2022/08: Folgen der Sanktionen: Deutschland verliert sein Geschäftsmodell
von Gert Ewen Ungar
Das Sanktionsregime des Westens bedeutet vor allem für die EU das vorläufige Ende des Prozesses der Globalisierung. Von den großen transnationalen Zusammenschlüssen wie beispielsweise der Erweiterung der BRICS und der Vertiefung der Zusammenarbeit der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit wird die EU wirtschaftlich nicht profitieren können. Sie hat sich selbst ins Abseits sanktioniert.
Das trifft ein EU-Land besonders hart, das seine Wirtschaft wie kein anderes auf die Anforderungen der Globalisierung ausgerichtet hat: Deutschland. Mit dem Ende der Teilhabe der EU am Prozess der Globalisierung verliert Deutschland sein Geschäftsmodell. Es zählt damit zu den ganz großen Verlierern des Ukraine-Konflikts.
In den letzten Dekaden wurden in zahlreichen Verhandlungsrunden Handelshemmnisse abgebaut und staatliche regulatorische Eingriffe in die Märkte durch internationale Handelsregeln unterbunden. Ziel dabei war es, einen einzigen Indikator global zu etablieren, der künftig nach Kriterien von Effizienz und Wirtschaftlichkeit die Wirtschaft weltweit steuern würde: den Preis. Kaum ein anderes Land hat in den letzten beiden Jahrzehnten davon derart profitiert wie Deutschland.
Als Deutschland 2003 vom deutschen Ökonomen Hans-Werner Sinn zum “kranken Mann Europas” erklärt wurde, reagierte die Politik zügig. Dass die ökonomische Schwäche vor allem mit den Kosten der Wiedervereinigung zu tun hatte, ließen Sinn und mit ihm die deutschen Gazetten nicht gelten. Eine umfassende Reform musste her.
Die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder stellte zu Beginn ihrer zweiten Amtszeit die Agenda 2010 vor. Sie bedeutete einen umfassenden Umbau des deutschen Sozialstaates.
Die Agenda 2010 trägt der Logik des Preismechanismus in einer globalisierten Welt Rechnung. Der unter dem Titel Agenda 2010 in Angriff genommene Umbau, der den Deutschen trotz der rigorosen Einschnitte mit der wohlklingenden Vokabel “Reform” schmackhaft gemacht wurde, sorgte für eine Senkung des allgemeinen Lohnniveaus. Dies machte deutsche Waren im Ausland günstiger.
Die Macht der Gewerkschaften wurde beschnitten, die Bindung an Flächentarifverträge gelockert. Es wurde in Deutschland der größte Niedriglohnsektor in Europa geschaffen. Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und der Verkürzung des Bezugs von Arbeitslosengeld wurde der Zwang zur Arbeitsaufnahme erhöht. Als zumutbar gilt jede Form von Arbeit. Der Staat drohte seinen Bürgern bei mangelnder Compliance mit dem sozialen Absturz. All das war im Interesse des deutschen Exportmodells.
Die Senkung der sogenannten “Lohnnebenkosten” war ebenfalls eine Maßnahme, welche die deutschen Produkte gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten verbilligte. Die Senkung der Beiträge zur Sozial- und Rentenversicherung für Arbeitgeber stellt de facto eine Lohnkürzung dar. Mit diesem Maßnahmenpaket gelang es, die Konkurrenzfähigkeit deutscher Produkte auf den Weltmärkten zu erhöhen.
Deutschland war seitdem regelmäßig “Exportweltmeister”. In Kauf genommen hat man dafür einen Rückgang der Binnennachfrage. Zugunsten der deutschen Exportwirtschaft lebten die Deutschen unter ihren Verhältnissen, verzichten auf Urlaub und größere Anschaffungen. Aus dem deutschen Hang zum Sparen wurde für viele Deutsche ein Zwang zum Sparen.
Gleichzeitig nutzten deutsche Konzerne die Liberalisierung des Welthandels und verlagerten die Herstellung von Vorprodukten aus Kostengründen ins Ausland. Auch damit konnten die Preise deutscher Produkte gesenkt werden. Kehrseite der Medaille ist, dass damit jene globalen Lieferketten entstanden, welche die deutsche Industrie in Krisenzeiten besonders anfällig macht. Die Lockdowns während der Corona-Pandemie haben die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von diesen Lieferketten in aller Deutlichkeit gezeigt. Umso erstaunlicher ist es, dass das Sanktionsregime der EU Lieferketten aus politischen Gründen erneut unterbricht.
Flankiert wurden all diese preissenkenden Maßnahmen deutscher Politik von einem weiteren Großprojekt. Im Jahr 2005 begann der Bau der Nordsee-Pipeline Nord Stream 1.
Wenn sich heute die Grünen populistisch über angebliche politische Fehlentscheidungen der Merkel-Regierungen mokieren, welche die Abhängigkeit von russischem Gas erhöht haben sollen, wirkt das vor dem Hintergrund, dass alle Planungsarbeiten zu Nord Stream 1 in ihre Regierungszeit fallen, besonders verlogen.
2011 wurde Nord Stream 1 in Betrieb genommen und versorgt seitdem Deutschland zuverlässig mit günstigem russischem Gas. Auch das war der exportorientierten deutschen Wirtschaft dienlich.
Der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands beruht also auf drei Säulen: Dem politisch gewollten und geförderten Lohndumping, der Auslagerung von Teilen der Produktion ins Ausland sowie auf der Verfügbarkeit von günstiger russischer Energie. Diese Maßnahmen haben deutsche Produkte auf dem Weltmarkt konkurrenzlos günstig gemacht.
Unter dem Slogan „Exportweltmeister“ wurde das bundesrepublikanische Geschäftsmodell vom deutschen Mainstream in regelmäßigen Abständen abgefeiert, ohne die Ursachen für den vermeintlichen Erfolg genauer in Augenschein zu nehmen. Weite Teile der deutschen Presse erklärten den wirtschaftlichen Erfolg damit, dass es in Deutschland einfach ganz viele geniale Ingenieure und sehr fleißige Arbeiter gäbe. So einfach ist die Welt des deutschen Qualitätsjournalismus.
Im Hinblick auf die Fetischisierung des Begriffs Exportweltmeister durch den deutschen Qualitätsjournalismus zeigt sich nämlich ein tiefes Missverständnis. Deutsche Produkte finden in der Welt nicht deswegen Absatz, weil sie so gut sind. Sie finden deswegen Absatz, weil sie im Verhältnis zum Preis gut sind. Treten andere Wettbewerber auf, welche die gleiche Qualität zu einem günstigeren Preis anbieten können, werden deutsche Produkte abgelöst. Man kann für den Bruchteil einer historischen Sekunde noch von seinem Image leben, aber letztlich entscheidet schlicht der Preis.
Für die besonders energieintensive deutsche Wirtschaft sind daher hohe Energiepreise ein existenzielles Problem. Das deutsche Exportmodell erweist sich endgültig als nicht zukunftsfähig. Dieses Wirtschaftsmodell bricht jetzt zusammen.
Mit ihrem Sanktionsregime hat die EU vor allem Deutschland sanktioniert. Mit dem Verzicht auf günstige russische Energieträger sorgt die EU für einen Preisschub bei deutschen Produkten, der sich auch auf ihre Konkurrenzfähigkeit auswirken wird.
Soll das Sanktionsregime erhalten bleiben, bleiben als Reaktion auf den Preisauftrieb lediglich erneute Lohnsenkungen, wenn man das deutsche Geschäftsmodell retten möchte. Ob sich diese erneute Repression in einem ohnehin schon kontinuierlich repressiver werdenden Deutschland durchsetzen lässt, kann bezweifelt werden.
Schon ohne das zweifelhafte Mittel erneuter Lohnsenkungen fürchtet die Politik bedingt durch steigende Energiekosten Volksaufstände. Eine Diskussion über Lohnsenkungen zur Stärkung des deutschen Exportmodells würde den Zusammenhalt der deutschen Gesellschaft weiter belasten.
Der Fragilität der Lieferketten ließe sich zudem nur durch eine Rückverlagerung der Produktion begegnen. Eine wenig wahrscheinliche Option.
Die deutsche Wirtschaft ist zum Opfer des Krieges geworden. Die Annahme, aufgrund der Stärke der deutschen Wirtschaft ließe sich “Russland ruinieren”, war falsch. Dieser Irrglaube wurzelte in einer mangelhaften Analyse jener Faktoren, von denen die deutsche Wirtschaft tatsächlich abhängig ist.
Dem deutschen Geschäftsmodell wird die Welt allerdings keine Träne hinterherweinen. Auch auf Solidarität und Unterstützung bei den transatlantischen und europäischen Partnern darf Deutschland nicht hoffen. Das deutsche Modell war seit Jahren Anlass für Streit, denn es bedeutet, dass Deutschland seine Arbeitslosigkeit und seine Schulden ins Ausland exportiert. Auf dem Rücken der in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer wurden die Produzenten in anderen Ländern in Grund und Boden konkurriert. Durch den deutschen Handelsbilanzüberschuss entstanden dort Schulden.
Insbesondere die Länder der Euro-Zone werden den Zusammenbruch begrüßen, denn das verschafft ihren heimischen Produzenten trotz des aktuell schwierigen Umfelds wieder Luft zum Atmen. Auf Deutschland aber kommen düstere Zeiten zu.
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