IZ: 5.2 Geist und Körper

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Was haben wir bis jetzt über die Zellen erfahren? In den vorherigen Kapiteln wurde ge­zeigt, wie die Funktionen der Zellen direkt aus den molekularen Bewegungen des »Pro­tein-Getriebes« entstehen. Die durch Protein-Ansammlungen erzeugte molekulare Be­wegung sorgt für die physiologischen Funktionen, die Leben ermöglichen. Die Bewe­gung dieser Protein-Bausteine wird durch entsprechende Umweltsignale ausgelöst.

 

Die Berührungsstelle zwischen den Umweltsignalstoffen und den verhaltenserzeugenden zytoplasmischen Proteinen ist die Zellmembran. Die Membran empfängt Reize und er­zeugt dann die angemessene, lebenserhaltende zelluläre Reaktion. Die Zellmembran funktioniert als »Gehirn« der Zelle. Die physikalische Untereinheit der »Intelligenz« dieses Zellgehirns sind die integralen Rezeptor- und Effektorproteine der Membran (IMPs). Diese Proteine funktionieren als »Wahrnehmungsschalter«, welche die aus der Umwelt empfangenen Reize in reaktionserzeugende Proteinprozesse umsetzen.

 

Zellen reagieren auf eine Vielzahl sehr grundlegender »Wahrnehmungen« in ihrer Welt. Zum Beispiel merken sie, ob es in ihrer Nähe solche Dinge wie Kalium, Calcium, Sauerstoff, Glukose, Histamin, Östrogen, Gifte, Licht oder andere Reize gibt.

 

Die gleichzeitige Re­aktion Zehntausender solcher reflexiver Wahrnehmungsschalter in der Membran, die alle einem bestimmten Umweltsignal zugeordnet sind, erzeugen gemeinsam das kom­plexe Verhalten einer lebenden Zelle. Während der ersten drei Milliarden Jahre des Le­bens auf diesem Planeten bestand die Biosphäre aus freilebenden Einzellern wie Bakte­rien, Algen und Protozäen.

 

Traditionellerweise betrachten wir diese Lebensformen als Einzelwesen, doch inzwischen wissen wir, daß individuelle Zellen bestimmte Signalmo­leküle freisetzen können, die das Verhalten anderer Organismen beeinflussen. Diese Si­gnale führen zu einem koordinierten Verhalten einer verstreuten Population einzelliger

Organismen. Die Bildung primitiver Gemeinschaften durch das Freisetzen von Signal­molekülen verbesserte die Überlebenschancen der Einzeller.

 

Die einzelligen Schleimpilz-Amöben bieten ein gutes Beispiel dafür, wie Signalmolekü­le zur Bildung einer Gemeinschaft führen. Diese Amöben leben vereinzelt im Boden und suchen nach Nahrung. Wenn sie alle in ihrer Umgebung verfügbare Nahrung aufge­braucht haben, erzeugen diese Zellen einen Überschuß eines Stoffwechselprodukts na­mens cAMP, das sie an ihre Umgebung abgeben. Wenn mehrere Amöben hungern, ver­stärkt sich die Konzentration von cAMP. Wenn sich die freigesetzten cAMP-Moleküle mit den cAMP-Rezeptoren anderer Schleimpilz-Amöben verbinden, erzeugt es in ihnen ein Aggregationsverhalten, und sie bilden einen mehrzelligen sogenannten Fruchtkör­per.

 

Dieser Fruchtkörper stellt das Reproduktionsstadium des Schleimpilzes dar. Wäh­rend der Hungerperiode teilen die alternden Zellen ihre DNS miteinander und erzeugen
eine nächste Generation. Die jungen Amöben überdauern zunächst als inaktive Sporen.

Wenn es wieder Nahrung gibt, bilden die Nahrungsmoleküle das Signal der Aktivierung und eine neue Population von Einzellern beginnt ihr Dasein.

 

Mir geht es hier vor allem darum, daß einzellige Organismen in einer Gemeinschaft le­ben, in der sie ihre »Wahrnehmung« einander mitteilen und ihr Verhalten koordinieren, indem sie Signalmoleküle freisetzen. Das cAMP war eine der evolutionär frühesten For­men eines regulativen, verhaltenssteuernden Sekrets.

 

Lange Zeit nahm man an, die grundlegenden menschlichen Signalmoleküle wie Hormone, Neuropeptide, Zytokine und Wachstumsfaktoren, die unsere eigenen Zellgemeinschaften regulieren, seien mit der Bildung komplexer, mehrzelliger Lebensformen entstanden. Die jüngste Forschung hat jedoch gezeigt, daß sich die primitiven Einzeller in den frühesten Stufen der Evoluti­on bereits solcher Botenstoffe bedienten.

 

Im Laufe der Evolution maximierten die Zellen die Anzahl der IMP-»Wahrnehmungs­proteine« in der Membran. Um mehr wahrzunehmen und damit die Wahrscheinlichkeit ihres Überlebens zu steigern, sammelten sich die Zellen zunächst in Form von Kolonien und später in Form von hochorganisierten Zellgemeinschaften. Wie bereits zuvor be­schrieben, teilten die mehrzelligen Organismen ihre physiologischen Funktionen spezia­lisierten Zellverbänden zu, die dann die Organe und Gewebe des Körpers bilden. In ge­meinschaftlichen Organisationsformen wird die intelligente Informationsverarbeitung der Zellmembran von den spezialisierten Zellen des Nerven- und Immunsystems über­nommen.

 

Erst vor 700 Millionen Jahren, also vor relativ kurzer Zeit, wenn man das Alter des Le­bens auf diesem Planeten betrachtet, erkannten die Zellen einen Vorteil darin, sich zu den eng geknüpften mehrzelligen Gemeinschaften zusammenzuschließen, die wir als Pflanzen und Tiere bezeichnen. Die koordinierenden Signalmoleküle der freilebenden Einzeller wurden auch von diesen neuen geschlossenen Gemeinschaften verwendet. In­dem sie das Freisetzen und die Verteilung dieser steuernden Signalmoleküle genau re­gulierten, konnten die Zellgemeinschaften ihre Funktionen koordinieren und als »ein« Lebewesen agieren.

 

In den primitiveren Mehrzellern, die noch kein Nervensystem aus­gebildet haben, erfüllen diese Signalmoleküle eine Art elementares »Denken«, indem sie die Information zwischen den Zellen koordinieren. In solchen Organismen nimmt jede Zelle die Reize der Umgebung wahr und stimmt ihr Verhalten darauf ab.Als die Zellgemeinschaften größer und komplexer wurden, mußte dafür eine neue Lö­sung gefunden werden.

 

In einer geschlossenen Gemeinschaft kann nicht jede Zelle ein­fach tun und lassen, was sie will. Die Gemeinschaft kann nur funktionieren, wenn sich alle Beteiligten auf einen gemeinsamen Plan einlassen. In den mehrzelligen Tieren kann jede einzelne Zelle »sehen«, was unmittelbar außerhalb ihrer eigenen »Haut« vor sich geht, aber sie hat keine Wahrnehmung dessen, was sich in einiger Entfernung oder gar außerhalb des gesamten Organismus abspielt.

 

Kann eine tief in Ihren Eingeweiden ver­borgene Leberzelle sich auf angemessene Weise verhalten, wenn Sie ein Straßenräuber anspringt? Die komplexen Verhaltenskontrollen, die ein mehrzelliger Organismus zum Überleben braucht, liegen in seiner zentralen Informationsverarbeitung.

 

Als sich die komplexeren Tiere entwickelten, übernahmen spezialisierte Zellen die Auf­gabe, den Informationsfluß der verhaltenssteuernden Signalmoleküle zu überwachen und zu organisieren. Diese Zellen bildeten ein weit verbreitetes Nervennetzwerk und eine zentrale Verarbeitungsstelle, das Gehirn.

 

Die Funktion des Gehirns besteht darin, in der Gemeinschaft den Austausch zwischen den Signalmolekülen zu koordinieren. Kon­sequenterweise muß sich in einer Zellgemeinschaft jede Zelle den informierten Ent­scheidungen der höchsten Wahrnehmungsautorität fügen – dem Gehirn. Das Gehirn kontrolliert das Verhalten der Körperzellen. Dieser wichtige Punkt sollte berücksichtigt werden, wenn wir die Zellen unserer Organe und Gewebe für unseren Gesundheitszu­stand verantwortlich machen.