Der Mensch hat die Wahl

Der Mensch hat die Wahl

Im zweiten Teil dieses Abends möchte ich den schon erwähnten Jakob etwas genauer betrachten. Auch er wird Iwri, also Hebräer genannt. Jakob ist ein Zwilling, der von seinem eigenen (Zwillings-) Bruder Esau gejagt wird. Auch diese beiden Brüder sind eine Wirklichkeit in uns selbst. Jeder Mensch ist in diesem Sinne ein Zwilling. Der eine Zwilling ist der jenseitige, der andere der diesseitige.

Diese beiden streiten fortwährend in uns selbst. Esau ist auf der Jagd, hat Erfolg und ist angesehen. Jakob ist der Stille, der Zurückgezogene, der dabei auch etwas ängstlich ist und sich vor Esau verbergen muss. Die Überlieferung erzählt, dass Jakob in der Schule von Schem und Ewer im Zelt unterrichtet wird.

Irgendwann kommt der Moment im Leben eines Menschen, in welchem er sich entscheidet, wovon er sich letztlich bestimmen lassen will. Ist es der Jäger, der nach außen hin glänzt und hohes Ansehen genießt oder ist es das Stille, Verborgene, das sich in die Welt Esaus hineinschleicht? Der Name Jakob sagt schon, dass er sich anschlich, während er sich an der Ferse von Esau festhielt. Das hebräische Esaw, das zu Esau verballhornt wurde, bedeutet schon „gemacht“. Er ist der Gemachte, der Fertige, der zudem auch noch schön war.

Wer letztlich – „letztlich“ ist nicht im Sinne von „am Ende“ gemeint, sondern „worauf es ankommt“ – in dieser Welt den Ausschlag geben wird, der Jäger oder der Iwri, wird in der Geschichte erzählt, die als

  • der Segen, den der Vater geben wird“

bekannt ist. Der Vater gibt den Segen; damit ist gemeint, dass er bestimmt, wer und wessen Schicksal für dieses Leben entscheidend sein wird. Er neigt dazu Esau den Segen zu geben, weil dessen Jagen so effizient ist, dass sogar Isaak glaubt, dass auf diesem Weg der Erfolg erreicht werden kann. Es ist also nicht so, dass man den Jäger einfach als unwichtig oder schlecht abtun kann. Der Jäger ist dem anderen völlig gleichgestellt. Denn so wie Isaak an den Jäger glaubt, so glaubt seine Frau Rebekka an den Iwri. Es ist ein Kampf, könnte man sagen, zwischen dem Vater und der Mutter darüber, wer es sein wird. Esau wird also nicht von vornherein abgelehnt, weil er ein Jäger ist; und auch die Jagd wird nicht als etwas völlig Bedeutungsloses betrachtet. Ohne diese Jagd wäre unser Leben hier eigentlich sinnlos. Der Mensch soll nach etwas streben.

Der Jäger ist so nahe an der Grenze des endgültigen Findens, dass es scheint, als habe er es gefunden, und der andere ist so nahe an der Grenze des Gegenteils des Findens (des Verlorenseins), dass es scheint, als sei er verloren.

Die Wahl ist sehr schwierig. Sie ist wiederum eine Frage der eigenen Einstellung. Es ist eine so schwierige Entscheidung, dass, wenn Sie mich fragen würden, meine Antwort lauten würde: Ich weiß es nicht, versuchen Sie es in Ihrem Leben selbst herauszufinden. In einem Gespräch mit Ihnen würde ich mein Bestes geben, um es herauszufinden, aber ich kann es nicht wissen. Denn wenn das jemand wüsste, würde der Mensch in seiner göttlichen Entscheidungsfreiheit tatsächlich zu einem Roboter degradiert, zu einem Automaten, der mechanisch die Mehrheit entscheiden lässt, wer der Mächtigste ist. Der Mensch ist immer in der Alternative: Soll ich den Segen dem Mächtigen geben oder der Gegenseite, dem Wehrlosen. Und manchmal ist der eine wehrlos und dann der andere.
Manchmal ist der Jäger Esau wehrlos, hebr. ajeph, 70-10-80 [völlige Erschöpfung, modern ausgedrückt: Burnout], wie es von Esau erzählt wird, wenn er müde vom Feld zurückkehrt (1. Mose 25:29). Die Überlieferung sagt: Er war zu stark mit dem Tod konfrontiert. Es war eine Art Schockerlebnis, in diesem Moment war etwas mit ihm los. Es ist nicht so einfach, diese Wahl.

Isaaks Augenmerk liegt auf dem, was in dieser Welt wächst und gedeiht, also eine Existenzgrundlage bietet. Es wird auch gesagt, dass Esau eine Entsprechung für den Körper des Menschen ist (die materielle Existenz) ohne welchen der Mensch hier nicht sein kann. In dieser Welt könnten wir Gott nicht „umsonst“ dienen, wenn es keinen Körper gäbe. Jakob ist das, was wir mit dem Gegenteil des Körpers identifizieren, wir nennen es Geist oder Seele. Es ist das Andere, das Unsichtbare, das Unwägbare, das Nicht-Messbare. Der Jäger hat keine Wahl. Er muss jagen, um die Körperfunktionen aufrecht zu erhalten, doch der andere wehrt sich dagegen. Der Streit der Zwillinge endet erst, wenn von höherer Hand gesagt wird:

  • Das ist der Sinn der Jagd und das der Sinn der anderen Seite.“

Darum geht es in der Geschichte des Segens Isaaks über seine Söhne Jakob und
Esau.

Der Jäger steht also für diese Welt, die uns unsere materielle Existenz ermöglicht. Es ist diese Erde, mit Land und Wasser, die Luft mit dem Sauerstoff, den wir atmen, auch unser Blutkreislauf, es ist unser Essen und Trinken. Soll das alles sinnlos sein? Wozu ist es da? Das alles bildet die Grundlage unseres irdischen Bestehens. Es entwickelt sich alles weiter, der Jäger geht immer voran. Vielleicht wird er eines Tages das Geheimnis lüften. Deshalb sagt der Vater Isaak zu Esau:

  • Geh auf die Jagd, fang für mich das Tier und bring es mir, ich werde mich an dem Fang erfreuen, du wirst das Geheimnis, das du fängst, mit deiner Hingabe als Jäger für mich mitbringen.“

Esau wird von Isaak geliebt. Es ist weder eine Dummheit, alles erklären zu wollen, noch Kurzsichtigkeit. Isaaks Blindheit bezieht sich darauf, dass er nicht zum Wesentlichen durchschaut. Das liegt daran, dass Esau Frauen bekommen hatte, die Isaaks Augen durch Abgötterei so verblendeten, dass er nur das Äußerliche sah und nicht zum Wesentlichen vordringen konnte. Dieses Sehen des Äußeren ist kein Nachteil, ist nicht böse, ist kein Fehler von Isaak, sondern eine Notwendigkeit für diese Welt. Wenn wir das Äußere nicht sehen würden, würden wir verunreinigt, krank und sterben. Dass wir leben, existieren, frisch und fröhlich sind, liegt daran, dass diese Frauen von Esau scheinen (eine Scheinwelt erzeugen) und uns nötigen, hier zu existieren. Die körperliche Existenz ist nichts Verwerfliches. Es ist einfach zu sagen:

  • „Der Körper zählt nicht, ich kümmere mich nicht um die Materie wie ein Materialist“.

Bitte, sei ein Materialist, um zu leben. Wenn wir das Wort „Materialist“ hören, sollten wir nicht sofort an Geld denken. Materie ist doch mehr als das, sie ist die Grundlage der Existenz hier. Es ist eine Schöpfung Gottes, es ist ein Wunder. Und die Materie, die sichtbare Welt geht auf die Jagd. Dann kommt die Mutter, Rebekka, von der es heißt, sie sei, modern ausgedrückt, die Reinkarnation der Frau aus dem Paradies, Eva. Dabei handelt es sich nicht um eine Reinkarnation, wie man sie sich gemeinhin vorstellt, sondern wie sie eigentlich gemeint ist: eine Erscheinung auf einer anderen Ebene (Welten finden auf verschiedenen Ebenen statt).

Und Eva erscheint wieder. Sie wird dann Rebekka genannt und ist die Frau von Isaak. Und so wie Eva in der ersten Ebene Adam dazu veranlasst, von genau dieser Frucht zu essen und die Jagd zu eröffnen, so leistet Rebekka jetzt die Wiedergutmachung, indem sie die Jagd beendet und die Frucht wegnimmt, denn Esau würde die Jagd wieder eröffnen und die Geschichte der ewigen Jagd erneut laufen lassen.

Es kommt also eine Gegenkraft, und das ist die Bedeutung der verschiedenen Ebenen. Rebekka ist bei Eva, sagt die Überlieferung, und Isaak ist bei Adam, und sie stehen sich wieder gegenüber. Aber jetzt, in dieser weiteren Phase, handelt die Frau anders, gerade wegen des Bewusstseins dieser Paradieserfahrung, und Rebekka sagt:

  • „Ich weiß, was passieren wird, wenn die Jagd beginnt, ich habe es schon einmal erlebt. Dadurch kommen der Tod, der Rausch, das Elend, Streit nach Streit, über Generationen hinweg, Missverständnisse, Verwirrung der Sprachen und Verwirrung der Begriffe und Worte. Nein, es kommt keine Jagd mehr.
  • Ich habe nun verstanden, dass es um das andere geht, es geht gerade um das Unsichtbare. Das soll den Segen bekommen, das soll bestimmend sein. Warum soll es abgelehnt werden, nur weil es unsichtbar ist?