2022/04: Satans voller Name lautet „Legion ‚Freies Russland'“ – Kiew stellt neue Wlassow-Armee auf

Kiew ruft ein Bataillon für russische Freiwillige ins Leben. Nur mit russischen Kriegsgefangenen geht das nicht. Mit wem dann? Beim Beantworten dieser Frage stößt man auf die Kehrseite des russischen Neonazismus – russische Liberale, die jüngst massenweise ins Exil gingen. .
 

Von Sachar Prilepin

Die Oberste Aufklärungsleitung des ukrainischen Verteidigungsministeriums stellt also ein neues Bataillon auf – die „Legion ‚Freies Russland'“. Es ist ein Vorzeigeprojekt, um ausländischen Journalisten zu zeigen: Seht her, die Wahren und Freien unter den Russen kämpfen auf der Seite der Ukraine gegen das Böse im Kreml.

 

Viele in Russland haben schon geschrieben, ein solches Bataillon sei unmöglich aufzustellen.

 

Doch nein, das ist ein Irrtum. Leider besteht die Möglichkeit, eine solche Einheit aus durchaus realen Russen aufzustellen, sehr wohl. Nur wird sie nicht einfach aus russischen Gefangenen zusammengesetzt werden.

 

Ja, wir haben bereits erlebt, dass drei oder vier (ehemalige) russische Soldaten, die in den ersten Tagen des Sondereinsatzes gefangen genommen worden waren, auf einer von Kiew speziell vorbereiteten Pressekonferenz als Sprecher der Einheit auftraten.

Möglicherweise waren sie schon vor dem Sondereinsatz angeworben oder auf eine bestimmte Art und Weise psychologisch bearbeitet worden.

 

Möglicherweise wurden sie während ihrer Gefangenschaft von ausländischen Spezialisten bearbeitet: Diese halfen Kiew, einen angemessenen und subtilen psychologischen Druck auf die Gefangenen auszuüben, während man ihnen gleichzeitig ein Gehalt und die Staatsbürgerschaft irgendwelcher europäischer Länder garantierte.

Die Kiewer Seite ist sich jedoch im Klaren: Selbst wenn sie ein ganzes Bataillon aus Kriegsgefangenen zusammenbekäme, tendierte die Kampfkraft dieser Einheit gen null. Sie sind nicht motiviert.

 

Dafür hat Kiew bereits anderweitig genug Menschenmaterial für sein Vorhaben in Reserve.

 

Ich erinnere mich, im Winter 2014/15 eine Zahl gehört zu haben, die mich entsetzte: Ein Ermittler eines russischen Spezialdienstes gab zu verstehen, man habe allein in einer der 85 russischen Regionen etwa 25 Vertreter von Fußballfan-Vereinigungen abgefangen, die aus dem Gebiet der Ukraine zurückgekehrt waren, wo sie in der Nationalen Front gegen die beiden Donbass-Milizen gekämpft hatten. Ich wiederhole: in nur einer der 85 Regionen der Russischen Föderation.

 

In ganz Russland gab es somit Hunderte, wenn nicht Tausende von ihnen.

Die sogenannte rechte Bewegung in Russland war gespalten, und zwar bestenfalls zweigeteilt: Ein Teil der Skinhead-Fußballfans zog in den Kampf für die Menschen in Donezk und in Lugansk – ein anderer großer Teil von ihnen jedoch sprang gewohnheitsmäßig auf die Hakenkreuzspinne an und reihte sich zielsicher unter den Fahnen der Bataillonen „Asow“, „Donbas“ und der anderen Unreinheiten-Sammelbecken für Unmenschen ein.

 

Militärkorrespondent Semjon Pegow erzählte eine weitere unheimliche Geschichte: Der legendäre Kommandeur der Donbass-Rebellen Arsen „Motorola“ Pawlow hatte Ende 2014 in Moskau zu tun. Im Nahverkehrszug in der Nähe von Moskau trafen Pawlow und Pegow auf eine riesige Menge von Halbstarken, die von Waggon zu Waggon zogen und skandierten: „Ruhm der Kiewer Rus, Noworossija – pack mich am Fuß!“ (Ausdrucksweise angepasst, damit es sich reimt, sowie für den Fall, dass dies von Minderjährigen gelesen wird.)

 

Dieser Fall ist mehr als aufschlussreich – und zeigt leider die damalige Unfähigkeit der russischen Sicherheitsdienste, die Gefahr zu erkennen: Es ist bekannt, dass Uniformierte oft auf die eine oder andere Weise rechte Skinheads und Hooligans unter ihre Fittiche nahmen – im Vertrauen darauf, dass sie ihnen helfen, einerseits Migranten und andererseits Nationalbolschewiken, die beide den Behörden zu jener Zeit ernsthafte Kopfschmerzen bereiteten, im Zaum zu halten. Und dann wurden ebendiese rechten Skinheads selbst zu einem Problem, das dringend angegangen werden musste.

 

Ja, die Gefahr wurde damals eingedämmt, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten – doch viele der gewaltbereiten Fußballfans, die damals abgereist waren, blieben in den Diensten Kiews. Und leider begannen mit dem Anfang des militärischen Sondereinsatzes auch die noch in Russland verbleibenden Liebhaber der Angewohnheit, sich und anderen Hakenkreuze auf den Bauch zu malen, erneut, sich auf den Weg in die Ukraine zu machen.

 

Die von Kiew ins Leben gerufene Einheit wurde im Internet bereits als „Reinkarnation der Wlassow-ROA“(Russische Befreiungsarmee) bezeichnet.

Das ist, im Geiste der allgemeinen politischen Mythologie gelesen, zwar richtig – im Kern der Sache ist es jedoch falsch.

 

Sie werden keine militärische, sondern eine extremistische Einheit bilden, deren Kern nicht aus umworbenen Soldaten und Offizieren, sondern aus Zivilisten besteht, die sich zur neonazistischen Ideologie bekennen: totale Sowjetfeinde, Hasser der Bolschewiki und der Sowjets, Zerstörer von Denkmälern für sowjetische Persönlichkeiten. Es war dieses Thema, das im Frühjahr 2014 die Mengen auf dem Maidan mobilisierte – und gerade dieses Thema wirkt auch heute noch.

 

Eine weitere politische Kraft, die den Bolschewismus, Stalin-Porträts, rote Fahnen und Dserschinski-Denkmäler hasst, ist der traditionelle russische Liberalismus.

Bemerkenswerterweise haben die Organisatoren der Neonazi-Einheit sie bereits mit der Symbolik der weiß-blau-weißen Fahne von Michail Chodorkowskis Russischem Antikriegskomitee ausgestattet.

 

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Zweifellos leisten die liberalen politischen Strukturen, die von den russischen „freiwilligen Exilanten“ angeführt werden, der von Kiew gebildeten neonazistischen Einheit ideologische und finanzielle Unterstützung.

 

Wir sollten nicht überrascht sein, wenn wir sehen, wie jene der russischen Künstler „mit blutendem Gewissen“, die mit dem Beginn des Sondereinsatzes in den Westen ausgereist sind, die „Legion ‚Freies Russland'“ besuchen. Sie werden ihnen gerne etwas vorsingen.

 

Und wer glaubt, dass die russischen Liberalen sich vor Hakenkreuzen fürchten, irrt gewaltig. Angst machen ihnen nur rote Fahnen und „Unsterbliche Regimenter“. Das ist es, was sie mit ihrem ganzen Wesen hassen.

 

Im Grunde wird das gleiche Szenario wie auf dem Kiewer „Maidan“ wieder abgespielt: Die liberale Intelligenz setzt auf rechtsextreme Wüstlinge, um den Sieg zu erringen.

 

Die Liberalen selbst, das muss man zugeben, kämpfen nie. Unter den Freiwilligen auf beiden Seiten im Ukraine-Konflikt finden sich Vertreter aller möglichen politischen Strömungen – Kommunisten, Anarchisten, Monarchisten und Rechtsradikale bis hin zu bereits erwähnten offenen Neonazis – nur Liberale werden Sie dort nie sehen.

Liberalismus als Rückseite des Hakenkreuzes am Beispiel Russland

Sie sind die mobilisierende und führende Kraft – die Menschenfresser mit den freundlichen Gesichtern im tiefen Hinterland.

 

Im Ergebnis sehen wir eine unheilige Allianz, die beim Namen zu nennen, wir uns immer noch schämen. Dieser Art von Ungeheuer haben wir bereits in der Vergangenheit einen Namen gegeben – und dieser Name lautet „Neonazismus“. Doch hier ist es gerade Neonazismus mit einer liberalen Rückseite. Und nun werden wir Zeugen der Gründung des liberalen neonazistischen Bataillons „Legion ‚Freies Russland'“.

 

Gerade diese Menschen sollen nach den Plänen nicht nur Kiews, sondern auch des kollektiven Westens in Russland an die Macht kommen. Die russischen Gegenstücke nicht nur zu Wladimir Selenskij, sondern auch zu Andrei Bilezki, Oleg Tjagnibok, Alexei Gontscharenko, Bataillonskommandant Swjatoslaw“Kalina“ Palamar und anderen sprichwörtlichen Dmitri Jaroschs.

 

Sie haben sich dort, in der Ukraine, angefreundet und werden sich auch hier anfreunden. Sie haben sich schon vor langer Zeit gegenseitig erkannt. Der Leser wird jetzt sagen: „Auf keinen Fall, das ist in Russland unmöglich!“ Als ob das in der Ukraine möglich gewesen wäre. Aber funktioniert hat es dort ja.

Übersetzt aus dem Russischen.

Sachar Prilepin ist ein russischer Schriftsteller und Journalist, der in den 1990er Jahren im Krieg in Tschetschenien gekämpft hat. Er kämpfte später als stellvertretender Kommandeur eines Freiwilligenbataillons der Volksmiliz der Volksrepublik Donezk in der Ukraine.

 

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