Cum-Ex

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  • The Wolff of Wall Street: Cum-Ex

Wer Aktien kauft, beteiligt sich damit am Grundkapital einer Aktiengesellschaft, kurz AG genannt. Entwickelt sich das Geschäft der AG positiv, dann profitiert der Aktionär doppelt: Zum einen steigt der Kurs der Aktie, sie wird also wertvoller, zum anderen erhält er einen jährlichen Anteil am Reingewinn des Unternehmens – die Dividende.


Um die Höhe dieser Dividende festzulegen, kommen die Aktionäre einmal im Jahr zu einer Hauptversammlung zusammen. Am Tag nach der Hauptversammlung, dem Dividenden-Stichtag, erfolgt dann die Ausschüttung. Vor dieser Ausschüttung notiert die Aktie „cum dividende“ (vom lateinischen Wort „cum“, zu Deutsch „mit“), nach
der Ausschüttung „ex dividende“ (vom lateinischen Wort „ex“ zu Deutsch „ohne“).


Bei der Ausschüttung zahlen deutsche AGs ihren Aktionären aber nicht den Gesamtbetrag aus, sondern – nach geltendem Steuerrecht – nur 75 Prozent davon. Die restlichen 25 Prozent gehen als Kapitalertragssteuer direkt an das Finanzamt.


Für private Anleger ist die Sache damit erledigt. Bei institutionellen Investoren wie Fonds oder Banken ist das anders. Sie können sich die Kapitalertragsteuer wieder zurückzahlen lassen, weil Dividenden für sie steuerfrei sind.


Diese Rückerstattung haben sich einige Investoren in der Vergangenheit aber nicht nur einmal, sondern zweimal, dreimal oder sogar noch häufiger auszahlen lassen, und zwar mit Hilfe des Leerverkauf-Prinzips.


Zur Erläuterung: Ein Leerverkäufer verkauft etwas, das er nicht besitzt, um es zu einem späteren Zeitpunkt zu einem niedrigeren Preis zu kaufen. Bei Cum-Ex hat das folgendermaßen funktioniert: Ein Leerverkäufer verkaufte vor der Hauptversammlung eine Aktie mit Anspruch auf Dividende (also „cum“), beschaffte sich die Aktie aber
erst nach der Hauptversammlung (also „ex“), weil sie zu diesem Zeitpunkt günstiger war, und leitete sie erst dann an den Käufer weiter.


Da sowohl der Leerverkäufer als auch der ursprüngliche Aktienbesitzer zum Zeitpunkt der Hauptversammlung, also des Wechsels von „cum“ zu „ex“, juristisch als Eigentümer der Aktie galten, konnten sich beide eine Kapitalertragssteuerbescheinigung ausstellen lassen und sie dem Finanzamt vorlegen. Auf diese Weise zahlte das Finanzamt das Doppelte dessen zurück, was es von der AG erhalten hatte.


Wurden bei diesem sogenannten Dividenden-Stripping weitere Leerverkäufer am Vorgang beteiligt, stieg der dem Staat entzogene Betrag auf ein Mehrfaches an. Auf diese Weise haben sich professionelle Investoren jahrelang in den Besitz von Steuergeldern gebracht, die ihnen eigentlich nicht zustanden, und das in immensem
Ausmaß. Dem deutschen Staat sind dadurch allein von 2001 bis 2016 über 30 Milliarden Euro entgangen.


Obwohl die deutschen Behörden dem Nachrichtenmagazin Spiegel zufolge bereits 1992 über diesen Steuerraub informiert waren, beschloss der Bundestag erst 2007 eine Gesetzesänderung, die dem Treiben im Inland ein Ende bereitete. Allerdings nur im Inland. Der Cum-Ex-Handel ging nämlich weiter, und zwar über ausländische
Banken – und das in noch größerem Umfang als zuvor. Erst weitere fünf Jahre später – und nachdem europaweit ein Schaden von 55 Milliarden Euro entstanden war – wurde auch dieser Handel unterbunden. Beteiligt an den Geschäften waren übrigens neben zum Teil darauf spezialisierten Kanzleien mehr als 100 Banken, darunter
die vom Staat gerettete Commerzbank, die Deutsche Bank, die Hypo-Vereinsbank und die baden-württembergische Landesbank – um nur ein paar der Großen zu nennen.

 


Wer allerdings 2012 meinte, das Problem sei ausgestanden, der irrte. Nach dem Verbot von Cum-Ex mit dem Ausland haben Finanzfachleute nämlich die Cum-Cum-Variante angewandt, die folgendermaßen funktioniert: Kurz vor der Hauptversammlung leiht sich eine deutsche Bank von einem ausländischen Anleger ein Aktienpaket, lässt sich die Dividende und anschließend die zunächst einbehaltenen 25 Prozent Kapitalertragssteuer vom Staat auszahlen. Dann gibt sie die Aktien zurück, zahlt dem ausländischen Anleger drei Viertel der Dividende plus einen größeren als den ihm zustehenden Teil der restlichen 25 Prozent aus und behält den Rest für sich zurück.


Dass auch gegen diese – weniger ertragreiche, aber für den Staat ebenso schädliche – Variante mittlerweile juristisch vorgegangen wird, ist wie in den anderen Fällen übrigens weder auf behördliche Initiative noch auf ein Eingreifen der Politik zurückzuführen. Es liegt ausschließlich daran, dass Journalisten dem Betrug nachgegangen sind und die Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht haben.