22 Amerikanische Republik gegen globales Imperium
Bekenntnisse eines Economic Hitman
- Siehe auch FT: John Perkins: Bekenntnisse eines Economic Hit Man
»Ich will ganz offen sein«, sagte Paula eines Tages, als wir gerade in einem Café saßen. »Die Indianer und Farmer, die an dem Fluß leben, den ihr aufstaut, hassen euch. Selbst die Leute in den Städten, die nicht direkt betroffen sind, sympathisieren mit den Guerillas, die eure Baustelle angegriffen haben. Eure Regierung nennt solche Leute Kommunisten, Terroristen und Drogenhändler, aber in Wirklichkeit sind das einfach nur Menschen mit Familien, deren Land deine Firma gerade zerstört.«
Ich hatte ihr von Manuel Torres erzählt. Er war Ingenieur bei MAIN und einer der Männer, die vor kurzem von Guerillas auf unserer Baustelle für den Staudamm angegriffen worden waren. Manuel war kolumbianischer Staatsbürger, der einen Job hatte, weil eine Anordnung des amerikanischen Außenministeriums es uns verbot, Amerikaner auf diese Baustelle zu schicken. Wir nannten das die »Kolumbianer sind entbehrlich«-Doktrin. Sie war typisch für eine Haltung, die ich immer mehr haßte. Meine Haltung zu dieser Art von Politik machte es mir immer schwieriger, mein inneres Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.
»Laut Manuel haben sie mit AK-47 in die Luft und auf seine Füße geschossen«, sagte ich Paula. »Er klang ganz ruhig, als er mir davon erzählte, aber ich weiß, daß er vor Angst fast gestorben wäre. Sie haben niemanden erschossen. Sie gaben ihnen nur den Brief und schickten sie in ihren Booten flußabwärts.« »Mein Gott!«, rief Paula. »Der arme Mann war in Todesangst!« »Natürlich war er das.« Ich erzählte ihr, daß ich Manuel gefragt hatte, ob er glaube, daß es FARC oder M-19 waren, und meinte damit die beiden berüchtigtsten kolumbianischen Guerillagruppen. »Und?« »Er sagte weder noch. Aber er glaubt, was sie in diesem Brief geschrieben haben.«
Paula griff sich die Zeitung, die ich mitgebracht hatte, und las den Brief laut vor. »Wir, die wir jeden Tag arbeiten, um das nackte Überleben zu sichern, schwören beim Blut unserer Vorfahren, daß wir nie Dämme erlauben werden, die unsere Flüsse blokkieren. Wir sind einfache Indianer und Mestizen, aber wir wollen lieber sterben, als tatenlos zusehen, wie unser Land überflutet wird. Wir warnen unsere kolumbianischen Brüder: Hört auf, für die Bauunternehmen zu arbeiten.« Sie legte die Zeitung weg. »Was hast du zu ihm gesagt?« Ich zögerte, aber nur kurz. »Ich hatte keine Wahl. Ich mußte den Standpunkt der Firma vertreten. Ich fragte ihn, ob das wie ein Brief klingt, den ein indianischer Bauer schreiben könnte.« Sie saß da und schaute mich geduldig an. »Er zuckte nur mit den Schultern.« Unsere Blicke trafen sich. »Oh Paula, ich hasse mich doch auch dafür, daß ich diese Rolle spiele.«
»Was hast du dann gemacht?«, drängte sie weiter. »Ich schlug mit der Faust auf den Tisch. Ich schüchterte ihn ein. Ich fragte ihn, ob normale Bauern automatische Waffen hätten. Dann fragte ich ihn, ob er wisse, wer die AK-47 erfunden habe.« »Und, wußte er es?« »Ja, aber ich konnte seine Antwort kaum hören. ›Ein Russe‹, sagte er. Natürlich versicherte ich ihm, er habe völlig Recht, der Erfinder sei ein Kommunist namens Kalaschnikow gewesen, ein hochdekorierter Offizier in der Roten Armee. Ich brachte ihn dazu einzusehen, daß die Leute, die den Brief geschrieben haben, Kommunisten sind.« »Und das glaubst du selbst?«, fragte sie. Ihre Frage brachte mich aus dem Konzept. Wie sollte ich darauf ehrlich antworten? Ich erinnerte mich an den Iran und daran, daß Yamin mich als einen Mann gefangen zwischen zwei Welten beschrieben hatte, einen Mann in der Mitte. In gewisser Weise wünschte ich, ich wäre auf der Baustelle gewesen, als die Guerillas angriffen, oder daß ich einer der Guerillas gewesen wäre. Mich überkam ein seltsames Gefühl, eine Art Neid auf Yamin und Doc und die kolumbianischen Rebellen. Diese Männer hatten eine Überzeugung. Sie hatten sich für die echte Welt entschieden, nicht für ein Niemandsland, das irgendwo dazwischen lag.
»Ich muß meinen Job machen«, sagte ich schließlich. Sie lächelte sanft. »Aber er kotzt mich an«, fuhr ich fort. Ich dachte an die Männer, deren Bilder mir so oft vor Augen standen, an Tom Paine und die anderen Helden aus den Revolutionskriegen, an Piraten und erste Siedler. Sie standen nicht irgendwo dazwischen. Sie hatten Stellung
bezogen und mit den Konsequenzen gelebt. »Jeden Tag hasse ich meine Arbeit ein bißchen mehr.« Sie nahm meine Hand. »Deine Arbeit?« Unsere Blicke trafen sich, sie hielt meinen Blick fest. Ich verstand die Andeutung. »Mich selbst.« Sie drückte meine Hand und nickte langsam. Ich fühlte mich sofort erleichtert, nur weil ich ihr meine Gewissensnot gestanden hatte. »Was wirst du tun, John?« Ich wußte keine Antwort, und aus der kurzen Erleichterung wurde wieder Abwehr. Ich stammelte die üblichen Rechtfertigungen: daß ich versuchte, Gutes zu tun, daß ich nach Wegen suchte, das System von innen heraus zu verändern, und – die alte Ausrede – wenn ich kündigte, würde ein anderer, noch Schlimmerer an meine Stelle treten. Aber ich konnte an der Art, wie sie mich ansah, erkennen, daß sie mir das nicht abnahm. Noch schlimmer, ich glaubte es selbst nicht. Sie hatte mich dazu gebracht, die grundlegende Wahrheit zu erkennen: Ich konnte die Schuld zwar auf meine Arbeit abwälzen, mußte sie mir aber letztlich selbst zuschreiben.
»Und du?«, fragte ich schließlich. »Was glaubst du?« Sie seufzte leise und ließ meine Hand los. »Versuchst du, das Thema zu wechseln?« Ich nickte. »Okay«, stimmte sie zu. »Unter einer Bedingung. Daß wir eines Tages wieder darauf zu sprechen kommen.« Sie nahm einen Löffel und betrachtete ihn eingehend. »Ich weiß, daß manche Guerillas in Rußland oder China ausgebildet werden.« Sie tauchte den Löffel in ihren Café con leche, rührte um und leckte ihn dann langsam ab. »Was bleibt ihnen anderes übrig? Sie müssen mit modernen Waffen umgehen können und lernen, wie man gegen die Soldaten kämpft, die bei euch ausgebildet worden sind. Manchmal verkaufen sie Kokain, weil sie Geld brauchen. Wie sonst sollten sie das Geld auftreiben, um Waffen zu kaufen? Sie haben mit schrecklichen Widrigkeiten zu kämpfen. Eure Weltbank hilft ihnen nicht, sich zu verteidigen. Sie zwingt sie sogar in diese Position.« Sie nahm einen Schluck Kaffee. »Ich glaube, daß sie für eine gerechte Sache kämpfen. Die Elektrizität wird nur einigen wenigen helfen, den reichsten Kolumbianern, aber Tausende werden sterben, weil das Wasser und die Fische vergiftet werden, nachdem ihr eure Staudämme gebaut habt.«
Als sie so leidenschaftlich über Menschen sprach, die uns – und mich – haßten, bekam ich eine Gänsehaut. Ohne zu wissen, was ich tat, packte ich ihre Unterarme. »Woher weißt du so viel über die Guerillas?« Schon als ich fragte, hatte ich ein flaues Gefühl, eine Vorahnung, daß ich die Antwort gar nicht wissen wollte. »Ich bin mit ein paar von ihnen zur Schule gegangen«, sagte sie. Sie zögerte, schob ihre Tasse weg. »Mein Bruder hat sich der Bewegung angeschlossen.« Da war es. Ich war furchtbar enttäuscht. Ich hatte gedacht, ich wüßte alles über sie, und jetzt … Flüchtig hatte ich das Bild eines Mannes vor Augen, der nach Hause kommt und seine Frau im Bett mit einem anderen Mann erwischt. »Warum hast du mir das nie erzählt?« »Es schien unwichtig. Warum sollte ich? Das ist nichts, mit dem ich prahle.« Sie machte eine Pause. »Ich habe ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Er muß sehr vorsichtig sein.« »Woher weißt du, daß er noch lebt?« »Ich weiß es nicht, aber vor kurzem wurde er von der Regierung auf eine Fahndungsliste gesetzt. Das ist ein gutes Zeichen.« Ich unterdrückte den Impuls, vorschnell zu urteilen. Ich hoffte, sie würd e meine Eifersucht nicht bemerken. »Wie wurde er Mitglied?«, fragte ich. Zum Glück hielt sie den Blick auf die Kaffeetasse gerichtet. »Er hat vor dem Büro einer Ölgesellschaft demonstriert – ich glaube, es war Occidental. Er protestierte gegen Bohrungen auf dem Land von Indios, in den Wäldern eines Stamms, der kurz vor der Ausrottung stand. Er und ein paar Freunde. Sie wurden von Soldaten angegriffen, verprügelt und ins Gefängnis geworfen, obwohl sie nichts Illegales getan hatten. Sie standen nur friedlich vor dem Gebäude, schwenkten Plakate und sangen.« Sie sah zum Fenster hinaus. »Sie haben ihn fast sechs Monate im Gefängnis festgehalten. Er hat uns nie erzählt, was dort passiert ist, aber als er rauskam, war er ein anderer Mensch.«
Das war das erste von vielen solchen Gesprächen mit Paula. Heute weiß ich, daß diese Unterhaltungen den Boden für die kommenden Ereignisse bereiteten. Ich war innerlich zerrissen, doch noch beherrschten mich der Gedanke an Geld und meine anderen Schwächen, die die NSA vor zehn Jahren beim Bewerbungsgespräch analysiert hatte.
Paula zwang mich, das zu erkennen und mich den Gefühlen zu stellen, die hinter meiner Begeisterung für Piraten und andere Rebellen verborgen waren. So half sie mir, den Weg zu meiner Wandlung weiter zu beschreiten. Abgesehen von meinem persönlichen Dilemma half mir die Zeit in Kolumbien auch, den Unterschied zwischen der alten amerikanischen Republik und dem neuen Weltreich zu erkennen. Die Republik bot der Welt Hoffnung. Ihre Grundlage war nicht materialistischer, sondern moralischer und philosophischer Natur. Sie basierte auf den Prinzipien der Gleichberechtigung und Gerechtigkeit für alle. Sie konnte aber auch pragmatisch sein, war nicht nur eine Utopie, sondern eine lebendige, atmende, großzügige Einheit. Sie konnte die Arme ausbreiten und bot den Geknechteten Zuflucht. Sie war eine Inspiration, gleichzeitig aber auch eine Macht, mit der man rechnen mußte. Wenn nötig, wurde sie aktiv, wie etwa im Zweiten Weltkrieg, als sie die Prinzipien verteidigte, für die sie stand. Die Institutionen, die die Republik bedrohen (die Konzerne, Banken und der eigene Verwaltungsapparat), könnten auch dazu eingesetzt werden, einen grundlegenden Wandel auf der Welt zu bewirken. Solche Einrichtungen verfügen über die Kommunikationsnetzwerke und Transportsysteme, die notwendig sind, um Krankheiten, dem Hunger auf der Welt und sogar Kriegen ein Ende zu machen – wenn man sie nur dazu bewegen könnte, einen solchen Kurs einzuschlagen.
Das globale Imperium ist dagegen die Nemesis der Republik. Es dreht sich nur um sich selbst, dient sich selbst, ist gierig und materialistisch, ein System, das auf dem Merkantilismus basiert. Wie bei den anderen Weltreichen vor ihm öffnen sich seine Arme nur, um Ressourcen anzuhäufen, alles in Sichtweite zu packen und in seinen unersättlichen Rachen zu stopfen. Ihm ist jedes Mittel recht, um mehr Macht und Reichtum an sich zu reißen und die Herrschenden zu bereichern. Als ich diesen Unterschied begriff, verstand ich auch meine eigene Rolle besser. Claudine hatte mich gewarnt; sie hatte mir ehrlich gesagt, was man von mir erwartete, wenn ich die Stelle bei MAIN annahm. Dennoch brauchte ich die Erfahrungen in Ländern wie Indonesien, Panama, dem Iran und Kolumbien, um die ganze Tragweite meines Handelns zu verstehen. Und es brauchte die Geduld, Liebe und persönliche Geschichte einer Frau wie Paula.
Ich war der amerikanischen Republik gegenüber loyal, aber was wir mit der neuen, subtilen Form des Imperialismus verbreiteten, war das finanzielle Äquivalent zu dem, was wir in Vietnam mit militärischen Mitteln hatten erreichen wollen. Südostasien hatte uns gelehrt, daß der Einsatz von Militär seine Grenzen hat. Die Wirtschaftsexperten hatten darauf reagiert und einen besseren Plan entwickelt, und die Agenturen für Ent-
wicklungshilfe und die privaten Firmen, denen sie dienten (oder, genauer gesagt, die von ihnen bedient wurden) hatten den Plan umgesetzt. Auf allen Kontinenten gab es Länder, in denen ich Männer und Frauen für amerikanische Firmen arbeiten sah. Obwohl sie nicht offiziell Teil des EHM-Netzwerks waren, beteiligten sie sich doch an etwas, das viel bösartiger war als die kühnste Verschwörungstheorie. Wie viele Ingenieure bei MAIN waren diese Mitarbeiter blind für die Folgen ihres Handelns, ja, sie waren sogar überzeugt, daß die Sweatshops und Fabriken, in denen Schuhe oder Autoteile hergestellt wurden, halfen, die Armut zu überwinden. Sie erkannten nicht, daß die Armen tiefer in eine Sklaverei getrieben wurden, die an die mittelalterliche Grundherrschaft oder die Plantagen der Südstaaten erinnerte. Wie bei den frühen Formen der Ausbeutung wurden die modernen Sklaven oder Leibeigenen so sozialisiert, daß sie glaubten, es gehe ihnen besser als den armen Seelen, die in den wirtschaftlichen Randgebieten lebten, in den dunklen Niederungen Europas, dem Urwald von Afrika oder in der Weite jenseits der amerikanischen Siedlungsgrenze.
Der innere Kampf, ob ich weiter bei MAIN arbeiten oder kündigen sollte, wurde zu einem offenen Konflikt. Es gab keinen Zweifel daran, daß mein Gewissen mir riet, die Firma zu verlassen, aber die andere Seite, sozusagen der Betriebswirt in mir, zweifelte noch. Mein eigenes Reich wurde immer größer; ich ergänzte meine verschiedenen Portfolios um Mitarbeiter, Länder und Aktien und schmeichelte damit auch meinem Ego. Geld und ein großzügiger Lebensstil waren verführerisch, ebenso der Adrenalinstoß, den einem die Macht gab. Aber ich erinnerte mich auch an die Warnung, die Claudine mir einst gegeben hatte. Ich könnte niemals aussteigen. Natürlich schnaubte Paula verächtlich, als ich ihr von dieser Warnung erzählte. »Woher will sie das wissen?« Ich wies darauf hin, daß Claudine in vielen Dingen Recht gehabt hatte. »Das ist schon lange her. Das Leben ändert sich. Außerdem, was macht es für einen Unterschied? Du bist zutiefst unglücklich. Was kann Claudine oder sonst jemand dir antun, das noch schlimmer wäre?«
Paula wiederholte das immer wieder, und schließlich stimmte ich ihr zu. Ich gestand ihr und mir ein, daß all das Geld, die Abenteuer und der Ruhm nicht mehr die Hektik, die Schuldgefühle und den Streß rechtfertigten. Als MAIN-Partner wurde ich reich, und ich wußte, wenn ich weiterhin Partner blieb, saß ich für immer in der Falle. Eines Tages gingen wir am Strand in der Nähe der alten spanischen Festung in Cartagena spazieren, ein Ort, der lange unzähligen Piratenangriffen standgehalten hatte. Da unterbreitete mir Paula eine Idee, auf die ich selbst nicht gekommen war. »Was, wenn du keinem Menschen etwas von dem verrätst, was du weißt?«, fragte sie. »Du meinst … ich soll einfach schweigen?« »Genau. Gib ihnen keinen Grund, etwas gegen dich zu unternehmen. Besser noch, gib ihnen allen Grund, dich in Ruhe zu lassen und keinen Staub aufzuwirbeln.« Das ergab einen Sinn – ich fragte mich, warum ich nicht selbst darauf gekommen war. Ich würde keine Bücher schreiben oder sonst irgendwie die Wahrheit aufdecken, wie ich sie sah. Ich würde keinen Kreuzzug führen, sondern ein ganz normaler Mensch werden, mich darauf konzentrieren, das Leben zu genießen, zu reisen, vielleicht sogar mit einer Frau wie Paula eine Familie zu gründen. Ich hatte genug, ich wollte einfach nur weg.
»Alles, was Claudine dir beigebracht hat, ist eine Täuschung«, fügte Paula hinzu. »Dein Leben ist eine Lüge.« Sie lächelte herablassend. »Hast du in letzter Zeit mal einen Blick in deine Personalakte geworfen?« Ich gab zu, daß ich das nicht getan hatte. »Tu es«, riet sie. »Ich habe neulich deine Unterlagen auf Spanisch gelesen. Wenn die
englischen auch so sind, wirst du sie sehr aufschlußreich finden, glaube ich.«