12 Soldaten und Prostituierte

Nach einem saftigen Steak und einem kühlen Bier verließen wir das Restaurant und fuhren eine dunkle Straße entlang. Fidel empfahl mir dringend, niemals in dieser Gegend spazieren zu gehen. »Wenn Sie hierher kommen, lassen Sie sich mit dem Taxi bis zur Haustür bringen.« Er zeigte nach vorne. »Hier, hinter dem Zaun, da beginnt die Kanalzone.« Wir erreichten einen Parkplatz, auf dem schon viele Autos standen. Er fand einen freien Platz und stellte den Wagen ab. Ein alter Mann kam herangeschlurft. Fidel stieg aus und klopfte ihm auf den Rücken. Dann strich er mit einer Hand liebevoll über den Kotflügel seines Autos. »Paß gut auf mein Baby auf.« Er reichte dem Mann einen Geldschein. Wir verließen über einen kleinen Fußweg den Parkplatz und gelangten auf eine Straße, die von grellen Neonlichtern erleuchtet wurde. Zwei Jungen rannten an uns vorüber, zielten mit Stöcken aufeinander und taten so, als würden sie aufeinander schießen. Einer von ihnen prallte gegen Fidels Flanke. Der kleine Junge, der Fidel nur bis zur Hüfte reichte, blieb stehen. »Es tut mir leid, Sir«, keuchte er auf Spanisch.
Fidel legte dem Jungen beide Hände auf die Schultern. »Nichts passiert, junger Mann«, erwiderte er. »Aber sag mir, warum habt ihr beiden aufeinander geschossen?« Nun kam auch der andere Junge zu uns. Er legte einen Arm schützend um den anderen Jungen. »Das ist mein Bruder«, erklärte er. »Es tut uns leid.« »Schon gut.« Fidel kicherte leise. »Er hat mir nicht wehgetan. Ich habe ihn nur gefragt, warum ihr Jungs aufeinander geschossen habt. Ich glaube, dieses Spiel habe ich als Junge auch gespielt.«


Die Brüder sahen sich an. Der ältere der beiden lächelte. »Er ist der Gringo-General hier in der Kanalzone. Er hat versucht, unsere Mutter zu vergewaltigen, und deshalb habe ich ihm gesagt, er soll seine Sachen packen. Er soll gefälligst verschwinden.« Fidel warf mir einen kurzen Blick zu. »Und wohin?« »Nach Hause, in die Vereinigten Staaten.« »Arbeitet eure Mutter hier?« »Ja, da drüben.« Beide Jungen zeigten stolz zu einem Neonlicht weiter unten an der Straße. »Sie arbeitet als Bedienung. »Dann spielt mal weiter.« Fidel reichte jedem von ihnen eine Münze. »Aber paßt auf. Bleibt dort, wo es hell ist.« »O ja, Sir. Danke.« Die beiden jagten davon.


Als wir weitergingen, erklärte mir Fidel, daß die Prostitution in Panama gesetzlich verboten sei. »Sie dürfen in Bars bedienen und tanzen, aber nicht ihren Körper verkaufen. Das dürfen nur importierte Nutten.« Wir betraten eine Bar, wo wir von einem populären amerikanischen Schlager empfangen wurden. Ein paar stämmige US-Soldaten standen neben der Tür; Binden an ihren Hemdsärmeln wiesen sie als Militärpolizisten aus. Fidel führte mich durch die Bar, und dann entdeckte ich die Bühne. Darauf tanzten drei junge Frauen, die bis auf ihre Kopfbedeckungen splitternackt waren. Eine trug eine Matrosenmütze, eine andere ein grünes Barett und die dritte einen Cowboyhut. Sie hatten makellose Körper und lachten. Anscheinend spielten sie ein Spiel, und es sah aus, als tanzten sie um die Wette. Die Musik, die Art, wie sie tanzten, die Bühne – das hätte auch eine Disco in Boston sein können, wenn die Mädchen nicht nackt gewesen wären.


Wir drängten uns durch eine Gruppe junger, Englisch sprechender Männer. Sie trugen zwar T-Shirts und Jeans, aber wegen ihrer Bürstenhaarschnitte waren sie als Soldaten der Militärbasis in der Kanalzone erkennbar. Fidel klopfte einer Kellnerin auf die Schulter. Sie drehte sich um, stieß einen entzückten Schrei aus und fiel ihm um den Hals. Die jungen Männer beobachteten diese Szene aufmerksam und warfen sich mißbilligende Blicke zu. Ich überlegte, ob sie womöglich glaubten, zum Manifest Destiny gehöre auch ihr Recht auf diese Panamaerin. Die Bedienung führte uns in eine Ecke und brachte einen kleinen Tisch und zwei Stühle. Nachdem wir uns gesetzt hatten, begrüßte Fidel auf Spanisch zwei Männer an einem Nebentisch. Anders als die Soldaten trugen sie bedruckte kurzärmelige Hemden und Bügelfaltenhosen. Die Bedienung kehrte mit zwei Flaschen Balboa-Bier zurück, und Fidel tätschelte ihre Hüften, als sie sich umdrehte, um zu gehen. Sie lächelte und warf ihm einen Kuß zu. Ich schaute mich um und stellte erleichtert fest, daß die jungen Männer an der Bar uns nicht mehr fixierten; sie konzentrierten sich jetzt auf die Tänzerinnen.


Die meisten Gäste waren Englisch sprechende Soldaten, aber es gab auch einige andere Besucher, wie die beiden Männer neben uns, die offensichtlich Panamaer waren. Sie fielen durch ihren nichtmilitärischen Haarschnitt auf und trugen keine T-Shirts und Jeans. Einige Einheimische saßen an Tischen, andere lehnten an den Wänden. Sie
wirkten sehr aufmerksam und angespannt, wie Schäferhunde, die eine Herde bewachen müssen. Frauen flanierten zwischen den Tischen umher. Sie bewegten sich ständig, setzten sich bei dem einen oder anderen Gast auf den Schoß, riefen den Kellnerinnen etwas zu, tanzten, sangen und stiegen abwechselnd auf die Bühne. Sie trugen enge T-Shirts, Jeans, eng anliegende Kleider und hochhackige Schuhe. Eine von ihnen trug ein viktorianisches Kleid mit Schleier. Eine andere hatte nur einen Bikini an. Offensichtlich durften hier nur besonders attraktive Frauen arbeiten. Ich staunte darüber, daß so viele junge Frauen den Weg nach Panama gefunden hatten, und ich überlegte, welche Not sie zu dieser Verzweiflungstat getrieben haben mochte. »Kommen die Mädchen alle aus anderen Ländern?«, rief ich Fidel zu. Er nickte. »Mit Ausnahmen …« Er deutete auf die Kellnerinnen. »Sie stammen aus Panama.«


»Aus welchen Ländern kommen die Mädchen?« »Aus Honduras, Costa Rica, Nicaragua und Guatemala.« »Aus den Nachbarstaaten.« »Nicht alle. Costa Rica und Kolumbien sind unsere nächsten Nachbarn.« Die Bedienung, die uns zum Tisch geführt hatte, kam zurück und setzte sich bei Fidel aufs Knie. Er streichelte ihr sachte den Rücken. »Clarissa«, sagte er, »erzähl bitte meinem nordamerikanischen Freund, warum diese Mädchen ihre Heimatländer verlassen haben.« Er deutete mit einem Kopfnicken zur Bühne. Drei neue Mädchen  übernahmen die Kopfbedeckungen der anderen, die von der Bühne hüpften und sich anzogen. Die Musik ging in eine Salsa über, und während die neuen Mädchen tanzten, ließen sie im Rhythmus der Musik alle Hüllen fallen.

 

Clarissa streckte die rechte Hand aus. »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen«, sagte sie. Dann stand sie auf und griff nach unseren leeren Flaschen. »Um Fidels Frage zu beantworten, diese Mädchen sind vor der Gewalt in ihrer Heimat geflohen. Ich bringe euch noch zwei Flaschen Balboa.« Als sie gegangen war, wandte ich mich an Fidel. »Ach was«, sagte ich, »die Mädchen kommen doch her, weil sie Dollars verdienen wollen.« »Das auch. Aber warum stammen so viele aus Ländern, in denen faschistische Diktatoren herrschen?« Ich sah wieder zur Bühne. Die drei jungen Frauen kicherten und warfen die Matrosenmütze wie einen Ball umher. Ich schaute Fidel in die Augen. »Meinen Sie das wirlich ernst?« »Aber sicher«, erwiderte er. »Ich wünschte, sie wären freiwillig gekommen. Aber die meisten dieser Mädchen haben ihre Familie verloren – ihre Väter, ihre Brüder, ihre Ehemänner oder Freunde. Sie sind mit Folter und Tod aufgewachsen. Tanzen und Prostitution erscheinen ihnen vergleichsweise harmlos. Sie können hier eine Menge Geld verdienen und dann irgendwo anders neu anfangen, einen kleinen Laden kaufen, ein Café aufmachen …«


Er wurde durch einen plötzlichen Tumult an der Bar unterbrochen. Ich sah, wie eine der Kellnerinnen mit der Faust gegen einen Soldaten ausholte. Er packte ihre Hand und verdrehte ihr Handgelenk. Sie kreischte und ging zu Boden. Der Soldat lachte und rief seinen Kumpels etwas zu. Auch sie lachten. Die Frau versuchte ihm mit der anderen Hand einen Schlag zu versetzen, da verdrehte er ihr Handgelenk noch stärker. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Die Militärpolizisten blieben an der Tür stehen und schauten gelassen zu. Fidel sprang auf und wollte zur Bar laufen. Einer der Männer am Nebentisch streckte eine Hand aus, um ihn aufzuhalten. »Tranquilo,  ermano«, sagte er. »Bleib ruhig, Bruder. Enrique macht das schon.«


Ein großer, schlanker Panamaer kam hinter der Bühne hervor. Er bewegte sich flink wie eine Katze und war im Nu bei dem Soldaten. Mit einer Hand umfaßte er die Kehle des Mannes, während er ihm mit der anderen ein Glas Wasser ins Gesicht schüttete. Die Kellnerin robbte zur Seite. Mehrere Einheimische, die an den Wänden herumgestanden waren, bildeten nun einen schützenden Halbkreis um den Rausschmeißer. Er zog den Soldaten hoch, drückte ihn gegen die Bar und sagte etwas, was ich nicht hören konnte. Dann hob er seine Stimme und rief langsam auf Englisch, so daß ihn alle Anwesenden im Raum über die Musik verstanden.


»Die Kellnerinnen sind tabu für euch, und ihr rührt auch die anderen erst an, wenn ihr gezahlt habt.« Nun griffen die beiden Militärpolizisten ein. Sie gingen auf die Panamaer zu. »Wir übernehmen das jetzt, Enrique«, sagten sie. Der Rausschmeißer ließ den Soldaten auf den Boden sinken und drückte dessen Hals ein letztes Mal zusammen, so daß der Mann den Kopf nach hinten bog und einen Schmerzensschrei ausstieß. »Hast du mich verstanden?« Der Mann ächzte. »Ja.« Der Rausschmeißer schubste den Soldaten den beiden Militärpolizisten zu. »Schafft ihn hier weg.«