Der faule Kontrolleur

Ich verbringe jedes Jahr einige Monate in Berkeley, und eine meiner größten Freuden dort ist ein täglicher Spaziergang über sechseinhalb Kilometer auf einem ausgewiesenen Weg in den Hügeln, mit einem großartigen Blick auf die Bucht von San Francisco. Ich achte normalerweise auf meine Zeit, und das hat mich eine Menge über Anstrengung gelehrt. Ich habe eine für mich angenehme Geschwindigkeit gefunden, etwa 17 Minuten für etwa eineinhalb Kilometer, was ich als gemütliches Gehtempo erlebe. Ich strenge mich körperlich an und verbrenne bei dieser Geschwindigkeit gewiss mehr Kalorien, als wenn ich in einem Lehnstuhl sitzen würde, aber ich erlebe keinen Druck, keinen Konflikt und auch nicht das Bedürfnis, mich selbst anzutreiben. Wenn ich in diesem Tempo gehe, kann ich nachdenken und arbeiten. Tatsächlich vermute ich, dass die leichte körperliche Aktivierung durch den Spaziergang zu einer größeren geistigen Agilität führt.System 2 hat ebenfalls eine natürliche Geschwindigkeit. Man wendet ein wenig mentale Energie für zufällige Gedanken auf und dafür, zu erfassen, was um einen herum vor sich geht, auch wenn man geistig nicht auf eine bestimmte Aufgabe konzentriert ist, aber die Beanspruchung ist gering. Sofern man sich nicht in einer Situation befindet, die einen ungewöhnlich wachsam oder verlegen macht, muss man sich nicht besonders anstrengen, um zu erfassen, was in der Umgebung oder im Kopf geschieht. Man trifft viele kleine Entscheidungen, wenn man Auto fährt, beim Lesen der Zeitung Informationen aufnimmt und mit einem Partner oder Kollegen Artigkeiten austauscht – dies alles mit geringer Anstrengung und ohne Druck. Wie bei einem Spaziergang.

 

Es ist normalerweise leicht und sogar recht angenehm, spazieren zu gehen und gleichzeitig nachzudenken, aber im Extremfall scheinen diese Aktivitäten um die begrenzten Ressourcen von System 2 zu konkurrieren. Sie können diese Behauptung durch ein einfaches Experiment selbst überprüfen. Während Sie in gemütlichem Tempo mit einem Freund spazieren gehen, bitten Sie ihn, 23 × 78 im Kopf zu berechnen, und zwar sofort. Er wird höchstwahrscheinlich unvermittelt stehen bleiben. Bei mir ist es so, dass ich beim Spazieren zwar nachdenken, aber keine mentale Arbeit verrichten kann, die das Kurzzeitgedächtnis stark beansprucht. Wenn ich eine komplizierte Beweisführung unter Zeitdruck entwickeln muss, würde ich mich lieber nicht bewegen, und ich würde lieber sitzen als stehen. Natürlich erfordert nicht jedes langsame Denken diese Form von intensiver Konzentration und anstrengender Berechnung – die besten Einfälle meines Lebens hatte ich auf gemütlichen Spaziergängen mit Amos. Wenn ich nicht mehr schlendere, sondern einen Schritt zulege, verändert dies völlig mein Erleben des Spazierens, weil der Wechsel in eine schnellere Gangart zu einer deutlichen Verschlechterung meiner Fähigkeit führt, zusammenhängend zu denken. Wenn ich beschleunige, richtet sich meine Aufmerksamkeit immer häufiger auf die Erfahrung des Gehens und auf die absichtliche Aufrechterhaltung eines höheren Tempos. Meine Fähigkeit, einen Gedankengang zu einem Abschluss zu bringen, ist entsprechend beeinträchtigt. Bei der höchsten Geschwindigkeit, die ich in dem hügeligen Gelände durchhalten kann, etwa 14 Minuten für 1,6 Kilometer, versuche ich erst gar nicht, an etwas anderes zu denken. Zusätzlich zu der physischen Anstrengung, die damit verbunden ist, meinen Körper zügig fortzubewegen, ist eine mentale Anstrengung der Selbstkontrolle erforderlich, um dem Impuls zu widerstehen, langsamer zu gehen. Selbstkontrolle und bewusstes Denken schöpfen anscheinend aus dem gleichen begrenzten Budget mentaler Arbeitskraft.


Die Aufrechterhaltung einer zusammenhängenden Gedankenführung und gelegentliches anstrengendes Nachdenken verlangen von den meisten von uns in aller Regel ebenfalls Selbstkontrolle. Obgleich ich keine systematische Studie durchgeführt habe, vermute ich, dass häufiger Aufgabenwechsel und beschleunigte mentale Arbeit nicht per se angenehm sind und dass Menschen sie, wenn möglich, vermeiden. So wird das Gesetz der geringsten Anstrengung zu einem Gesetz. Selbst bei fehlendem Zeitdruck erfordert die Aufrechterhaltung einer kohärenten Gedankenführung Disziplin. Jemand, der mir dabei zusähe, wie oft ich während einer Stunde, in der ich schreibe, in meinem E-Mail-Account nachsehe oder den Kühlschrank inspiziere, könnte zu dem nachvollziehbaren Schluss gelangen, dass ich mich gern ablenke und dass es mehr Selbstkontrolle von mir
verlangt, als ich problemlos aufbringen kann, diesem Impuls zu widerstehen.

Glücklicherweise löst kognitive Arbeit nicht immer die Tendenz aus, ihr auszuweichen, und manchmal strengen sich Menschen über längere Zeiträume intensiv an, ohne dafür Willenskraft aufwenden zu müssen.

 

Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi (ausgesprochen wie »Six-Cent-Mihaly«) hat mehr als jeder andere getan, um diesen Zustand der mühelosen geistigen Versenkung zu erforschen, und der Name, den er dafür vorschlug, »Flow«, hat sogar Eingang in die Alltagssprache gefunden. Menschen, die einen Flow erleben, beschreiben diesen als »einen Zustand der mühelosen Konzentration, der so tief ist, dass sie ihr Gefühl für die Zeit, für sich selbst und für ihre Probleme verlieren«, und ihre Beschreibungen der Freude, die sie in diesem Zustand empfinden, sind so bezwingend, dass Csikszentmihalyi den Flow als eine »optimale Erfahrung« bezeichnet hat. Viele Aktivitäten können ein Gefühl des Flows auslösen, angefangen vom Malen bis zur Teilnahme an Motorradrennen – und für einige glückliche Autoren, die ich kenne, ist selbst das Schreiben eines Buches oftmals eine optimale Erfahrung. Flow trennt fein säuberlich zwischen den beiden Formen der mentalen Anstrengung: Konzentration auf einen Aufgabe und bewusste Aufmerksamkeitssteuerung. Ein Motorrad mit 240 Stundenkilometern fahren und an einer Schachmeisterschaft teilnehmen sind zweifellos mental sehr anstrengende Tätigkeiten. In einem Flow-Zustand jedoch erfordert die Aufrechterhaltung der auf diese absorbierenden Aktivitäten fokussierten Auf-
merksamkeit keinen Akt der Selbstkontrolle, wodurch Ressourcen freigesetzt werden, die für die anstehende Aufgabe verwendet werden können.

Das ausgelastete und erschöpfte System

Es ist heute gängige Lehrmeinung, dass sowohl Selbstkontrolle als auch kognitive Anstrengung Formen mentaler Arbeit sind. Etliche psychologische Studien haben gezeigt, dass Menschen, die gleichzeitig mit einer anspruchsvollen kognitiven Aufgabe und mit einer Versuchung konfrontiert sind, eher der Versuchung nachgeben. Stellen Sie sich vor, Sie sollen sich eine Liste mit sieben Ziffern eine oder zwei Minuten lang einprägen. Man sagt Ihnen, das Einprägen der Ziffern habe für Sie oberste Priorität. Während Ihre Aufmerksamkeit auf die Ziffern gerichtet ist, werden Ihnen zwei Nachspeisen angeboten: ein sündhafter Schokoladenkuchen und ein tugendsamer Obstsalat. Die empirischen Befunde sprechen dafür, dass Sie eher den verlockenden Schokoladenkuchen auswählen werden, wenn Ihr Gehirn mit Ziffern beschäftigt ist. System 1 hat mehr Einfluss auf das Verhalten, wenn System 2 beschäftigt ist, und es hat eine Schwäche für Süßes.

 

Menschen, die kognitiv ausgelastet sind, treffen auch eher egoistische Entscheidungen, verwenden sexistische Ausdrücke und fällen in sozialen Situationen oberflächliche Urteile. Das Auswendiglernen und Aufsagen von Ziffern lockert die Kontrolle von System 2 über das Verhalten, aber natürlich ist die kognitive Belastung nicht der einzige Grund für eine geschwächte Selbstkontrolle. Ein paar Drinks haben die gleiche Wirkung, ebenso eine schlaflose Nacht. Die Selbstkontrolle von Morgenmenschen ist nachts beeinträchtigt; das Umgekehrte gilt für Nachtmenschen. Wenn man sich allzu viele Gedanken darüber macht, wie gut man eine Aufgabe erledigt, beeinträchtigt dies manchmal die Leistungsfähigkeit, weil das Kurzzeitgedächtnis von sinnlosen und sorgenvollen Gedanken überflutet wird. Die Schlussfolgerung ist einfach: Selbstkontrolle erfordert Aufmerksamkeit und Anstrengung. Man kann es auch anders formulieren: Gedanken und Verhaltensweisen zu kontrollieren ist eine der Aufgaben, die System 2 ausführt.


Der Psychologe Roy Baumeister und seine Kollegen haben in einer Reihe überraschender Experimente den schlüssigen Nachweis erbracht, dass alle Spielarten willentlicher Anstrengung – kognitive, emotionale oder physische – zumindest teilweise aus einem gemeinsamen Pool mentaler Energie schöpfen. Bei ihren Experimenten haben sie sukzessive und keine simultanen Aufgaben verwendet.

 

Baumeisters Gruppe hat wiederholt festgestellt, dass Willensanstrengung oder Selbstkontrolle ermüdend ist; wenn man sich zu einer Handlung zwingen muss, ist man weniger gewillt oder imstande, Selbstkontrolle auszuüben, wenn sich die nächste Herausforderung stellt. Das Phänomen wird »Ego-Depletion« (»Selbsterschöpfung«) genannt. In einem typischen Experiment schneiden Versuchspersonen, die aufgefordert werden, ihre emotionale Reaktion auf einen emotional aufgeladenen Film zu unterdrücken, später bei einem Test ihrer körperlichen Ausdauer – wie lange können sie trotz wachsenden Unbehagens einen Kraftmesser fest im Griff behalten – schlecht ab. Die emotionale Anstrengung in der ersten Phase des Experiments verringert die Fähigkeit, die Schmerzen anhaltender Muskelkontraktion zu ertragen, und aus diesem Grund erliegen »selbsterschöpfte« Menschen eher dem Impuls, aufzugeben. In einem anderen Experiment wird die selbstregulatorische Energie der Versuchspersonen zunächst durch eine Aufgabe erschöpft, bei der sie tugendhafte Nahrungsmittel wie Rettich und Sellerie verspeisen, während sie der Versuchung widerstehen, sich an Schokolade und fettreichen Keksen gütlich zu tun. Später werden diese Personen dann bei einer schwierigen kognitiven Aufgabe eher als üblich aufgeben. Die Liste der Situationen und Aufgaben, die bekanntermaßen die Selbstkontrolle erschöpfen, ist lang und vielfältig. Bei allen geht es um Konflikte und die Notwendigkeit, eine natürliche Neigung zu unterdrücken. Dazu gehören:

  • Nicht an weiße Bären denken
  • Die emotionale Reaktion auf einen aufwühlenden Film hemmen
  • Eine Reihe von konfliktbeladenen Entscheidungen treffen
  • Andere beeindrucken wollen
  • Freundlich auf das schlechte Verhalten eines Partners reagieren
  • Mit einem Menschen anderer Hautfarbe in Austausch treten (für voreingenommene Personen)

Die Liste der Hinweise auf erschöpfte Selbstkontrolle ist ebenfalls höchst unterschiedlich:

  • Von seiner Ernährung abweichen
  • Zu viel Geld für Impulskäufe ausgeben
  • Aggressiv auf Provokation reagieren
  • Bei einer Kraftmesser-Aufgabe weniger lange durchhalten
  • Bei Denkaufgaben und logischer Entscheidungsfindung schlecht abschneiden

Die Datenlage ist eindeutig: Aktivitäten, die hohe Anforderungen an System 2 stellen, erfordern Selbstkontrolle, und die Ausübung von Selbstkontrolle ist erschöpfend und unangenehm. Im Unterschied zur kognitiven Belastung ist die Ego-Depletion zumindest teilweise ein Motivationsverlust. Nach der Ausübung von Selbstkontrolle bei einer Aufgabe sind Sie nicht dazu aufgelegt, sich bei einer weiteren erneut anzustrengen, obwohl Sie das tun könnten, wenn Sie es wirklich müssten. Bei mehreren Experimenten konnten die Probanden den Wirkungen einer Ego-Depletion widerstehen, wenn sie einen starken Anreiz dazu erhielten.6 Dagegen ist vermehrte Anstrengung keine Option, wenn Sie sechs Ziffern im Kurzzeitgedächtnis halten müssen, während Sie eine Aufgabe erledigen. Ego-Depletion ist nicht der gleiche mentale Zustand wie kognitive Auslastung.

 

Die überraschendste Entdeckung, die Baumeisters Gruppe machte, zeigt, wie er es formuliert, dass die Idee einer mentalen Energie mehr als nur eine Metapher ist. Das Nervensystem verbraucht mehr Glukose als die meisten anderen Körperteile, und anstrengende mentale Aktivität scheint in der Glukose-Währung besonders teuer zu sein. Wenn Sie intensiv über ein schwieriges Problem nachdenken oder eine Aufgabe ausführen, die Selbstkontrolle erfordert, sinkt Ihr Blutzuckerwert. Der Effekt ist ganz ähnlich wie bei einem Läufer, der beim Sprint die in seinen Muskeln gespeicherte Glukose aufbraucht. Daraus lässt sich die gewagte Schlussfolgerung ableiten, dass die Effekte der EgoDepletion durch die Aufnahme von Glukose rückgängig gemacht werden könnten, und Baumeister und seine Kollegen haben diese Hypothese in mehreren Experimenten bestätigt.

 

Freiwillige in einer ihrer Studien sahen sich einen kurzen Stummfilm über eine Frau an, die interviewt wurde, und sie wurden gebeten, ihre Körpersprache zu interpretieren. Während sie die Aufgabe ausführten, wanderte eine Reihe von Wörtern in langsamer Folge über den Bildschirm. Die Teilnehmer wurden ausdrücklich angewiesen, die Wörter zu ignorieren, und sobald sie bemerkten, dass ihre Aufmerksamkeit abgelenkt wurde, sollten sie sich wieder auf das Verhalten der Frau konzentrieren. Man wusste, dass dieser Akt der Selbstkontrolle eine Ego-Depletion auslöst. Alle Freiwilligen tranken ein bisschen Limonade, bevor sie sich der zweiten Aufgabe zuwandten. Die Hälfte von ihnen trank mit Glukose gesüßte, die andere Hälfte mit Süßstoff versetzte Limonade. Anschließend bekamen alle Teilnehmer eine Aufgabe, bei der sie eine intuitive Reaktion überwinden mussten, um die richtige Antwort zu finden. Menschen mit erschöpfter Selbstregulation unterlaufen normalerweise viel mehr intuitive Fehler als nicht erschöpften Menschen, und diejenigen, die die mit Süßstoff versetzte Limonade tranken, zeigten den erwarteten Erschöpfungseffekt. Bei den Glukosetrinkern dagegen war die Selbstregulation nicht erschöpft. Die Wiederherstellung des üblichen Blutzuckerspiegels im Gehirn hatte verhindert, dass sich die Leistungsfähigkeit verschlechterte. Es bedarf umfassender weiterer Forschungsarbeiten, um zu klären, ob die Aufgaben, die eine Glukose-Erschöpfung verursachen, auch das vorübergehende arousal verursachen, das sich in der Zunahme der Pupillenweite und des Herzschlags widerspiegelt. Über eine verstörende Demonstration von Auswirkungen der Ego-Depletion auf Urteile wurde unlängst in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences berichtet.

 

Die ahnungslosen Studienteilnehmer waren acht Bewährungsrichter in Israel. Sie verbrachten ganze Tage damit, Anträge auf bedingte Entlassung zu prüfen. Die Fälle wurden ihnen in zufälliger Reihenfolge vorgelegt, und die Richter verwendeten auf jeden einzelnen nur wenig Zeit, im Schnitt sechs Minuten. (Die Standardentscheidung ist die Ablehnung des Antrags auf bedingte Entlassung; nur 35 Prozent der Gesuche wurden positiv entschieden. Die genaue Zeit der Beschlussfassung wurde aufgezeichnet, und die Zeiten der drei Essenspausen der Richter – morgens, mittags und nachmittags – wurden ebenfalls notiert.) Die Autoren der Studie trugen in einem Diagramm den Prozentsatz der bewilligten Anträge gegen die seit der letzten Essenspause vergangene Zeit auf. Der Prozentsatz gipfelte nach jedem Essen, wenn etwa 65 Prozent der Anträge bewilligt wurden. Im Verlauf der nächsten zwei Stunden, bis zur nächsten Speisung der Richter, sank die Bewilligungsquote stetig, auf etwa null unmittelbar vor dem nächsten Mahl. Sie ahnen vielleicht, dass dies ein unerwünschtes Ergebnis ist, und die Autoren überprüften sorgfältig viele alternative Erklärungen. Die bestmögliche Erklärung der Daten hält schlechte Neuigkeiten für uns bereit: Erschöpfte und hungrige Richter scheinen auf die leichtere Standardposition der Ablehnung von Bewährungsgesuchen zurückzufallen. Vermutlich spielen dabei sowohl Erschöpfung als auch Hunger eine Rolle.

Das faule System

Eine der Hauptfunktionen von System 2 besteht darin, von System 1 »vorgeschlagene« Gedanken und Handlungen zu überwachen und zu kontrollieren; einigen davon erlaubt es, sich direkt im Verhalten auszudrücken, während es andere unterdrückt oder modifiziert.


Nehmen wir folgende einfache Denkaufgabe. Versuchen Sie nicht, sie zu lösen, sondern vertrauen Sie Ihrer Intuition:

  • Ein Schläger und ein Ball kosten , Dollar.
  • Der Schläger kostet einen Dollar mehr als der Ball.
  • Wie viel kostet der Ball?

Ihnen fällt eine Zahl ein. Die Zahl ist selbstverständlich 10, nämlich 10 Cent. Die charakteristische Besonderheit dieser leichten Denkaufgabe besteht darin, dass sie eine Antwort nahelegt, die intuitiv verlockend und falsch ist. Berechnen Sie es, und Sie werden es sehen. Wenn der Ball 10 Cent kostet, dann betragen die Gesamtkosten 1,20 Dollar (10 Cent für den Ball und 1,10 Dollar für den Schläger), nicht 1,10 Dollar. Die richtige Antwort lautet 5 Cent.

 

Mit Sicherheit fiel die intuitive Antwort auch denjenigen ein, die schließlich auf die richtige Zahl kamen – es gelang ihnen irgendwie, sich der Intuition zu wider-setzen.

 

Shane Frederick und ich arbeiteten gemeinsam an einer Urteilstheorie auf der Basis zweier Systeme, und er benutzte die Schläger-und-Ball-Aufgabe, um eine zentrale Frage zu erkunden: Wie intensiv überwacht System 2 die Vorschläge von System 1? Dabei ging er davon aus, dass wir eine wichtige Tatsache über jeden wissen, der sagt, der Ball koste 10 Cent: Diese Person hat nicht aktiv die Richtigkeit der Antwort überprüft, und ihr System 2 unterstützte eine intuitive Lösung, die es mit einer geringfügigen Anstrengung hätte verwerfen können. Außerdem wissen wir, dass diejenigen, die die intuitive Antwort gegeben haben, einen offensichtlichen sozialen Hinweisreiz übersahen; sie hätten sich fragen müssen, wieso jemand eine Denkaufgabe mit einer so leichten Antwort in einen Fragebogen aufnehmen würde. Es ist bemerkenswert, wenn die intuitive Antwort nicht überprüft wird, weil die Kosten des Überprüfens so gering sind: Einige wenige Sekunden mentaler Arbeit (das Problem ist mittelschwer) mit leicht angespannten Muskeln und vergrößerten Pupillen könnten einen peinlichen Fehler vermeiden. Menschen, die 10 Cent sagen, scheinen glühende Anhänger des Gesetzes des geringsten Aufwands zu sein. Personen, die diese Antwort vermeiden, scheinen einen aktiveren Intellekt zu besitzen.

 

Viele Tausend Studenten haben die Schläger-und-Ball-Denkaufgabe beantwortet, und die Ergebnisse sind erschreckend. Über 50 Prozent der Studenten an den Universitäten Harvard, MIT und Princeton gaben die intuitive – falsche – Antwort. Bei Universitäten mit weniger strenger Auslese lag die Rate derjenigen, die nachweislich die intuitive Antwort nicht überprüften, bei über 80 Prozent. Das Schläger-Ball-Problem ist unsere erste Begegnung mit einer Beobachtung, die sich wie ein roter Faden durch dieses Buch zieht: Viele Menschen vertrauen ihren Intuitionen allzu sehr. Offensichtlich erleben sie kognitive Anstrengung zumindest als leicht unangenehm und meiden sie möglichst. Nun werde ich Ihnen ein logisches Argument vorstellen – zwei Prämissen und eine Schlussfolgerung. Versuchen Sie, so schnell wie möglich herauszufinden, ob das Argument gültig ist. Folgt die Schlussfolgerung aus den Prämissen?

  • Alle Rosen sind Blumen.
  • Einige Blumen verwelken schnell.
  • Deshalb verwelken einige Rosen schnell.

Eine große Mehrheit der College-Studenten stuft diesen Syllogismus als gültig ein. Tatsächlich ist das Argument nicht stichhaltig, weil es möglich ist, dass unter den rasch verwelkenden Blumen keine Rosen sind. Wie bei dem Schläger-und-Ball-Problem fällt einem sofort eine plausible Antwort ein. Es bedarf harter Arbeit, sich über sie hinwegzusetzen – die hartnäckige Vorstellung »Es ist wahr! Es ist wahr!« macht es schwer, die Logik zu überprüfen, und die meisten Menschen machen sich nicht die Mühe, das Problem zu durchdenken. Dieses Experiment lässt entmutigende Rückschlüsse auf die Qualität des logischen Denkens im Alltagsleben zu. Es deutet darauf hin, dass Menschen, wenn sie eine Schlussfolgerung für wahr halten, höchstwahrscheinlich auch Argumente glauben, die diese Schlussfolgerung untermauern, auch wenn diese Argumente wenig stichhaltig sind. Wenn System 1 beteiligt ist, kommt die Schlussfolgerung zuerst, und die Argumente folgen.

 

Betrachten Sie als Nächstes die folgende Frage, und beantworten Sie sie schnell, bevor Sie weiterlesen.

  • Wie viele Morde ereignen sich innerhalb eines Jahres im Bundesstaat Michigan?

Die Frage, die sich ebenfalls Shane Frederick ausgedacht hat, ist wieder eine Herausforderung für System 2. Hier kommt es darauf an, ob der Befragte sich daran erinnert, dass Detroit, eine Stadt mit hoher Kriminalität, in Michigan liegt. College-Studenten in den Vereinigten Staaten ist diese Tatsache bekannt, und sie werden Detroit richtigerweise als die größte Stadt in Michigan identifizieren. Aber die Kenntnis einer Tatsache ist nicht eine Frage von alles oder nichts. Fakten, die wir kennen, fallen uns nicht immer dann ein, wenn wir sie brauchen. Menschen, die sich daran erinnern, dass Detroit in Michigan liegt, schätzen die Mordrate in dem Bundesstaat höher ein als Menschen, die sich nicht daran erinnern. Aber eine Mehrheit derjenigen, die von Frederick befragt wurden, dachte nicht an die Stadt, als man sie nach dem Bundesstaat fragte. Tatsächlich geben Personen, die nach Michigan gefragt wurden, im Schnitt niedrigere Schätzungen ab als Mitglieder einer ähnlichen Gruppe, die nach der Mordrate in Detroit gefragt wurden.

Schuld an der Tatsache, dass bestimmten Personen Detroit nicht einfiel, haben sowohl System 2 als auch System 2. Ob jemandem die Stadt einfällt, wenn der Bundesstaat erwähnt wird, hängt zum Teil von der automatischen Funktionsweise des Gedächtnisses ab. Menschen unterscheiden sich in dieser Hinsicht. Der Bundesstaat Michigan ist im Gehirn mancher Menschen sehr detailliert repräsentiert: Menschen, die in dem Bundesstaat leben, erinnern sich eher an viele Fakten, die ihn betreffen, als Menschen, die irgendwo anders leben;

 

Geografie-Fans erinnern sich an mehr als andere, die sich auf Baseball-Statistik spezialisiert haben; intelligentere Personen haben eher als andere differenziertere Repräsentationen von den meisten Dingen. Intelligenz ist nicht nur die Fähigkeit zu logischem Denken; sie ist auch die Fähigkeit, im Gedächtnis relevantes Material aufzufinden und die Aufmerksamkeit bei Bedarf effektiv zu nutzen. Die Gedächtnisfunktion ist ein Attribut von System 1. Doch jeder hat die Option, einen Gang zurückzuschalten, um eine aktive Gedächtnissuche nach allen möglicherweise relevanten Fakten durchzuführen – so wie jeder auf die Bremse hätte treten können, um die intuitive Antwort bei dem Schlägerund-Ball-Problem zu überprüfen. Das Ausmaß gezielter Überprüfung und Suche ist ein Kennzeichen von System 2 und unterscheidet sich von Mensch zu Mensch.

 

Das Schläger-und-Ball-Problem, der Blumen-Syllogismus und das Michigan-Detroit-Problem haben etwas gemeinsam. Wenn man an diesen Minitests scheitert, scheint dies, zumindest bis zu einem gewissen Grad, auf unzureichende Motivation zurückzuführen zu sein, darauf, dass man sich nicht genug Mühe gibt. Jeder, der zum Studium an einer angesehenen Universität zugelassen wird, ist zweifellos in der Lage, die ersten beiden Fragen logisch klar zu durchdenken und über Michigan so lange nachzudenken, dass er sich an die größte Stadt in diesem Bundesstaat und ihre hohe Kriminalität erinnert. Diese Studenten können viel schwierigere Probleme lösen, wenn sie sich nicht mit einer oberflächlich plausiblen Antwort, die ihnen spontan einfällt, zufriedengeben. Es ist jedoch verstörend, wenn man sieht, wie leicht sie zufriedenzustellen sind und dann nicht weiter nachdenken. »Faul« ist ein hartes Urteil über die mentale Selbstüberwachung dieser jungen Menschen und ihr System 2, aber es scheint nicht unangemessen zu sein. Diejenigen, die die Sünde der intellektuellen Trägheit vermeiden, könnten »engagiert« genannt werden. Sie sind aufgeweckter, intellektuell aktiver, weniger gewillt, sich mit oberflächlich attraktiven Antworten zu begnügen, und kritischer gegenüber ihren Intuitionen. Der Psychologe Keith Stanovich würde sie als rationaler bezeichnen.

Intelligenz, Kontrolle und Rationalität

Forscher haben unterschiedliche Methoden angewandt, um den Zusammenhang zwischen Denken und Selbstkontrolle zu erforschen. Einige sind dabei so vorgegangen, dass sie nach der Korrelation gefragt haben: Wenn Menschen nach ihrer Selbstkontrolle und nach ihren kognitiven Fähigkeiten eingestuft würden, hätten sie dann in den beiden Rankings ähnliche Rangplätze? In einem der berühmtesten Experimente in der Geschichte der Psychologie konfrontierten Walter Mischel und seine Studenten vierjährige Kinder mit einem grausamen Dilemma. Sie hatten die Wahl zwischen einer kleinen Belohnung (einem Keks), die sie jederzeit bekommen konnten, und einer größeren (zwei Keksen), für die sie 15 Minuten unter schwierigen Bedingungen warten mussten. Sie hatten in einem Raum allein an einem Schreibtisch zu sitzen, auf zeit läuten konnte, um den Experimentator hereinzurufen, damit er ihm den Keks gibt. Das Experiment wurde folgendermaßen beschrieben: »Es gab kein Spielzeug, keine Bücher, keine Bilder oder andere, potenziell ablenkende Gegenstände in dem Raum. Der Experimentator verließ den Raum und kehrte erst nach 15 Minuten zurück, beziehungsweise dann, wenn das Kind die Glocke geläutet hatte, die Belohnungen verzehrt hatte, aufgestanden war oder Anzeichen von Stress gezeigt hatte.«

 

Die Kinder wurden durch einen Einwegspiegel beobachtet, und der Film, der ihr Verhalten während der Wartezeit zeigt, ließ die Zuschauer immer in schallendes Gelächter ausbrechen. Etwa der Hälfte der Kinder gelang die Meisterleistung, 15 Minuten zu warten, hauptsächlich dadurch, dass sie ihre Aufmerksamkeit von der verlockenden Belohnung ablenkten. 10, 15 Jahre später hatte sich eine große Kluft aufgetan zwischen denjenigen, die der Belohnung widerstanden hatten, und denjenigen, die ihr erlegen waren. Diejenigen, die widerstehen konnten, hatten höhere Messwerte exekutiver Kontrolle bei kognitiven Aufgaben, und sie konnten insbesondere ihre Aufmerksamkeit effektiver steuern. Als junge Erwachsene waren sie wenig anfällig für Drogenmissbrauch. Bei den intellektuellen Fähigkeiten zeigte sich ein deutlicher Unterschied: Die Kinder, die als Vierjährige mehr Selbstkontrolle gezeigt hatten, erzielten bei Intelligenztests erheblich höhere IQ-Werte.

 

Eine Forschergruppe an der Universität Oregon studierte mit verschiedenen Methoden den Zusammenhang zwischen kognitiver Kontrolle und Intelligenz; so versuchten sie unter anderem auch, die Intelligenz durch Verbesse……………..(Ende der Leseprobe)