Die Psychopathen unter uns
Die Psychopathen unter uns
RKI 2010: Schizophrenie
Von Dr. Robert D. Hare
Vor einigen Jahren habe ich gemeinsam mit zwei Doktoranden eine Studie an eine Fachzeitschrift zur Veröffentlichung eingereicht. Sie beschrieb ein Experiment, das mit Hilfe eines medizinischen Meßwertschreibers die Hirnströme von mehreren Gruppen erwachsener, männlicher Probanden aufzeichnete, die eine Sprachaufgabe bearbeiteten.
Die Hirnströme wurden als eine Reihe von Kurven auf Papier dargestellt; ein solches Diagramm ist auch als Elektroenzephalogramm (EEG) bekannt. Der zuständige Redakteur hat uns die Arbeit mit Bedauern zurückgeschickt. Zur Begründung sagte er uns:
»Offen gesagt fanden wir einige der abgebildeten Hirnstrom-Kurven sehr seltsam. Diese EEGs können eigentlich nicht von wirklichen Menschen stammen.«
Einige der Hirnstrom-Aufzeichnungen waren tatsächlich merkwürdig, aber sie stammten nicht von Außerirdischen, und natürlich hatten wir die Daten nicht gefälscht. Sie stammten von einer Klasse von Menschen, die in jeder Rasse, Kultur, Gesellschaft und sozialen Schicht vorkommt.
Jedermann ist solchen Menschen schon begegnet, ist getäuscht und manipuliert worden und war gezwungen, mit dem so angerichteten Schaden zu leben oder ihn zu reparieren. Für solche Menschen – häufig charmant, aber stets tödlich – gibt es eine klinische Bezeichnung: Psychopathen. Ihr Markenzeichen ist eine verblüffende Gewissenlosigkeit, ihr Spiel ist die Befriedigung ihrer Bedürfnisse auf Kosten anderer. Viele von ihnen – aber durchaus nicht alle – landen im Gefängnis. Alle nehmen sie viel mehr als sie geben.
Dieses Buch setzt sich direkt mit Psychopathie auseinander und beschreibt dieses beunruhigende Thema als das, was es ist – ein finsteres Rätsel mit erschütternden Auswirkungen für die Gesellschaft; ein Rätsel, dessen Lösung sich endlich anbahnt, nach Jahrhunderten der Spekulation und Jahrzehnten psychologischer Feldforschung.
Die Dimension des Problems erschließt sich, wenn man bedenkt, daß es mindestens zwei Millionen Psychopathen in Nordamerika gibt. Unter den Einwohnern von New York City gibt es mindestens 100.000 Psychopathen. Und dies sind vorsichtige Schätzungen. Psychopathie ist weit davon entfernt, ein esoterisches, vereinzeltes Problem zu
sein, das nur einige wenige von uns beeinträchtigt; nein, wir sind fast alle davon betroffen.
Psychopathie ist in unserer Gesellschaft etwa so verbreitet wie Schizophrenie, eine verheerende Geisteskrankheit, die herzzerreißendes Leid für den Patienten und seine Angehörigen mit sich bringt. Die Schmerzen und die Verzweiflung, die von Schizophrenie verursacht werden, sind allerdings unbedeutend im Vergleich zu der
menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Verwüstung, die von Psychopathen angerichtet wird. Sie fischen mit einem großen Netz, in dem fast jedermann sich auf die eine oder andere Art verfängt.
Der auffälligste – aber keineswegs einzige – Ausdruck von Psychopathie besteht in abscheulichen und kriminellen Verletzungen der gesellschaftlichen Regeln. Es ist nicht überraschend, daß viele Psychopathen Verbrecher sind; vielen von ihnen gelingt es allerdings, dem Gefängnis zu entgehen. Mit Charme und chamäleonartiger Anpassungsfähigkeit schlagen sie eine breite Schneise der Verwüstung durch die Gesellschaft und lassen zerstörte Leben hinter sich.
Zusammengesetzt ergeben die Einzelteile des Puzzles das Bild einer egozentrischen, gefühllosen und brutalen Persönlichkeit ohne jegliches Mitgefühl, unfähig, warmherzige Gefühlsbindungen einzugehen, eines Menschen, der ohne die Instanz eines Gewissens »funktioniert«. Man muß feststellen, daß in diesem Bild genau jene Qualitäten fehlen, die es uns ermöglichen, in gesellschaftlicher Harmonie zusammenzuleben.
Es ist kein schönes Bild, und gelegentlich wird bezweifelt, daß es solche Menschen gibt. Um solche Zweifel zu zerstreuen, muß man nur einige der in letzter Zeit immer häufiger in unserer Gesellschaft auftretenden, dramatischen Beispiele von Psychopathie be-trachten. Dutzende von Büchern, Spielfilmen, Fernsehberichten, Hunderte von Zeitungsartikeln und Schlagzeilen erzählen die Geschichte: Die Menschen, über die in den
Medien berichtet wird, sind zu einem großen Teil Psychopathen – Serienmörder, Vergewaltiger, Diebe, Schwindler, Betrüger, gewalttätige Ehemänner, Wirtschaftskriminelle, Anlagebetrüger, gewissenlose Aktienhändler, Kinderschänder, Bandenmitglieder, Rechtsanwälte und Ärzte, denen die Zulassung entzogen wurde, Drogenbarone, Mitglieder der organisierten Kriminalität, Terroristen, Sektenführer, Söldner und skrupellose Geschäftsleute.
Liest man die Zeitungen aus diesem Blickwinkel, springen einem Hinweise auf das Ausmaß des Problems förmlich von den Seiten entgegen. Die dramatischsten Fälle sind jene kaltblütigen, gewissenlosen Mörder, die den Leser gleichzeitig abstoßen und faszinieren. Es folgt eine kleine Auswahl von Hunderten von Fällen, von denen viele ver-
filmt worden sind:
- John Gacy, ein Bauunternehmer aus Des Plaines, Illinois, war von der Handelskammer zum »Mann des Jahres« gewählt worden. Er pflegte den »Clown Pogo« für kleine Kinder zu spielen und ließ sich mit Präsident Carters Gattin Rosalynn fotografieren. Er hat in den Siebzigern 32 junge Männer ermordet und die meisten ihrer Leichen unter seinem Haus vergraben.
- Charles Sobhraj, ein in Saigon geborener Franzose, den sein Vater als »Zerstörer« bezeichnet hat, wurde ein Hochstapler, Schmuggler, Zocker und Mörder, der in den Siebzigern eine breite Spur von geleerten Brieftaschen, verwirrten Frauen, durch Drogen betäubte Touristen und Leichen quer durch Südostasien gelegt hat.
- Jeffrey MacDonald war Feldarzt bei den »Green Berets«, einer Spezialeinheit der US-Streitkräfte. Er hat 1970 seine Frau und seine beiden Kinder ermordet und behauptet, Drogensüchtige hätten die Verbrechen begangen. Buch und Film FATAL VISION erzählen seine Geschichte.
- Gary Tison war ein verurteilter Mörder, dem es meisterhaft gelang, die Justiz zu manipulieren. 1978 ist er mit Hilfe seiner drei Söhne aus einem Gefängnis in Arizona entflohen und hat eine grausige Mordserie begangen, die sechs Menschendas Leben kostete.
- Kenneth Bianchi war einer der »Hillside Stranglers«, die in den späten Siebzigern bei Los Angeles ein Dutzend Frauen vergewaltigt, gefoltert und ermordet haben. Er hat seinen Vetter und Komplizen Angelo Buono an die Polizei verraten und mehrere Sachverständige davon überzeugt, eine multiple Persönlichkeit zu sein und daß sein Alter Ego »Steve« seine Verbrechen begangen hätte.
- Richard Ramirez war ein satanistischer Serienmörder, der unter dem Namen »Night Stalker« bekannt wurde und sich selbst voller Stolz als »böse« bezeichnet hat. Er ist 1987 überführt worden, dreizehn Morde und dreißig andere Verbrechen begangen zu haben, darunter Raub, Einbruch, Vergewaltigung, Sodomie, orale Vergewaltigung und versuchter Mord.
- Diane Downs hat ihre eigenen Kinder erschossen, um für einen Mann, der keine Kinder haben wollte, attraktiver zu erscheinen; später hat sie sich selbst als das wahre Opfer dargestellt.
- Ted Bundy, der »All-American« Serienmörder, war für die Ermordung einiger Dutzend junger Frauen in den Mittsiebzigern verantwortlich; er machte geltend, zu viele pornographische Bücher gelesen zu haben und behauptete, eine »böse Macht« hätte Besitz von ihm ergriffen. Er wurde vor kurzem in Florida hingerichtet.
- Clifford Olson war ein kanadischer Serienmörder, dem es gelang, die Regierung dazu zu bewegen, ihm 100.000 Dollar dafür zu bezahlen, daß er den Ermittlungsbehörden die Stelle zeigte, wo er seine Opfer vergraben hatte. Er ist um anhaltende Medienpräsenz sehr bemüht.
- Joe Hunt war ein redegewandter Manipulator, der sich in den frühen Achtzigern ein betrügerisches Anlagemodell für die Sprößlinge reicher Eltern (auch bekannt als der »Billionaire Boys Club«) in Los Angeles ausgedacht hat. Er hat wohlhabenden Leuten das Geld aus der Tasche gelockt und war in zwei Mordfälle verwickelt.
- William Bradfield war ein eloquenter Lehrer für klassische Literatur, der überführt wurde, eine Kollegin und ihre beiden Kinder getötet zu haben.
- Ken McElroy trieb jahrelang sein Unwesen. Er »beraubte, vergewaltigte, verbrannte, erschoß … und verstümmelte die Einwohner von Skidmore, Missouri, ohne Gewissen oder Reue« – bis er schließlich 1981 in Gegenwart von 45 Menschen erschossen wurde.
- Colin Pitchfork war ein englischer Exhibitionist, Vergewaltiger und Mörder, der erste, der durch seinen »genetischen Fingerabdruck« überführt wurde.
- Kenneth Taylor war ein Zahnarzt und Schürzenjäger in New Jersey. Er hat seine erste Frau verlassen und versucht, seine zweite Frau umzubringen, schlug 1983 seine dritte Frau während ihrer Hochzeitsreise grün und blau, prügelte sie im Jahr darauf zu Tode und besuchte mit der Leiche im Kofferraum seines Autos seine Eltern und seine zweite Frau. Später hat er behauptet, er hätte seine Frau in Notwehr getötet – sie sei auf ihn losgegangen, nachdem er »entdeckt« hätte, daß sie ihr gemeinsames Baby sexuell mißbrauchen würde.
- Constantine Paspalakis und Deidre Hunt haben die Folterung und Ermordung eines jungen Mannes auf Video gefilmt und sitzen jetzt in der Todeszelle.
Solche Individuen und ihre grausigen Verbrechen üben eine morbide Faszination aus. Häufig teilen sie die öffentliche Aufmerksamkeit mit diversen Mördern und Massenmördern, deren oft unsagbar grauenhafte Verbrechen auf schwere psychische Störungen zurückzuführen sind – zum Beispiel mit Ed Gein, einem psychotischen Mörder, der seinen Opfern die Haut abzog und sie aß;
Edmund Kemper, dem »Studentinnenmörder«, einem nekrophilen Sadisten, der seine Opfer verstümmelt und zerteilt hat; David Berkowitz, der »Son-of-Sam Killer«, der jungen Liebespaaren in geparkten Autos aufgelauert hat; der »Son-of-Sam Killer« Jeffrey Dahmer, dem »Milwaukee Monster«, der sich der Folterung, Ermordung und Verstümmelung von fünfzehn Männern und Knaben schuldig bekannte und zu fünfzehnmal lebenslänglich verurteilt wurde.
Obwohl solche Mörder häufig als »geistig gesund« eingestuft werden (wie Kemper, Berkowitz und Dahmer), kann man ihre unsäglichen Taten, ihre grotesken sexuellen Phantasien und ihre Fixierung auf Macht, Folter und Tod kaum als »gesund« bezeichnen.
Demgegenüber sind psychopathische Mörder, nach gängiger Rechtssprechung und psychiatrischer Praxis, nicht verrückt. Ihre Taten entspringen nicht einer gestörten Psyche, sondern einem kühl berechnenden Kalkül in Verbindung mit einer beklemmenden Unfähigkeit, andere als denkende und fühlende Mitmenschen zu behandeln. Derartig moralisch unverständliches Verhalten einer scheinbar normalen Person erzeugt Verwirrung und Hilflosigkeit. So beunruhigend das auch sein mag, müssen wir an dieser Stelle doch darauf achten, den größeren Zusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren, denn die meisten Psychopathen spielen ihr böses Spiel, ohne Leute umzubringen.
Konzentriert man sich allzu sehr auf die brutalsten und schlagzeilenträchtigsten Beispiele ihres Verhaltens, läuft man Gefahr, das große Bild nicht mehr zu sehen: Psychopathen, die nicht morden, aber unser geregeltes Leben stören. Die Gefahr, seine Ersparnisse an einen wortgewandten Schwindler zu verlieren, ist sehr viel größer, als von einem Killer mit stählernem Blick ermordet zu werden.
Trotzdem sind solche spektakulären Fälle wichtig, denn oft sind sie ausführlich dokumentiert und erinnern uns so daran, daß es solche Menschen gibt und daß sie unsere Verwandten, Nachbarn, oder Arbeitskollegen waren, bevor sie erwischt wurden. Auch können solche Beispiele ein Thema illustrieren, daß sämtliche Fallbeispiele von Psychopathen durchzieht: ein zutiefst beunruhigendes Desinteresse an den Schmerzen und Leiden ihrer Mitmenschen – kurzum, das völlige Fehlen von Mitgefühl, der Voraussetzung für Liebe.
In dem verzweifelten Versuch, diesen Mangel zu erklären, betrachtet man zunächst das familiäre Umfeld, aber das bringt einen kaum weiter. Zwar war die Kindheit mancher Psychopathen durch materiellen und emotionalen Mangel und physischen Mißbrauch geprägt, aber auf jeden erwachsenen Psychopathen aus einer gestörten Familie kommt ein anderer, dessen Familienleben warm und liebevoll war und dessen Geschwister normale, gewissenhafte und mitfühlende Menschen sind.
Darüber hinaus werden nur die wenigsten Menschen, die eine schlimme Kindheit hatten, zu Psychopathen oder gefühllosen Mördern. Die Argumentation, daß aus Kindern, die Mißbrauch und Gewalt ausgesetzt waren, gewalttätige und mißbrauchende Erwachsene werden, führt uns hier nicht weiter (auch wenn sie für andere Betrachtungen der menschlichen Entwicklung durchaus hilfreich sein können). Mögliche Erklärungen für das Entstehen von Psychopathie sind tiefgründiger und schwieriger zu erfassen.
Dieses Buch stellt meine Suche nach Antworten dar, die mich seit einem Vierteljahrhundert beschäftigt. Ein großer Teil dieser Suche hat aus einer gemeinschaftlichen Anstrengung bestanden, ein präzises Verfahren zur Identifikation der Psychopathen unter uns zu entwickeln. Denn wenn wir sie nicht erkennen können, sind wir dazu verdammt, zu ihren Opfern zu werden – sowohl als Individuen wie als Gesellschaft im Ganzen.
Ich will nur ein einziges, leider alltägliches, Beispiel dafür anführen: Die meisten Menschen sind verblüfft, wenn ein verurteilter Mörder, nachdem er auf Bewährung entlassen worden ist, umgehend ein weiteres Gewaltverbrechen begeht. Man fragt sich fassungslos: »Warum ist ein solcher Mensch entlassen worden?« Diese Fassungslosigkeit würde zweifellos in Wut umschlagen, wenn bekannt wäre, daß in vielen Fällen der Straftäter ein Psychopath war, dessen Rückfall vorauszusehen gewesen wäre – wenn die Bewährungskommission ihre Hausaufgaben gemacht hätte.
Es ist meine Hoffnung, daß dieses Buch sowohl der Allgemeinheit als auch den Strafvollzugsbehörden dabei helfen kann, das Wesen der Psychopathie, die Größenordnung des Problems und mögliche Maßnahmen zur Verminderung ihrer verheerenden Auswirkungen auf unser Leben zu verstehen.
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