2005/05: Was passiert beim Orgasmus im Gehirn?

Veröffentlicht: 23.05.2015

 

Viele fiebern auf ihn hin. Aber warum ist der Orgasmus eigentlich so befriedigend? Und was passiert dabei im Gehirn?

Die Antwort der Redaktion lautet:

Barry Komisaruk, Rutgers University: Während des Orgasmus ist die Aktivität des Gehirns größer als zu jeder anderen Zeit – sowohl bei Männern als auch bei Frauen.

Die erste Gehirnregion, die aktiv wird, ist der genitale sensorische Cortex, der in der Scheitelmitte sitzt (Lobulus paracentralis). Wir haben herausgefunden, dass die verschiedenen Geschlechtsorgane jeweils unterschiedliche Regionen des genitalen Cortex stimulieren. Dass Frauen die Stimulation der Vagina oder des Muttermunds gar nicht direkt spüren können, hat sich so als Mythos entpuppt. Je mehr erotisch sensible Körperregionen gleichzeitig stimuliert werden, desto größer ist die im genitalen Cortex aktivierte Region, und desto intensiver kann ein Orgasmus werden.

 

Der genitale Cortex aktiviert das limbische System, zum Beispiel den Hippocampus und die Amgygdala, die beide bei der Emotionsverarbeitung eine Rolle spielen. Die Amygdala trägt auch dazu bei, dass Herzfrequenz und Blutdruck jetzt ansteigen.

 

Während sich der Orgasmus aufbaut, löst das Kleinhirn vielfältige Muskelspannungen aus. In der Insula und im Gyrus cinguli beobachten wir derweil Aktivität, die wir sonst sehen, wenn jemand Schmerz empfindet. Das ist interessant, weil die Schmerzempfindlichkeit während des Orgasmus eigentlich deutlich nachlässt. Dazu trägt sicherlich auch das Schmerz-Unterdrückungssystem des Gehirns bei, das ebenfalls stark während des Orgasmus aktiviert wird: das periaquäduktale Grau und die Raphe-​Kerne, die Serotonin ins Rückenmark schicken. Es kann aber auch sein, dass die Insula und der Gyrus cinguli selbst eine schmerzhemmende Wirkung während des Orgasmus haben – im Hirnscanner sieht man keinen Unterschied zwischen Hemmung und Aktivierung. Ihre Wirkung auf die Gesichtsmuskeln scheint allerdings ähnlich zu sein wie beim Schmerz: das orgasmische Gesicht ähnelt stark dem schmerzverzerrten.

 

Auf dem Höhepunkt des Orgasmus spielen vor allem der Nucleus accumbens und der Hypothalamus eine Rolle. Der Nucleus accumbens ist Teil des Lustzentrums des Gehirns und reagiert sehr empfindlich auf Dopamin. Wie wichtig Dopamin für die Erotik ist, zeigte schon vor Jahrzehnten die Beobachtung, dass Parkinson-​Patienten, die mit der Dopamin-​Vorstufe L-​Dopa behandelt wurden, plötzlich anfingen, den Krankenschwestern nachzustellen. Auch manche Drogen wie etwa Kokain stimulieren das Dopamin-​System – viele Konsumenten beschreiben den Kokainrausch als orgasmisch.

 

Die Zellen im vorderen Teil des Hypothalamus produzieren Oxytocin, das auch als „Kuschelhormon“ bekannt ist und zum starken orgasmischen Wohlgefühl beitragen mag. Auch Oxytocin treibt Herzschlag und Blutdruck in die Höhe, und es sorgt auch dafür, dass sich die Pupillen beim Orgasmus weiten.

 

Wenn der Orgamus dann vorbei ist, hört das Hirnfeuerwerk schlagartig auf. Und bei Männern – aber nicht Frauen! – bleibt es auch erstmal still. Sie erleben eine so genannte Refraktärzeit. Während dieser können sie eine erneute Stimulation der Genitalien zwar spüren, doch im Orgasmussystem im Gehirn tut sich derweil nichts. Je besser wir die Refraktärzeit und die genaue Sequenz und Kontrolle des Erotikempfindens im Gehirn verstehen, desto eher könnten wir in Zukunft begreifen, was bei Personen schiefläuft, die keinen Orgasmus erleben können. Vielleicht können wir diese Störung dann eines Tages besser behandeln.

 

Aufgezeichnet von Nora Schulz