Volkgemeinschaft«, die als »Herrenvolk« den europäischen Kontinent dominieren sollte, nicht verwirklichen ließ, versuchten die Nazis ihre Ziele auf negative Weise zu erreichen: durch Ausgrenzung, Vertreibung und schließlich durch Massenmord.

 

»Meine Herren, ich muss Sie bitten, sich gegen alle Mitleidserwägungen zu wappnen. Wir müssen die Juden vernichten, wo immer wir sie treffen.« Generalgouverneur Hans Frank in Krakau am 16. Dezember 1941

»Das jüdisch-bolschewistische System muss ein für alle Mal ausgerottet werden. Nie wieder darf es in unseren europäischen Lebensraum eingreifen.« General Erich von Manstein in einem Truppenbefehl 1941

 

PETER LONGERICH ist Professor für Moderne Deutsche Geschichte am Royal Holloway College der Universität London. Historiker Longerich, 46, veröffentlichte insbesondere Arbeiten über die Weimarer Republik, den NS-Staat und Zusammenhänge des Holocaust. Im Piper-Verlag ist sein Buch »Politik der Vernichtung« erschienen.

 

* Auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden im März 1944.* Mit Ausschnitten aus einer Reichstagsrede Hitlers vom April1942.* Mitte: Am 11. November 1939 in Ostrów Mazowiecka; rechts:Häftlinge beim Bau einer Krupp-Werkhalle 1943.