1.2. Einleitung

Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung – auch multiple Persönlichkeiten genannt – sind Überlebende extremer Gewalterfahrungen. Das Überleben wurde ihnen möglich durch die besonders gelungene Nutzung der menschlichen Fähigkeit zur Dissoziation, das heißt zur inneren Unterbrechung der Wahrnehmung von gewaltvollen Erfahrungen und deren Abspaltung aus dem Gesamterleben des Organismus innerhalb seiner sozialen Umwelt.

Die multiple Persönlichkeit beschreibt einen Extrempol innerhalb der verschiedenen Ausformungen von dissoziativen Phänomenen. Mithilfe ihrer besonders ausgeprägten Fähigkeit zur Dissoziation gelingt es den betroffenen Menschen, immer wiederkehrende Situationen von Todesnähe zu überleben, indem sie ihre
ursprüngliche Persönlichkeit in verschiedene „Alter-Persönlichkeiten“, das heißt „alternative Persönlichkeitsanteile“ (ISSD, 1997, S.1) aufspalten und diese durch amnestische Barrieren voneinander isolieren. 

Durch ständig aufeinander folgendes Wechseln von einer Alter-Persönlichkeit in eine nächste bei gleichzeitiger amnestischer Unterdrückung der Erfahrungen jeder vorangegangenen Alter-Persönlichkeit ist es den Betroffenen möglich, die gewaltvollen Grenzverletzungen zu überstehen. Je länger die traumatischen Erfahrungen andauern, desto mehr verfestigen sich die Alter-Persönlichkeiten und werden zu einem kompakten multiplen System, welches zu seiner Aufrechterhaltung auch außerhalb von Traumasituationen Alter-Persönlichkeiten hervorbringt und in weiterer Folge das gesamte Leben der Betroffenen bestimmt.

In der vorliegenden Arbeit wird versucht, das Krankheitsbild der DIS aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Begonnen wird mit der Erklärung der Entstehung und des Erscheinungsbildes der DIS aus einer klinisch–psychologischen Sicht. Hierbei geht es vor allem um die Beschreibung der Prozesse der Entstehung von Alter-Persönlichkeiten, sowie deren Funktionalität und Artenvielfalt und ihren Wechselbeziehungen untereinander.

Da psychotherapeutische und medizinische ExpertInnen (Huber, 2010, Putnam, 2003, Deistler & Vogler, 2005) davon ausgehen, dass die Entstehung von Alter-Persönlichkeiten angelernt und im Laufe der ersten Lebensjahre der Betroffenen anzusiedeln ist – diese somit nicht von Beginn des Lebens an bestehen – sind sie der Überzeugung, dass diese Entwicklung im späteren Leben auch wieder verändert werden kann.

Dieser Veränderungsprozess muss jedoch sehr sorgfältig psychotherapeutisch begleitet werden. Ein Kennen und Verstehen der therapeutischen Erklärungsmodelle sowie der Konzepte der therapeutischen Arbeit mit traumaerfahrenen Menschen ist daher von großer Wichtigkeit. Im dritten Teil der vorliegenden Masterthese wird deshalb versucht, die Erklärungsmodelle der Integrativen Gestalttherapie zu den Themen Dissoziation und DIS zu beleuchten.

Im Anschluss daran wird im vierten Teil der Masterthese auf die konkrete therapeutische Arbeit mit traumatisierten Menschen und vor allem mit multiplen Persönlichkeiten eingegangen. Da sich die vorliegende Arbeit speziell mit den verschiedenen Aspekten therapeutischer Arbeit mit multiplen KlientInnen auseinandersetzt, werden die allgemeinen traumatherapeutischen Modelle nur kurz erwähnt. Die spezifischen Arbeitsmodelle für die Therapie mit multiplen KlientInnen werden hingegen ausführlicher besprochen.