Medizinische Publikationen: Viel heiße Luft

Fehlerhafte Studien und die Beeinflussung der Forschung durch Sponsoren gefährden die wissenschaftliche Aussagekraft und die Basis für Diagnostik und Therapie.

Die Publikationsflut im medizinischen Bereich hat ungeahnte Ausmaße angenommen: Weltweit werden täglich etwa 6 000 medizinische Artikel veröffentlicht. In der Datenbank von Medline, in der bei weitem nicht alle Journale verzeichnet sind, können 22 400 Zeitschriften abgerufen werden.

 

Zwar ist in den Lebenswissenschaften ein starker Wissenszuwachs zu verzeichnen, der aber nicht so viele Veröffentlichungen rechtfertigt. Douglas Altman vom ICRF/NHS Centre for Statistics in Medicine in Oxford machte auf dem vierten Congress on Peer Review in Biomedical Publication in Barcelona das akademische Bewertungssystem für die Vielzahl von Veröffentlichungen verantwortlich: publish or perish.

 

Aus Karrieregründen werde zu viel und oft wissenschaftlich Nutzloses publiziert. Altman vertritt die Auffassung, dass die Ärzte für die Forschung nicht gut gerüstet sind. So werde beispielsweise die mathematische Analyse zwar oft als wichtig angesehen, aber „die Statistik wird von Leuten ausgeführt, die kein angemessenes Verstehen und Wissen aufweisen“.


Das Gleiche gelte für das Begutachtungsverfahren, in dem die statistische Auswertung häufig ebenfalls nicht nachgeprüft werde. Mithin stellt offenbar auch das Review-Verfahren hierfür kein Korrektiv dar, und Altman folgert aus der Sicht des Statistikers, dass Peer Review schwierig und nur teilweise erfolgreich sei.

 

Zur retrospektiven Überprüfung solle die Veröffentlichung der Rohdaten obligatorisch sein. Die von vielen Zeitschriften festgelegten Fristen für die Einsendung von Diskussionsbemerkungen erlauben nur eine Stellungnahme innerhalb weniger Wochen. Dies entmutige die Leser, die publizierte Arbeit in Diskussionsbeiträgen zu kommentieren.


Um Missstände dieser Art zu beheben, schlägt Altman vor, die Qualität der Forschung strenger zu beurteilen. Ferner solle man sich gegen ein Bewertungssystem wenden, das die Fähigkeit eines Forschers ausschließlich an der Länge der Publikationsliste beurteile. Dies forderte Altman bereits 1994 in einem Beitrag des British Medical Journal (BMJ) (6). Den Autoren solle vielmehr das Publizieren erleichtert werden, indem das Procedere der Zeitschriften harmonisiert und beispielsweise „kleinkarierte Auflagen“ vermieden sowie die Ressourcen des Internets genutzt werden.

Begutachtungsverfahren

Das Begutachtungsverfahren von wissenschaftlichen Manuskripten, das Peer-Review-Verfahren, ist immer wieder infrage gestellt worden, ohne dass allerdings bessere Alternativen präsentiert wurden. Tom Jefferson vom Cochrane Centre in Oxford hat die Auswirkungen des Begutachtungsverfahrens auf verschiedene Parameter wie Wichtigkeit, Nützlichkeit, Genauigkeit und methodologische Schlüssigkeit hin untersucht.

 

Man könne nicht behaupten, so Jefferson in Barcelona, dass das Peer Review eine wissenschaftliche oder evidenzbasierte Methode sei, weil es keine diesbezüglichen Analysen gäbe. Jefferson folgert, dass „es nur geringe und verstreut vorkommende Beweise gibt, die zeigen, dass Peer Review die Qualität von biomedizinischer Forschung sicherstellt“.


In den meisten Fällen erfährt beim Peer Review ein anonym bleibender Gutachter die Identität des Autors, der das Manuskript einreicht. Über das Für und Wider wird seit Jahren gestritten. Richard Smith ist in einem Editorial im BMJ der Meinung, dass dieses Evaluationsverfahren langsam, teuer, sehr subjektiv, anfällig für systematische Verzerrungen (Bias), einfach zu missbrauchen und unbrauchbar sei, grobe Fehler zu erkennen, und meist Betrug nicht nachweisen könne (7).

 

Smith bezieht sich hierbei auf Erkenntnisse der drei vorherigen Peer-Review-Kongresse und auf Beobachtungen des ehemaligen Chefredakteurs des BMJ, Stephen Lock (1, 2, 3, 4). Untersuchungen konnten keinen Unterschied zwischen einem verblindeten Peer Review, wo das anonymisierte Manuskript begutachtet wird, und einer herkömmlichen Beurteilung feststellen.

 

Im zweiten Fall sind dem Reviewer die Autoren bekannt, er aber bleibt anonym. Die Entscheidung des BMJ, so Smith, seit 1999 ein offenes Peer Review durchzuführen, bei dem Gutachter und Begutachtete bekannt seien, basiert auf ethischen Gesichtspunkten. Dieses Verfahren werde allgemein akzeptiert, betont Fiona Godlee von BioMed Central, London. Besonders die Autoren begrüßen die Neuerung, und es bestehe die Möglichkeit, dass Interessenkonflikte des Gutachters erkannt werden.


Während der Leser in Originalpublikationen die Ergebnisse zumindest teilweise selbst beurteilen kann und nicht nur auf die Interpretation durch die Verfasser angewiesen ist, ist dies bei Übersichtsarbeiten, in denen der Wissensstand zusammengefasst ist, und bei Editorials nicht möglich: Der Leser kann das glauben oder nicht.

 

So sollten nach Auffassung von Shea et al. die Suchstrategie zur Ermittlung der relevanten Literatur, die Auswahlkriterien sowie die Methode, nach der die ausgewählten Daten in Reviews zusammengefasst werden, angegeben werden (Proceedings of the VII Cochrane Colloquium 1999).

 

Alejandro Jadad und Mitarbeiter haben 50 systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen zum Thema Asthmabehandlung evaluiert (5). Zwölf Arbeiten stammten von der Cochrane Library, und 38 wurden in Peer-Review-Zeitschriften veröffentlicht. 40 Arbeiten wiesen „ernste oder verbreitete Fehler“ auf, darunter sämtliche sechs Arbeiten die industrielle Verbindung hatten. Von den zehn solidesten Arbeiten stammten sieben aus der Cochrane Library.

Autorenschaft aus Gefälligkeit

Graham Mowatt von der Universität von Aberdeen, Schottland, untersuchte bei Cochrane Reviews, welchen Anteil die Autoren an der Erarbeitung des Manuskripts hatten. Mithilfe eines im Internet abrufbaren Fragebogens wurden die Autoren von 577 Reviews aufgefordert, darzustellen, welchen Beitrag jeder Autor geleistet hat.

 

Die Auswertung zeige, so Mowatt, dass in 48 Prozent der Übersichtsarbeiten Autoren aufgeführt seien, die, nach den Kriterien des International Committee of Medical Journal Editors, keinen Beitrag geleistet haben, der sie dafür qualifiziere. Richard Smith schätzt, dass „ein Drittel der Autoren von Originalbeiträgen keine ordentlichen Autoren sind“. Durch diese Art von „Gefälligkeitsautorenschaft“ nach dem Motto: „eine Hand wäscht die andere“ wird die Publikationsliste ebenfalls verlängert.


Die Zeiten, in denen unabhängige Wissenschaftler die Schlüsselfiguren bei Design, Durchführung und Evaluation von Studien waren, könnten, nach Auffassung der Chefredakteure vieler maßgeblicher medizinischer Zeitschriften, bald vergangen sein. Wie aus einer Erklärung hervorgeht, die gleichzeitig in mehreren Journalen veröffentlicht wurde, sehen die Autoren den Hauptgrund für die zunehmende Abhängigkeit im wachsenden ökonomischen Druck.

 

So werden in den USA circa 500 Millionen $ veranschlagt, um ein neues Medikament auf den Markt zu bringen. Um die notwendigen Studien durchzuführen, konkurrieren in den USA private Forschungsinstitute, die mittlerweile 60 Prozent der industriellen Forschungsgelder erhalten, mit akademischen Einrichtungen, die noch einen Anteil von 40 Prozent halten.

 

Diese Situation erlaube es den industriellen Auftraggebern, das Studiendesign, den Zugriff auf die Rohdaten und die Interpretation der Ergebnisse zu bestimmen – in einer Weise, die nicht immer den Interessen der Forscher, der Studienteilnehmer oder dem wissenschaftlichen Fortschritt diene.

 

Ferner seien einige Fälle bekannt geworden, in denen die Studienergebnisse nicht den Erwartungen der Sponsoren entsprochen hätten und deshalb nicht veröffentlicht werden durften. Nancy Olivieri vom Hospital for Sick Children in Toronto hatte sich über solche Bedenken offenbar hinweggesetzt.

 

Im August 1998 veröffentlichte ihre Arbeitsgruppe im New England Journal of Medicine, dass der in der Studie untersuchte Chelatbildner Deferiprone zur Therapie der Thalassaemia major die Eisenkonzentration nicht adäquat kontrollieren könne. Darüber hinaus wurden bei einigen Patienten Leberschäden festgestellt (N Engl J Med 1998; 339: 417–423). Apotex, der in Kanada ansässige Hersteller von Deferiprone, geht seitdem gerichtlich gegen die Autoren vor.

Autorenrichtlinien präzisieren

Um der wachsenden Abhängigkeit und möglichen Zensur der Sponsoren entgegenzutreten, verlangen die Annals of Internal Medicine, BMJ, JAMA, Lancet, New England Journal of Medicine und einige andere Zeitschriften von den Autoren eine detaillierte Erklärung. Darin müssen diese bestätigen, dass sie die Verantwortung für die Durchführung der Studie übernehmen, Zugang zu allen Daten besaßen und unabhängig entschieden, ob die Arbeit publiziert wird.

 

Obwohl eine derartige Einflussnahme meistens von Sponsoren aus der Pharmaindustrie zu erwarten sei, müsse, so das Autorenkollektiv, auch bei öffentlichen Geldgebern mit Zensur gerechnet werden, wenn beispielsweise die Studie zu Ergebnissen führt, die im Gegensatz zu aktuellen Behandlungsstandards stehe.


Als Konsequenz aus dieser Entwicklung werden die Richtlinien der Uniform Requirements for Manuscripts Submitted to Biomedical Publications überarbeitet. Diese wurden ursprünglich von der Vancouver-Gruppe im Jahr 1979 formuliert, um einen international etablierten formalen Standard von wissenschaftlichen Manuskripten zu erzielen. Ausgehend von der Vancouver-Gruppe hat sich das International Committee of Medical Journal Editors gebildet, welches die Richtlinien aktualisiert hat (Textkasten).

Dr. Stephan Mertens