2017/02: Dieses jüdische Imperium reichte weit nach Europa
Im Jahr 860 kam es in Itil an der unteren Wolga zu einem bemerkenswerten Schlagabtausch. Je eine hochrangig besetzte Delegation aus dem Byzantinischen Reich und aus dem Abbasidenkalifat von Bagdad rangen um die Frage, welche Religion die bessere sei, Christentum oder Islam. Als Dritte im Bunde meldeten sich jüdische Schriftgelehrte zu Wort. Aufgefordert zum Disput hatte sie kein Geringerer als der Khagan der Chasaren, eines Steppenvolkes, das innerhalb weniger Generationen ein riesiges Reich erobert hatte, das von der Ukraine im Westen bis in den Norden Irans reichte. Entsprechend wertvoll sollte der Lohn sein: Dem siegreichen Gott würden sich die Chasaren unterwerfen und seine Religion annehmen.
Die Christen unter Führung des späteren Slawenapostels Kyrill sollen erklärt haben, dass der Islam auf jeden Fall schlimmer sei als das Judentum. Mit gegenteiliger Stoßrichtung meinten die Muslime dies auch. Daraus zog der Khagan seinen eigenen Schluss: Zweimal habe man zugegeben, dass die Religion der Israeliten besser sei. „Und deshalb entscheide ich mich im Vertrauen auf die Gnade Gottes und die Macht des Allmächtigen für die Religion Israels.“
So überlieferte ein Gelehrter hundert Jahre später eine Entscheidung, die vorher noch kein Volk außer den Juden getroffen hatte. Das Gros der Chasaren, auf jeden Fall ihre Führungsschicht, nahm den mosaischen Glauben an. Ob sich die Episode wirklich so zugetragen hat, ist eine offene Frage, auf jeden Fall gibt sie der englische Historiker Peter Frankopan in seinem Buch „Licht aus dem Osten“ in aller Ausführlichkeit zum Besten. Als „eine neue Geschichte der Welt“ haben Kritiker seinen Versuch gerühmt, den Nabel der Weltgeschichte in den Nahen und Mittleren Osten zu verlegen. Andere halten dem entgegen, dass der Autor manche Fakten und Linien zugunsten seiner messianischen Botschaft gebeugt hat. Dass er dem Imperium der Chasaren ein eigenes Kapitel gewidmet hat, zeigt zumindest, wie sehr der Wechsel der Perspektive große Geschichten wieder ins Licht zu holen vermag.
Die Chasaren (Türk., etwa „Vagabunden“) waren ein turk-altaischer Völkerverband der eurasischen Steppe, der ab dem 3./4. Jahrhundert im Blickfeld der Hochkulturen auftauchte. Spätestens im 7. Jahrhundert setzten sie sich an der unteren Wolga fest und gaben ihre nomadische Lebensweise weitgehend auf. Denn sie entdeckten eine lukrativere wirtschaftliche Grundlage ihrer Existenz: den Handel mit Pelzen.
Felle von Raubtieren wie Zobel, Nerz, Blaufuchs oder Hermelin waren seit Langem begehrte Handelsgüter. Sie boten außergewöhnlichen Schutz vor Kälte und ihre Seltenheit machte sie zu idealen Objekten aristokratischer Repräsentation. Je tiefer die Temperaturen im Winter, desto dichter die Pelze. Die gab es vor allem im nördlichen Flussnetz der Wolga, das weit in den Norden und Osten Russlands reicht. Außerdem erwies sich der lange Flusslauf als idealer Handelsweg nach Süden, zu den Abnehmern in den Großreichen zwischen Iran und Mittelmeer. Pelze waren zudem leicht zu transportieren, sodass sie in manchen Gebieten als regelrechte Währung gebraucht wurden. Moderne Historiker haben errechnet, dass pro Jahr etwa eine halbe Million Tierfelle ihren Weg aus dem Norden durch die Steppe nach Süden fanden.
Die Schlüsselstellung an dieser „Pelzstraße“ besetzten die Chasaren, als sie die Bulgaren verdrängten und sich an der Mündung der Wolga ins Kaspische Meer festsetzten. Dass sie von dort aus ein riesiges Imperium begründen konnten, verdankten sie den Arabern, allerdings auf verschlungenen Wegen.
Als die Heere der Omayyaden von Damaskus im 7. und 8. Jahrhundert ein Weltreich eroberten, stellten sich ihnen im Kaukasus die Chasaren entgegen – und siegten. Dies sicherte ihnen die Unterstützung einer Reihe von Nachbarstämmen, die sich unter ihrer Führung vereinten, schreibt Peter Frankopan. Zugleich wurden sie damit vom Kaiser in Konstantinopel als Partner anerkannt. Andererseits eröffnete sich den chasarischen Händlern mit dem Reich der Kalifen ein gigantischer Absatzmarkt, der nach Pelzen und anderen wertvollen Handelsgütern wie Sklaven oder Pferden gierte und dessen Eliten auch das nötige Kleingeld hatten, sie zu bezahlen.
Unter den Kaufleuten, die sich auf den ebenso gefährlichen wie einträglichen Fernhandel spezialisiert hatten, gab es eine große Gruppe Juden. Frankopan zitiert aus einer Quelle, nach der sie fließend „Arabisch, Persisch, Lateinisch, Fränkisch, Andalusisch und Slawisch“ sprachen und zwischen Mittelmeer, Indien und China aktiv waren. Ein Zentrum war die Stadt Ray unweit der südlichen Küste des Kaspischen Meeres. Ein arabischer Autor nennt sie im 10. Jahrhundert das „Handelszentrum der Welt“. Aber die Chasaren kamen auch im Westen, im Kaukasus, mit Juden in Kontakt. Dort existierten zahlreiche jüdische Gemeinden, die durch die intolerante Religionspolitik byzantinischer Kaiser weiteren Zuzug erhielten.
Es gibt Hinweise darauf, dass sich die Chasaren bereits um 800 dem mosaischen Glauben öffneten. Nicht zuletzt mag das Selbstbewusstsein, neben Byzanz und Kalifat die dritte Großmacht der Zeit zu sein, sie zu diesem religionspolitischen Statement bewogen haben. Archäologische Funde zeigen, wie sich im 9. Jahrhundert die Begräbnisriten änderten und Grabbeigaben verschwanden. Gleichwohl boten die Hauptstadt Itil und die zahlreichen Siedlungen und Städte, die auf der Grundlage des Reichtums entstanden, ein Beispiel für kosmopolitische Offenheit und religiöse Toleranz. „Es gab sogar getrennte Gerichte, die Streitfragen gemäß den unterschiedlichen Gewohnheitsrechten entschieden“, schreibt Frankopan.
Die Macht ihres Imperiums, das bis an den Rand der Balkanhalbinsel und in die nördliche Waldsteppe reichte, fand ihren Niederschlag in ganz ungewöhnlichen Ehrungen. Zwei byzantinische Kaiser nahmen chasarische Prinzessinnen zur Frau. Tzitzak, die den griechischen Namen Irene annahm, wurde die Mutter Leos IV. Ihr Brautkleid soll eine regelrechte Modewelle in Konstantinopel ausgelöst haben.
Wie die Waräger Russland prägten
Bis weit ins 10. Jahrhundert hinein erwiesen sich die Heere des Chasarenreichs, in denen auch muslimische Söldner dienten, als kampfstark genug, ihren gefährlichen Feind im Westen auf Distanz zu halten. Es handelte sich um Normannen (Waräger), die in Nowgorod und Kiew die Handelsreiche der Rus errichtet hatten und alles taten, um in den lukrativen Fernhandel mit dem Orient einzubrechen. Vor allem strebten sie nach den lukrativen Pelzen des Wolgagebiets, die deutlich höhere Preise erzielten als die Eichhörnchenfelle, die ihnen die Slawenstämme als Tribut entrichteten.
Das Wiedererstarken von Byzanz und der Machtverfall der Abbasiden verschob die Handelsströme Ende des 10. Jahrhunderts nach Westen. Zur gleichen Zeit, um 965, drangen die Kiewer Rus bis ans Kaspische Meer vor und plünderten Itil. „Wenn an einem Zweig noch ein Blatt war, riss es einer der Rus ab und nahm es mit“, schrieb ein Chronist, „keine einzige Traube, nicht einmal eine Beere blieb übrig.“ Von da an waren es die Waräger, die mit edlen Tuchen, Gold, Silber, Wein, verschiedenen Früchten, Pelzwerk, Wachs, Honig, Pferden und Sklaven handelten, wie die altrussische Nestorchronik aufzählt.
Die Erinnerung an die Chasaren, die keine eigene Schriftkultur entwickelten, verblasste schnell. Erst 1000 Jahre später begaben sich Wissenschaftler und Schriftsteller auf die Spurensuche. Populär wurde die These des jüdischen Publizisten Arthur Koestler, der in seinem Buch „Der dreizehnte Stamm“ (1976) die These aufstellte, das aschkenasische (osteuropäische) Judentum stamme überwiegend von den Chasaren ab. Neuere DNA-Untersuchungen konnten das nicht bestätigen. Dennoch geistert die Behauptung immer noch durch das Reservoir antisemitischer oder antiisraelischer Polemik.
Die Chasaren, macht Peter Frankopan mit seinen Ausführungen deutlich, haben diese Instrumentalisierung nicht verdient.
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