IZ: 6 Wachstum und Schutz
Die Evolution hat uns mit vielen Überlebensmechanismen ausgestattet. Sie lassen sich grob in zwei funktionale Kategorien einteilen: Wachstum und Schutz.
Die Wachstums- und Schutz-Mechanismen sind die fundamentalen Verhaltensweisen, die ein Organismus braucht, um zu überleben. Ich bin sicher, Sie wissen, wie wichtig es ist, sich zu schützen, aber vielleicht ist Ihnen nicht bewußt, daß Wachstum für Ihr Überleben genauso wichtig ist, selbst wenn Sie ein ausgereifter Erwachsener sind. Jeden Tag nutzen sich in Ihrem Körper Milliarden von Zellen ab und müssen ersetzt werden.
Zum Beispiel wird die gesamte zelluläre Innenoberfläche Ihres Darms alle zweiundsiebzig Stunden ausgetauscht. Um diese ständige Zellerneuerung zu gewährleisten, muß Ihr Körper jeden Tag eine gewisse Energiemenge aufbringen.
Mittlerweile wird es Sie nicht mehr überraschen, zu erfahren, daß ich bei meinen Studien über Einzeller erstmals auf die Bedeutung des Wachstumsimpulses und des Schutzverhaltens aufmerksam wurde. Als ich menschliche Endothelialzellen klonte, zogen sie sich vor den Giften zurück, die ich ihnen in die Petrischale gab, genauso wie sich Menschen vor Löwen und Straßenräubern zurückziehen.
Auf Nährstoffe bewegten sie sich jedoch zu, wie sich auch Menschen auf eine Mahlzeit oder eine geliebte Person zubewegen würden. Diese entgegengesetzten Bewegungen sind die beiden fundamentalen zellulären Reaktionen auf Umweltreize.
Die Bewegung hin zu einem lebensfördernden Signal charakterisiert eine Wachstumsreaktion, der Rückzug weg von bedrohlichen Signalen deutet auf eine Schutzreaktion hin. Manche Umweltreize sind auch neutral – sie rufen weder eine Wachstums- noch eine Schutzreaktion hervor.
Meine Forschungsarbeit in Stanford zeigte, daß sowohl Wachstumsimpuls wie Schutzverhalten auch für das Überleben von Mehrzellern wie Menschen eine grundlegende Voraussetzung darstellt. Allerdings können dabei die Mechanismen, die Wachstum und Schutz gewährleisten, nicht gut gleichzeitig ablaufen. Zellen können sich nicht gleichzeitig vorwärts und rückwärts bewegen.
Die menschlichen Blutgefäßzellen, die ich in Stanford untersuchte, zeigten eine bestimmte mikroskopische Anatomie für eine Wachstumsreaktion und eine vollkommen andere mikroskopische Anatomie für eine Schutzreaktion. Sie waren nicht in der Lage, beide Konfigurationen gleichzeitig zu zeigen [Lipton, et al 1991].
Genauso wie die Zellen sind auch Menschen nicht in der Lage, ihren Wachstumsimpuls vollständig beizubehalten, wenn sie in ein Schutzverhalten übergehen. Wenn Sie vor einem Löwen flüchten, ist es keine gute Idee, Energie in Ihr Wachstum zu investieren.
Zum Überleben brauchen Sie in jenem Augenblick all Ihre Energie für Flucht oder Kampf. Die Umleitung von Energien zugunsten der Schutzreaktion geht immer auf Kosten des Wachstums. Dabei wird nicht nur die zur Erhaltung der Organe und Gewebe notwendige Energie abgezogen. Wachstumsprozesse erfordern auch einen offenen Austausch zwischen dem Organismus und der Umgebung, zum Beispiel wird Nahrung aufgenommen und Abfallprodukte werden ausgeschieden.
Eine Schutzreaktion erfordert jedoch, das System zu schließen, um den Organismus vor der erwarteten Gefahr abzuschotten. Das Unterbinden von Wachstum ist jedoch auch schwächend, weil der Wachstumsprozeß nicht nur Energie verbraucht, sondern auch produziert. Wenn die Schutzhaltung also über längere Zeit aufrechterhalten wird, hemmt das die Produktion lebenserhaltender Energie. Je länger Sie in der Schutzhaltung bleiben, desto stärker leidet Ihr Wachstum darunter.
Sie können Ihre Wachstumsprozesse sogar so weit unterbinden, daß Sie sich wirklich »zu Tode fürchten« können.Glücklicherweise fürchten sich die meisten von uns nicht zu Tode. Anders als bei Einzellern ist die Wachstums- bzw. Schutzreaktion bei mehrzeIligen Organismen keine Entweder-/Oder-Entscheidung und nicht alle unserer 50 Billionen Zellen müssen gleichzeitig in eine Wachstums- oder Schutzreaktion gehen.
Der Anteil der Zellen, die an einer Schutzreaktion beteiligt sind, hängt von der Schwere der wahrgenommenen Gefahr ab. So können Sie auch unter Streß weiter überleben, aber die chronische Einschränkung der Wachstumsmechanismen geht auf Kosten Ihrer Vitalität. Es ist auch wichtig zu beachten, daß zur vollen Entfaltung Ihrer Vitalität mehr nötig ist, als die Streßfaktoren in Ihrem Leben zu reduzieren.
In einem Wachstums-/Schutz-Kontinuum versetzt Sie die Beseitigung der Streßfaktoren nur in eine neutrale Position. Um zu blühen und zu gedeihen müssen wir nicht nur die Streßfaktoren loswerden, wir müssen auch aktiv nach einem freudvollen, liebevollen, erfüllenden Leben streben, das uns Wachstumsreize vermittelt.
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