11. Kapitel--II: Die Quellen der jüdischen Religion 1911: Die Juden und das Wirtschaftsleben von Werner Sombart: 11. Kapitel: Die Bedeutung der jüdischen Religion für das Wirtschaftsleben

Kap. 11: Die Bedeutung der jüdischen Religion für das Wirtschaftsleben

II. Die Quellen der jüdischen Religion

Mohamed hat die Juden das Volk des Buches genannt. Und das mit Recht. Es gibt kaum ein Volk, das so ganz nach einem Buche gelebt hat, wie die Juden. Ihre Religion war immer in einem bestimmten Buche verkörpert, und diese Bücher sind demnach auch als die „Quellen“ der jüdischen Religion zu betrachten. Es sind im Ablauf der Jahrhunderte folgende gewesen, die sich (wie wir noch sehen werden) zu bestimmten Zeiten ergänzt haben und noch ergänzen:

  1. bis zur Zerstörung des zweiten Tempels „die Bibel“, unser Altes Testament: in Palästina in hebräischer Sprache gelesen, in der Diaspora vielfach in griechischer Sprache: die sogenannte Septuaginta;
  2. seit dem zweiten bezugsweise sechsten nachchristlichen Jahrhundert der Talmud (insbesondere der babylonischeTalmud), der bekanntermaßen der Mittelpunkt des jüdischen Religionslebens wurde;
  3. der Kodex des Maimonides, der im 12. Jahrhundert entstand;
  4. der Kodex, die „Turim“, des Jakob von Ascher (1248—1340);
  5. der Kodex des Joseph Karo: der Schulchan Aruch (16. Jahrh.).

Diese „Quellen“, aus denen die jüdische Religion entsprungen ist, nehmen ein ganz und gar verschiedenes Gesicht an, je nachdem wir sie mit den Augen des wissenschaftlichen Forschers, oder mit denen des gläubigen Juden betrachten.

Jener sieht, was die Quellen „in Wirklichkeit“ gewesen sind, diesem erscheinen sie in verklärtem Lichte.

Jene realistische Ansicht interessiert uns hier nur in untergeordnetem Maße. Danach ergibt sich etwa folgendes Bild:

Die Bibel, unser Altes Testament, das Fundament, auf das sich das Judentum aufbaute, ist ein von den verschiedensten Schriftstellern bunt zusammengesetztes Mosaik (432).

Die Thora, das heißt die Fünf Bücher Mosis, die den wichtigsten Bestandteil des jüdischen Religionssystems bildet, ist in ihrer heutigen Gestalt nach Esra durch die Einrenkung und Durcheinanderschiebung zweier fertiger Werke entstanden: des alten mit dem neuen Deuteronomium verbundenen Gesetzbuches einerseits (etwa 650) und des Esraischen Stiftshüttengesetzbuches anderseits (440). Den Kern der Thora bilden also zwei Gesetzbücher: das Gesetz des sog. Deuteronomikers: Deut. 5, 45—26, 69 (um 650 entstanden), und das Gesetz Esras und Nehemias, Ex. 12, 25—31; 35 bis Lev. 15 Num. 1—10 15—19: 27—36 (um 445 entstanden): um sie herum schlingt sich eine ausführliche Geschichtserzählung. Ihren Charakter — das ist das Wichtige — hat die Thora (und damit die jüdische Religion) erhalten durch die beiden auf Anregung der babylonischen Judenschaft nach Palästina entsandten Statthalter des Perserkönigs: Esra und Nehemias, die den Priesterkodex und mit ihm, die strenge Gesetzlichkeit einführen.

Mit Esra und dem von ihm begründeten Sopherismus nimmt das Judentum in der Gestalt, in der es heute noch besteht, seinen Anfang. Seit der Einführung des Gesetzes durch Esra und Nehemia im Jahre 445 v. Chr. ist das Judentum aber auch fast unverändert bis auf den heutigen Tag geblieben.

Neben der Thora interessieren uns von den Schriften des Alten Testaments noch diejenigen, die von der heutigen Wissenschaft als Weisheitsliteratur zusammengefaßt werden. Zu ihnen gehören: Psalmen, Job, Ecclesiastes, das Buch Jesus Sirach, die Sprüche Salomonis (Proverbien). Die Literatur der Chokmah gehört ganz der nachexilischen Zeit an, da erst in ihr die historischen Bedingungen zu ihrer Entstehung gegeben sind; ihre Voraussetzung ist das Gesetz mit seiner durch die Erfahrung des Exils zur unerschütterlichen Wahrheit gewordenen Lehre, das Gott auf die Erfüllung seiner Gebote Leben, auf Übertretung Tod gesetzt habe. Die Chokmah beschränkt sich (im Gegensatz zu Prophetie und Apokalyptik) auf das praktische Leben. Die einzelnen Schriften sind meist Ablagerungen einer langen Entwicklung und stammen zum Teil aus ganz früher Zeit, die Proverbien, die für unsere Zwecke wichtigste Schrift, aus der Zeit um 180 v. Chr. (433)

Von der Bibel gehen zwei Ströme aus: der eine, dessen Quelle vornehmlich die griechische Septuaginta ist, mündet teils in der hellenistischen Philosophie, teils im paulinischen Christentum (und kommt für uns nicht mehr in Betracht); der andere, der an die in Palastina hebräisch gelesene Bibel anknüpft, mündet in dem jüdischen „Gesetz„, ist also derjenige, dessen Lauf wir zu verfolgen haben.

Die spezifisch jüdische Weiterentwicklung der heiligen Schriften nimmt ihren Anfang schon zur Zeit des Esra; sie ist im wesentlichen das Werk der alten Sopherim, zu dem das Zeitalter der großen Schulen Hillel und Schammai nur ausgestaltend, und ergänzend das Seinige hinzufügte. Die Weiterentwicklung besteht äußerlich in den Auslegungen, Erläuterungen und Ergänzungen der heiligen Schriften durch die Schriftgelehrten, die meist in der von der hellenistischen Umwelt in Aufnahme gebrachten Form der Disputation gegeben wurden. Inhaltlich bedeutet die Weiterbildung eine Verschärfung des gesetzlichen Formalismus der alten Schriften, die zu dem Zwecke vorgenommen wurde, um das Judentum gegen den Ansturm der hellenistischen Philosophie zu schützen. Wie denn die jüdische Religion in allen ihren Entwicklungsepochen der Ausdruck einer Reaktion gegen das Andringen auflösender Tendenzen gewesen ist. Das Gesetz des Deuteronomikers war die Reaktion gegen den Baalsdienst; der Priesterkodex gegen den babylonischen Einfluß; später die Kodizes des Maimuni, des Ascher, des Karo, gegen die spanische Kultur. So also sollten jetzt in den Jahrhunderten vor und nach Christi Geburt die Lehren der Tannaim, einen Schutzwall gegen die zersetzenden Einflüsse des Hellenismus aufrichten (434).

Die ursprünglich mündliche Tradition „der Weisen, wurde dann kodifiziert um das Jahr 200 durch R. Jehuda ha-Nassi (meist schlechthin Rabbi genannt); sein Werk ist die Mischna. An sie knüpfen dann abermals die Auslegungen, Erläuterungen und Ergänzungen der Rabbinen an, die im 6. Jahrhundert durch die Saborer (500—550) fixiert werden. Die Erörterungen der Gelehrten, die sich auf die Mischnaabschnitte beziehen, sind die Gemara: die Verfasser der Gemara sind die Amorier, Mischna und Gemara zusammen bilden den Talmud, der selbst wieder, in einen babylonischen und einen palastinensischen zerfällt. Jener ist der wichtigere. In der von den Saboräern redigierten Gestalt wurde der Talmud der Nachwelt überliefert. Nach ihnen hat der Talmud schwerlich neue Zusätze erhalten.

Wer sich mit dem Geist des Talmud vertraut machen will, muß natürlich den Text selber lesen. Er liegt jetzt größtenteils in deutscher Ubersetzung vor deren Verfasser Lazarus Goldschmidt ist. Der Talmud hat die Eigentümlichkeit, das seine Teile zwar nach einer gewissen Folge geordnet, wenn auch nicht immer zusammenhängend sind; jeder Traktat von einigem Umfang jedoch berührt fast das ganze Gebiet des Talmud und bringt die verschiedenen Teile in Beziehung zu einander. Wer demnach einen (oder einige) der (63) Traktate ernstlich durchstudiert, erlangt hierdurch eine ziemlich gute Kenntnis von dem Inhalt des Gesamtwerks, bekommt wenigstens die Fähigkeit, sich leicht in dem Wust zurechtzufinden. Zu eingehendem Studium eignet sich besonders der Traktat Baba mezia, nebst seinen Brüdern, den beiden andern „Baben“ Baba mezia ist besonders gedruckt, übersetzt und mit einem guten Vorwort versehen von Dr. Sammter 1876.

Einen besonderen Zweig der talmudischen Literatur bilden die sog. „kleinen Traktate“ die in den Talmudausgaben als Anhang aufgenommen, aber auch gesondert erschienen sind. Es sind die Traktate Derech Erez Rabba (etwa 3. Jahrh.), Aboth, Aboth derabbi Nathan, Derech Erez Sutta, (nach Zunz 9. Jahrh.). Diese Traktate nennt Zunz ethische Hagade, weil sie das Bestreben haben, Lebensweisheit zu verkünden. Sie haben auf das jüdische Volksleben großen Einfluß gewonnen und sind deshalb für uns von besonderem Interesse, Nächst der Bibel sind sie am meisten in allen Volksschichten verbreitet. Sie bildeten die Hauptlektüre für den Laien, dem der Talmud unzugänglich war. Sie sind vielfach in Gebetbücher und Erbauungsschriften aufgenommen worden. Jetzt liegen sie zum Teil auch in verdeutschten besonderen Ausgaben vor: Rabbi Nathans System der Ethik und Moral. übers. von Kaim Pollak, 1905. Derech Erez Sutta, übers. von Abr. Tawrogi, Königsb. In.-Diss, 1885. Derech Erez Rabba, übers, von Moses Goldberg, Bresl. In.-Diss. 1888.

Die nicht in die Mischna aufgenommenen Lehren, in denen der gesetzliche Inhalt zurücktritt, bilden die Tosepha, die auch aus der Zeit der Tannaim stammt und ebenso gegliedert ist wie die Mischna, nämlich systematisch.

Eine andere Klasse rabbinischer Schriftwerke schließt sich eng an den Schrifttert an, den sie Schritt für Schritt erläutert. Diese Kommentare, die Midraschim, sind teils halachischen, teils haggadischen Inhalts. Die älteren, wesentlich halachischen Inhalts, sind 1. Mechilta über Erodus 2. Siphra über Leviticus; 3. Siphre oder Siphri über Numeri und Deuteronomium.

Targumim beisen die aramäischen Übersetzungen des A. T.)

Daß der Talmud seit seiner Entstehung im Mittelpunkt des jüdischen Religionslebens steht, ist bekannt. Seine universelle Verbreitung war wesentlich eine Folge der mohamedanischen Eroberungen, Zunächst wurde er Gesetzbuch und Grundverfassung für das jüdisch-babylonische Gemeinwesen, dessen Würdenträger der Exilsfürst und die beiden Präsidenten der talmudischen Hochschule waren (Gaone). Durch die Ausdehnung des Islam erweiterte sich auch die Herrschaft des Talmud über seine ursprünglichen Grenzen hinaus, insofern die entferntesten, Gemeinden mit dem Gaonat in Verbindung standen, sich bei ihm Rats erholten über religiöse, sittliche und zivilrechtliche Fragen, und die Entscheidungen, die auf Grund des Talmud gegeben, wurden, gläubig annahmen. Denn man gewöhnte sich, in den babylonischen Gemeinden den (quasi-staatlichen) Mittelpunkt des Judentums zu sehen (436).

Mit der Niederschrift der Gemara schließt die Entwicklung des Judentums ab. Gleichwohl müssen die drei Kodizes, die nach dem Talmud den Religionsstoff dargestellt haben, erwähnt werden, weil sie den gleichen Inhalt in teilweise andrer Form, gegeben haben, und weil sie natürlich den gewandelten Leitumständen in ihren Vorschriften wenigstens bis zu einem gewissen Grade Rechnung tragen mußten. So sind sie nacheinander neben dem Talmud zu anerkannter Geltung unter der Judenschaft gelangt, und der letzte — der Schulchan Aruch – ist dasjenige Religionsbuch, das heutigen Tags als letztes in den Kreisen der strenggläubigen Juden die offizielle Lehre enthält.

Das Wesentliche, was uns an den Religionsbüchern des Maimuni, Ascher und Karo interessiert, ist der Umstand, daß durch sie das Religionsleben der Juden in noch festere Formen gegossen, zu noch größerer Erstarrung gebracht wurde. Von Maimonides urteilt selbst Graetz: daß er das rabbinische Judentum in feste Bande geschlagen habe.

„Vieles, was im Talmud, selbst noch flüssig und deutbar ist, hat er zu einem unangreifbaren Gesetz erstarren lassen ….. Mit seinem kodifizierenden Abschleifen der Gesetze hat er dem Judentum die Bewegung geraubt …… Ohne Rücksicht auf die Zeitlage, in welcher die talmudischen Bestimmungen entstanden sind, stellte er sie für alle Zeiten und auch unter veränderten Umständen als verbindlich hin.“

R. Jakob Ascheris Tur verschärft dann die peinliche Gesetzlichkeit des Maimunischen Kodex noch um einige Grade und Karos Werk schreitet in derselben Richtung bis zum äußersten Punkt. An Überfrömmigkeit übertrifft der Schulchan Aruch noch den Tur des Ascheri und auch an Menge und Genauigkeit, der Vorschriften, die sich in unermüdlicher Kasuistik mit allen nur denkbaren „Fällen“ des Lebens befassen. Das religiöse Leben der Juden hat durch den Schulchan Aruch

„einen Abschluß und eine Einheit erlangt, aber auf Kosten der Innerlichkeit und des freien Denkens, Durch Karo erhielt das Judentum diejenige feste Gestalt, die es bis auf den heutigen Tag bewahrt hat (436)“. (Graetz).

Dies ist der Hauptstrom des jüdischen Religionslebens, dieses sind die Quellen, aus denen das Judentum seinen Stoff an religiösen Vorstellungen und Vorschriften schöpft. Daneben hat es natürlich Nebenströmungen gegeben, wie die von den Apokalyptikern in vorchristlicher Zeit, die ein überirdisch-universal-individualistisch gerichtetes Judentum vertreten (437); oder, wie die der Kabballa (zu Unrecht „Mystik“ benannt), die, wie bekannt, die Religion in Tüfteleien über Zahlen und Zeichen aufzulösen sich bestrebte: sie alle aber kommen kaum in Betracht, wenn man das geschichtliche Judentum in seiner religiösen Eigenart erfassen will: sie haben niemals das praktische Leben beeinflußt.

Sie sind denn auch von dem „offiziellen“ Judentum niemals als „Quellen“ der jüdischen Religion anerkannt worden, wie ein Blick auf die traditionelle Auffassung zeigt, die man in jüdischorthodoxen Kreisen von dem Wesen dieser Quellen hat. Ihr müssen wir nunmehr noch unser Interesse schenken. Denn offenbar ist die Meinung, die die frommen Juden von Entstehung und Bedeutung ihres Religionsstoffes haben, für die Wirksamkeit, der einzelnen Vorschriften viel wichtiger als deren wirkliche Herkunft.

Der Religionsstoff nach der traditionellen Auffassung des frommen Judentums ist zweifachen Ursprungs: er ist entweder offenbart oder von den Weisen geschaffen. Die Offenbarung wiederum zerfällt in einen schriftlichen und einen mündlichen Teil. Denn schriftlichen Teil bilden die in der Bibel zusammengefaßten heiligen Bücher: der Kanon, wie er von den Männern der großen Synagoge festgestellt ist. Er besteht aus drei Teilen (438) der Thora (Pentateuch), den Nebiim (Propheten) und den Ketubim (den übrigen Schriften). Die Thora ist dem Moses von Gott am Berge Sinai offenbart.

„Moses teilte die ihm offenbarte Thora dem Volke während der 40 jährigen Wüstenwanderung allmählich, manches bei passenden Veranlassungen, zunächst mündlich mit, alles bis ins einzelne erklärend. Erst am Ende seines Lebens vollendete er die geschriebene Thora, die fünf Bücher Moses, und übergab sie Israel, und wir sind verpflichtet, jeden Buchstaben, jedes Wort der schriftlichen Thora als von Gott geoffenbart zu betrachten“

…… Bei genauem Studium „erkennen wir erst die tiefe, wahrhaft göttliche Weisheit der Thora, in welcher jedes Pünktchen, jeder Buchstabe, jedes Wort, jede Satz- und Wortstellung eine wichtige Bedeutung hat“ (439). Die übrigen biblischen Schriften gelten zwar ebenfalls als Offenbarung, wenigstens sind sie von Gott inspiriert. Doch ist die Stellung zu den Propheten und Hagiographen freier als zur Thora. Eine besondere Stellung nimmt die Weisheitsliteratur ein, von der ich unten im Zusammenhange spreche.

Die mündliche Überlieferung oder die mündliche Thora ist die Erklärung der schriftlichen, Sie wurde ebenfalls Moses am Sinai offenbart, durfte aber (aus zwingenden Gründen) zunächst nicht niedergeschrieben werden. Die Niederschrift erfolgte erst nach der Zerstörung des zweiten Tempels: in Mischna und Gemara. Diese enthalten also zu einem Teile die einzig richtige, am Sinai geoffenbarte Auslegung der Thora, das heißt: sind insoweit auch göttliche Inspiration. Der Talmud enthält aber außerdem noch andere sehr wichtige Bestandteile, nämlich die rabbinischen Vorschriften und die Haggada: die Auslegung der heiligen Schrift, die sich nicht auf die Gesetze bezieht. Ihr gegenüber gestellt wird meist die Halacha: diese besteht aus allen normativen Bestimmungen des Talmud: mögen sie der mündlichen Thora angehören oder den rabbinischen Vorschriften.

Zu der nicht offenbarten Halacha und der Haggada des Talmud treten dann als weitere „Entscheidungsschriften“ die drei von uns schon genannten Kodizes des Mittelalters.

Was bedeuten nun diese verschiedenen Bestandteile des jüdischen Religionsstoffes für das religiöse Leben der Juden? Welches ist die von ihnen geglaubte Religion, welches sind die von ihnen befolgten Religionsvorschriften?

Zuvorderst ist festzustellen, daß es eine systematische Glaubenslehre oder Dogmatik (im schulmäßigen Sinne) in der jüdischen Theologie meines Wissens kaum gibt 1(440).  Was an beachtenswerten Versuchen einer solchen „schulmäßigen“ Dogmatik vorliegt, stammt fast ausschließlich von nicht jüdischen Theologen, wie etwa die (beste mir bekannte) Darstellung von Ferdinand Weber, System der altsynagogalen palastinensischen Theologie aus Targum, Midrasch und Talmud 1880; nach des Verfassers Tode herausgegeben von Franz Delitisch und Georg Schnederman, 2. Auflage 1897 u. d. T. Jüdische Theologie auf Grund des Talmud und verwandter Schriften. Die Natur der jüdischen Religion, insbesondere die Eigenart des Talmud, dessen Wesenheit die Systemlosigkeit ist, sträubt sich gegen eine dogmatisch systematische Formulierung. Immerhin lassen sich natürlich „Leitideen“ der jüdischen Religion herausarbeiten, prägt sich ihr „Geist“ in bestimmten Erscheinungen aus. Und solcherart Grundzüge der jüdischen Religion festzustellen, ist sogar eine gar nicht so schwierige Aufgabe angesichts der Konstanz gewisser Elemente dieser Religion. Im Grunde ist ja das, was man den „ezechielischen“ Geist genannt hat, seit Esra bis heute der herrschende geblieben und ist nur im Laufe der Jahrtausende immer mehr in seine letzten Konsequenzen entwickelt, zu immer größerer Reinheit ausgebildet worden. Zur Erkenntnis dieses „Geistes„, dieses innersten Wesens der jüdischen Religion, dient also als Quelle, da er ja sich gleichgeblieben ist, der Gesamtstoff der Religionsbücher: Bibel, Talmud, rabbinische Literatur, bis zur Gegenwart.

Schwieriger gestaltet sich das Problem, wenn es sich um Feststellung der Gültigkeit von Einzellehren handelt. Ob heute noch der Satz des Talmud „gilt„: „Auch den Besten der Gom soll man erschlagen oder was sonst die Pfefferkorn, Eisenmenger, Rohling, Dr. Justus und Genossen an schräcklichen Aussprüchen aus den jüdischen Religionsbüchern ausgraben, und was heute die Rabbiner „mit Entrüstung“ als ganz und gar obsolet zurückweisen. Naturgemäß haben diese Einzellehren in all den langen Jahrhunderten je ganz und gar verschieden gelautet. Und wenn man die Religionsbücher — namentlich den Talmud – auf solche Einzellehren hin durchsieht, so kommt man bald zu der Überzeugung, das für jede Sache sich die entgegengesetztesten Ansichten finden, daß alles „kontrovers“ ist oder — wenn man lieber will — daß man aus jenen Schriften (immer besonders aus dem Talmud) alles, aber auch alles „beweisen“ kann. Ich komme in meiner Sachdarstellung auf diesen Tatbestand noch zurück, der Anlaß gegeben hat zu dem wahrhaft lappischen Spiele, das die Antisemiten und ihre christlichen oder jüdischen Gegner, seit Menschengedenken aufführen: daß sie schwarz und weiß gleichmäßig aus dem Talmud mit „Quellenbelegen“ heraus, beweisen. Nichts leichter wie gesagt als das, gerade wenn man die Eigenart des Talmud in Rücksicht zieht, der ja zum großen Teile nichts anderes ist als eine Sammlung von Kontroversen zwischen den verschiedenen Rabbinen.

Ich meine, man sollte vielmehr, wenn man die für das praktische Leben entscheidenden Religionssätze feststellen will, etwa nach folgenden Regeln verfahren.

Einen Unterschied gilt es vor allem zu machen, je nachdem es sich handelt um Selbststudium oder religiöse Lehre. So weit die Religionsschriften von den Laien selber gelesen wurden oder werden, erscheint mir als das Wesentliche, daß darin überhaupt irgend eine bestimmte Meinung in irgendeiner Frage ausgesprochen wird. Gleichgültig ist es, ob daneben die entgegengesetzte Meinung auch vertreten wird. Denn für den Frommen, der sich an jenen Schriften erbaut, genügt die Eine Ansicht, um mit ihr seine Interessen, wenn sie in gleicher Richtung verlaufen, zu verteidigen. Im einen Falle mag er durch die Schriftstelle zu einer bestimmten Handlung angespornt werden, im anderen Falle dient sie ihm vielleicht nur als Rechtfertigung, wenn er aus andern Gründen in ihrem Sinne handeln will oder gehandelt hat. Die Autorität der Schrift genügt, um diese Wirkung auszuüben. Vor allem natürlich, wenn es sich um die Bibel oder gar die Thora handelt. Da hier alles Gottes Offenbarung ist, so ist Eine Stelle so viel wert wie die andere. Und soweit der Talmud und die übrigen rabbinischen Schriften auch von Laien gelesen wurden oder werden, gilt dasselbe auch von ihnen.

Die Sachlage verändert sich aber natürlich sofort, wenn der Gläubige nicht selbst die Quellen liest (oder soweit er sie nicht liest), sondern sich auf die Ermahnungen seines Seelsorgers oder auf die jeweils von diesem approbierten Erbauungsschriften verläßt. Dann steht ihm natürlich eine einheitliche Auffassung gegenüber, die der Rabbiner durch die ihm richtig dünkende Interpretation der sich widersprechenden Textstellen gewonnen hat. Dies ist die von Zeit zu Zeit wechselnde herrschende Lehrmeinung, ist die jeweils den Zeitumständen angepaßte rabbinische Tradition. Sie gilt es für eine bestimmte Epoche festzustellen, wenn man nach ihr die bindenden Normen ermitteln will. Im Wesentlichen wird man sich seit dem Erscheinen der „Entscheidungsschriften“ an diese halten können und wird annehmen, dürfen, daß vom elften bis vierzehnten Jahrhundert der Jadhacharaga, dann bis zum 16. der Tur und nach dem 16. Jahrhundert, der Schulchan Aruch die „Tradition„, also die „durchschnittliche“ gang und gabe Auffassung vertritt (wenigstens soweit die Halacha in Frage kommt). Seit dreihundert Jahren also entscheidet der Sehulchan Aruch, wenn etwa Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung des Gesetzes entstehen (das selbst natürlich immer und ewig in der Thora verankert bleibt). So heißt es denn auch kurz und bündig in dem von mir schon erwähnten Lehrbuche Sterns, das sich landesrabbinerlicher Approbation erfreut, wie wir sahen:

„In erster Reihe gilt der Schulchan Aruch des R. Jos. Karo mit den Anmerkungen des R. Mosse Isserlin und den Glossen, welche den Ausgaben beigedruckt sind, in ganz Israel als das jenige Gesetzbuch, nach welchem wir unser rituelles Leben einzurichten haben“

(S. 5. Der Satz ist im Original gesperrt dedruckt). Niedergeschlagen gleichsam ist das Gesetz in den 613 Vorschriften, die Maimonides aus der Thora aufgestellt hat und die heute noch gelten. „Nach der Uberlieferung unserer Weisen, s. A. hat Gott durch Moses dem Volke Israel 613 solche Vorschriften erteilt und zwar 248 Gebote und 365 Verbote. Alle diese sind von ewiger Gültigkeit; nur sind diejenigen derselben, welche auf das Staatsleben und den Ackerbau in Palästina und auf den Tempeldienst in Jerusalem sich beziehen, für die in der Zerstreuung lebenden Israelitten unausführbar. Für uns sind noch 369 Vorschriften, 126 Gebote und 243 Verbote erfüllbar, wozu noch die 7 rabbinischen Gebote kommen“ (441).

Nach diesen Schriften also haben die strenggläubigen Juden der letzten Jahrhunderte gelebt und leben sie heute noch: immer soweit sie sich von der rabbinischen Lehre leiten ließen, und nicht selbst sich auf Grund eigener Lektüre der Quellen eine eigene Meinung bildeten. Nach diesen Schriften haben wir also auch die Vorschriften zusammenzustellen, die für das religiöse Wesen im einzelnen Falle bestimmend waren. Das „Reformjudentum“ kommt für uns überhaupt nicht in Betracht. Auf Modernität frisierte Bücher, wie die meisten neuzeitlichen Darstellungen der „Ethik des Judentums“ sind für unsere Zwecke, gänzlich belanglos.

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Und zwischen jenen jüdischen Lehren echten Gepräges, und dem Kapitalismus Zusammenhänge nachzuweisen, ihre Bedeutung für das moderne Wirtschaftsleben aufzuzeigen; das soll die Aufgabe der folgenden Darlegungen sein.