»Was, feindliches Ausland?« Der Leutnant am GrenzpostenTschonhar betrachtet misstrauisch meinen deutschen Pass. Er spricht mit seinem Berkut-Kameraden, blickt uns an. Der Pass ist eingezogen. Das Gepäck bleibt hier. Ihr folgt dem Wachhabenden. Dawai!« Mein Begleiter Sergey bekommt seinen russischen Pass zurück. Wir werden wir durch das Gebäude des Checkpoints geführt, über einen Hof, dann eingesperrt in den »Käfig«. Dort warten bereits weitere Männer aus der Ukraine, bis die Berkut-Miliz entscheidet, was mit ihnen geschehen wird. Der »Käfig«, das ist ein acht mal zehn Meter großer Verschlag aus Eisengittern. Beim Blick in den Himmel über der Krim sehen wir durch Metallstäbe. Wie die anderen Gefangenen müssen wir stehen, dürfen nicht reden. Es gibt kein Wasser, keine Gelegenheit, die Notdurft zu verrichten. Nur stehen und warten. Warten und den Mund halten. Warten auf das Verhör. Es ist der 28. September 2022 im Niemandsland zwischen der russisch besetzten Oblast Cherson in der Ukraine und den Sywasch-Sümpfen auf der Krim. Wir werden »filtriert«.

Ich weiß kaum, wie beginnen, wenn ich auch manchmal im Scherz meinem Freund Bernd-Rainer Barth die Schuld an allem in die Schuhe schiebe. Der Historiker hatte mir vor Jahren in London den Floh mit Sándor Radós »Führer durch die Sowjetunion« von 1928 ins Ohr gesetzt. Beim Blättern in der alten Schwarte kam mir die Idee, auf seinen Spuren durch die Ukraine zu reisen. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, im Herzen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges und am Rand eines atomaren Desasters zu landen. Schon gar nicht fiel mir ein, dass die Fahrt zu einer Bildungsreise in den deutschen Journalismus geraten könnte. Zumindest das hätte ich besser wissen müssen. Denn es waren große Teile der Medien, die mit einer Mischung aus Hurra-Patriotismus und Halbwahrheiten jene Kriegshysterie herbeigeschrieben haben, die den nüchternen Blick auf den russischen Überfall auf die Ukraine und seine Ursachen vernebelt. Sachfremde Professoren denunzierten meine Reise in den Donbass als Versuch, »Scheinobjektivität« herzustellen. So, als ob interessengeleitete Kopfgeburten die Erfahrung zu prägen hätten und nicht umgekehrt. So, als ob mich der Kontakt zu Russen schon zu einer Art Vaterlandsverräter machte. Die Guten im Westen, die Bösen im Osten – dieses Denken besticht nicht nur durch die Primitivität der Weltsicht, sondern auch durch seinen unduldsamen Ausschließlichkeitsanspruch. Aber dies zeigt ja nur das Maß an Selbstgleichschaltung akademischer Eliten. Untrennbar greifen Byzantinismus, ideologische Manipulation und wirtschaftlicher Zwang beim Ringen um Anstellungen und Vertragsverlängerungen ineinander. (1) Der Akademiker erliegt dem Dämon der Macht und bringt dessen Gedanken unters Volk.(2)

»Der olivgrüne Hubschrauber Mi-8 berührt im Tiefflug fast die Baumkronen. So will er der feindlichen Luftaufklärung entgehen. Der Pfeil des Höhenmessers pendelt bei 1200 über dem Meer. Dichter, grüner Wald hinter uns, unter uns, vor uns bis zum Horizont, der ihn vom wolkenlosen Blau des Himmels trennt. Kein schöner Anblick und eine trügerische Idylle. Denn in dieser Gegend ist niemand vor dem Angriff feindlicher Patrouillen sicher. Hier sind sie ständig unterwegs, und niemand ist vor Überraschungen sicher. Können sie den Hubschrauber auch im Tiefflug vom Himmel holen? Das ohrenbetäubende Dröhnen der Rotoren kann uns verraten – in diesem Moment steigt auch schon pfeifend eine Signalrakete auf. Trocken rattern die Kalaschnikows.« So beginnt der Roman Ein Augenblick der Freiheit meines Freundes Denis Simonenko aus Simferopol.(3) Er beschreibt darin auch den Angriff auf die strategisch wichtige Schlangeninsel einen Tag nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Denis Simonenko hat das im Jahr 2004 geschrieben, 18 Jahre vor dem Angriff  – Chronik einer angekündigten Katastrophe. Die US-amerikanische Denkfabrik Stratfor entwarf bereits 2015 ein Szenario des kommenden Krieges.(4)

Nichts von alldem kam überraschend, auch wenn sich die deutschen Intellektuellen aufgeführt haben wie Schlafwandler. Haben sie wirklich geglaubt, die neue neoliberale Ordnung auf dem alten Kontinent und die NATO-Osterweiterung würden auch von jenen hingenommen, die sich auf der Verliererseite sehen? Die Schöpfer der »herrschenden Fiktionen« erleben das »Fiasko der alten Werthaltungen«(5), wie es Hermann Broch ausgedrückt hat, umso mehr, je öfter von Werten die Rede ist, die eigene Interessen kaschieren, aber andere mit ihrem Blut verteidigen sollen. Denn gerade im Krieg bleibt von diesen Werten nicht viel. Gekämpft wird um Einflusszonen und Interessen, während die Toten in den Straßen liegen. Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador resümiert scharfsinnig die Ukraine-Politik der NATO und der Europäischen Union: »Wir liefern die Waffen, ihr liefert die Leichen. Das ist unmoralisch.« (6)

Aber nicht das Leben und Sterben der Menschen prägen unseren Blick auf die Ukraine, sondern die herrschende Meinung. Einem alten Freund fiel zu meiner Reise in den Donbass ein: »Diktatoren schütteln – das geht gar nicht.« Vielleicht sollten jene einmal geschüttelt werden, die lieber ihren Vorurteilen als ihren Augen und Ohren trauen. Recherchieren hingegen ist für mich konkrete Erfahrungswissenschaft. Im Krieg in der Ukraine sehe ich das Versagen der Politik, auch der deutschen. Dieser Krieg ist noch lange nicht vorbei, und die Lage vor Ort stellt sich völlig anders dar, als es die überwiegende Mehrheit der Medien hierzulande berichtet. Was sie zeigen, orientiert sich an der Propaganda der Ukraine und des Werte-Westens.

Während meiner Recherchen zu diesem Buch wurde ich massiv angefeindet und diskreditiert. Die Staatsschutzabteilung im Bundesinnenministerium leitete Ermittlungen ein. Das Motiv liegt auf der Hand: Wenn die Wahrheit über diesen Krieg in die Wohnzimmer gelangt, droht ein Aufstand gegen die Kriegshetzer, die für die geopolitischen Interessen der USA und die Profite der Rüstungsindustrie die Drecksarbeit machen.

Dieses Buch zeigt die verborgene, die dreckige Seite dieses Krieges, wie sie auf den rotgoldenen Feldern der Ukraine sichtbar wird. Die Felder, auf denen Blut billig ist, wie Michail Bulgakow schrieb, und auf denen seit Generationen niemand dafür bezahlt.(7)