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Taumelnder Hegemon im Aggressionsmodus – Ausdruck einer globalen tektonischen Machtverschiebung

Jochen Scholz

Die überwältigende Zahl der Konflikte in der Welt wird in der veröffentlichten Meinung in aller Regel isoliert beschrieben und kommentiert, obwohl sie sich überregional auswirken. Die westliche Welt akzeptiert nur dann Ursachenanalysen, wenn die Interessen Russlands oder Chinas thematisiert werden. Dies gilt für die Medien ebenso wie für Politik und Denkfabriken, die der Außenpolitik des »Westens« (40) und seiner Führungsmacht grundsätzlich primär altruistische Motive zubilligen. Im Folgenden wird dargelegt, dass dem Aufstieg der USA zum bislang mächtigsten Imperium der Geschichte eine über hundertjährige globale geopolitische Konzeption zugrunde liegt. Diese Konzeption hat vergangene und aktuelle Konflikte ausgelöst und stößt nunmehr mit dem Aufstieg neuer Rivalen an ihre Grenzen.


Kein noch so mächtiges Imperium kann seine Herrschaft dauerhaft sichern. Für diese Tatsache hält die Geschichte eine Fülle von Beispielen bereit. Angesichts dieser Lehre dürfte man aktuell erwarten, dass sich zumindest die zurzeit führenden Politiker, Intellektuellen und die sie begleitenden Medien über diese Zusammenhänge im Klaren sind. Die herrschende Klasse des Vereinigten Königreichs musste sich spätestens seit dem Suez-Desaster von 1956 (41) mit dem Verlust des britischen Empires arrangieren, gleichwohl leidet sie noch heute an Phantomschmerzen dieses Zusammenbruchs. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, warum die führenden Politiker in Großbritannien den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy bei seinem Kriegsverbrechen 2011 (42), dem Überfall auf Libyen, unterstützten oder ihren »Brexit« hartnäckig verteidigen.

In der Lage des ehemaligen britischen Empire befinden sich die USA noch nicht. Wenn Präsident Barack Obama 2014 in einer Rede an der Militärakademie West Point (43) die »unverzichtbare« und »außergewöhnliche« Nation beschwört, ist dies kein Zeichen eines Realitätsverlusts, sondern eher der Versuch, die amerikanischen Wähler davon zu überzeugen, dass Amerikas globale Rolle noch lange nicht zu Ende ist. Den Eliten in Wirtschaft, Denkfabriken, in Geheimdiensten und der Politik ist durchaus klar, dass aufstrebende Mächte wie China und neue Bündnisstrukturen wie die »Shanghai Cooperation Organization (SCO) (44)« die Rolle des bislang unangefochtenen Hegemons gefährden. Gleichwohl scheint die politische Klasse der USA parteiübergreifend darauf zu bauen, dass sie das »American Empire« (45) vor dem Schicksal aller früheren Imperien bewahren kann. Der US-amerikanische Politologe Chalmers Johnson warnte bereits im Jahr 2000 vor den unweigerlichen Konsequenzen der von den USA angestrebten Hegemonie über den Rest der Welt, wurde aber nicht gehört (46). Ganz im Gegenteil: Im selben Jahr veröffentlichte die neokonservative Arbeitsgruppe »Project for a New American Century« des American Enterprise Institute nach gut dreijähriger Arbeit ein Papier mit dem Titel »Rebuilding America‘s Defenses« (47). Zwar sahen die Autoren die hegemoniale Stellung der USA in der Welt durchaus gefährdet, besonders durch China. Doch glaubten sie, diese Gefahr durch eine überlegene Rüstungs-, Stationierungs- und Bündnispolitik bannen zu können. Hier mag die Euphorie des Westens nachgewirkt haben, die nach dem Ende der Blockkonfrontation das »Ende der Geschichte« (48) sah. Zu dieser optimistischen Sicht hat wohl auch der katastrophale Zustand der Russischen Föderation am Ende der Ära Boris Jelzin und dessen Unterwürfigkeit gegenüber den USA (49) in den 1990er-Jahren beigetragen.

Die Zuversicht, das »American Century« (50) bis weit in das 21. Jahrhundert verlängern zu können, hat 18 Jahre später an Verbissenheit zugenommen. Einige wichtige Veränderungen lassen sich nicht länger verleugnen: China wurde zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt und zum unverzichtbaren Lieferanten für die amerikanische Konsumwirtschaft. Seit 1980 konnte es seinen Anteil am Welt-BIP von 1,9 Prozent auf 18,7 Prozent erhöhen. Außerdem hat Putin Russland politisch, wirtschaftlich und militärisch stabilisiert und wieder zu einem wichtigen Faktor in der internationalen Diplomatie gemacht. Der aus dem Kalten Krieg resultierende westliche Schulterschluss gegen Russland bröckelt. In Europa wachsen Zentrifugalkräfte in Österreich, Tschechien, Spanien, Italien und Ungarn. Die Destabilisierung des Nahen Ostens (51) ist ins Stocken geraten. Die Bestrebungen, den Dollar im Welthandel zu umgehen, nehmen zu (52). Inzwischen treibt die Militärplaner der USA sogar die Sorge um, technologisch von China abhängig zu werden (53). China gründete die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (54) als Gegengewicht zu IWF und Weltbank, die beide von den USA dominiert werden. Die Shanghai Cooperation Organization entwickelt sich zunehmend zu einem eurasischen Integrations- und Stabilitätsanker (55). Angesichts dieser Entwicklungen schrillen in der politischen Klasse der USA die Alarmglocken. Der Hegemon stemmt sich mit allen Mitteln gegen seinen drohenden Bedeutungsverlust.

Die Vereinigten Staaten von Amerika begraben die Monroe-Doktrin. (56)

Der Weg vom Nationalstaat zum Imperium dauerte etwas mehr als ein Jahrhundert. In dieser Zeit entstand ein Welthegemon, der nach seinem eigenen Selbstverständnis »mit dem Herzen, seinem Segen und seinen Gebeten dort ist, wo immer sich Freiheit und Unabhängigkeit ausbreiten. Er wird in der Welt jedoch nicht auf die Suche nach Unholden gehen, um sie zu vernichten. (57) « Das genaue Gegenteil wurde jedoch Realität: Im 19. Jahrhundert hatten die USA den gesamten nordamerikanischen Kontinent zwischen Kanada, dem Golf von Mexiko und dem Pazifischen und Atlantischen Ozean erobert. Zu Beginn der 1890er-Jahre setzte eine Debatte ein, die über das eigene Territorium hinaus zielte und die Intellektuelle und Politiker mit unterschiedlichen Begründungen und Zielen begeistert aufnahmen und beförderten, beispielsweise der Historiker Frederick Jackson Turner (58), der Marineoffizier Alfred Thayer Mahan (59) und Senator Henry Cabot Lodge. (60) Lüftet man den Schleier des Enthusiasmus, den auch die Idee der »Manifest Destiny« (61) beförderte, bleibt – ebenso wie heute in der amerikanischen Außenpolitik – ein schlichtes strategisch- ökonomisches Motiv übrig. Denn gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der heimische Markt für die US-Wirtschaft zu klein geworden und sie hatten ein Absatz- und Auslastungsproblem. Also mussten neue Märkte erschlossen werden, die die Produktionsüberschüsse aufnehmen konnten und noch nicht von anderen Staaten kontrolliert wurden. Schwache Konkurrenten oder solche, die sich im Niedergang befanden, stellten jedoch kein Hindernis dar. So erging es Spanien 1898. Die USA unterstützten die Unabhängigkeitsbewegungen Kubas und der Philippinen gegen die Kolonialmacht Spanien militärisch, beide mussten jedoch schnell erleben, dass sie lediglich den Kolonialherren gewechselt hatten. Im Pariser Vertrag von 1898, der den spanisch-amerikanischen Krieg beendete, musste Spanien Puerto Rico, Guam und die Philippinen an die USA abtreten. Kuba blieb unter US-Besatzung und wurde 1902 durch das »Platt Amendment« Republik mit eingeschränkter Souveränität. (62) Damit bei den europäischen Kolonialmächten und Japan keine Zweifel aufkamen, dass ihnen Konkurrenz auf der Weltbühne drohte, ließ Präsident Theodore Roosevelt die mächtige »Great White Fleet« vom 16. Dezember 1907 bis zum 22. Februar 1909 einmal um den Erdball fahren. Mit dieser Aktion wollte er den Anspruch der USA als künftige Seemacht unterstreichen. (63)

Halford Mackinder: Seemacht gegen Landmacht

Zu dieser Zeit war das britische Empire die dominierende Seemacht. Diese Tatsache umschrieben Zeitgenossen mit den Worten: »das Reich, in dem die Sonne nie untergeht«. Seine Sorge, dass die Seemacht England sich allzu sicher fühle, brachte der in der anglo-amerikanischen akademischen Welt und in der Politik bestens vernetzte englische Geograph und Mitbegründer der London School of Economics (LSE), Halford Mackinder (64), 1904 in seinem Vortrag (65) vor der Royal Geographic Society zum Ausdruck. Vielmehr gelte es, die riesige eurasische Landmasse in den Mittelpunkt der britischen Globalstrategie zu stellen. Sonst bestehe die Gefahr, dass von dort aus eine wirtschaftlich und technologisch potente kontinentale Landmacht die Hegemonie der Seemacht England bedrohen könne. Dies gelte es zu verhindern, indem England Osteuropa politisch beherrsche und damit das »Herzland« kontrolliere.

Seine These fasste Mackinder in seinem 1919, rechtzeitig vor der Pariser Friedenskonferenz erschienenen Buch »Democratic Ideals and Reality« verdichtet so zusammen:

»Who rules Eastern Europe commands the Heartland.

Who rules the Heartland commands the World Island.

Who rules the World Island commands the World.«

Wenn deutsche Akademiker und Politiker Mackinders Herzlandtheorie debattieren, sehen oder begreifen sie häufig nicht, welche Auswirkungen diese auf die reale Politik zunächst Englands und in der Folge der USA hatte und bis zum heutigen Tag hat. Eine rühmliche Ausnahme ist der Historiker Hans-Christof Kraus, der an der Universität Passau lehrt. Sein Beitrag zu Syrien »Und ihr denkt, es geht um einen Diktator« erschien am 24. Juli 2012 in der FAZ. Der Untertitel lautet: »Die Reaktionen auf den Syrien-Konflikt offenbaren die geopolitische Ahnungslosigkeit mancher deutscher Kommentatoren: Zehn Minuten Nachhilfe aus gegebenem Anlass können nicht schaden. (68)« Noch heute gilt: Diese Nachhilfe kann auch unseren Politikern, Militärs und Politologen nicht schaden. Zumal Kraus erwähnt, dass der aus Holland stammende Geopolitiker Nicholas Spykman Mackinders Lehre vom Herzland weiterentwickelt und ergänzt hat, indem er auf die strategische Bedeutung der »Rimlands«, d. h. die Länder an der Randzone des Herzlandes hinwies.

Zwei Akademiker als einflussreiche Politikberater

Mackinders Einfluss auf die englische Politik zeigt sich an zwei wichtigen Positionen. In Paris gehörte er als Berater zur englischen Delegation und 1920 war er als Präsident der LSE mit der »Round Table Group« Alfred Milners verbunden, die die Gründung der einflussreichen Denkfabrik mit dem heutigen Namen »Royal Institute on Foreign Relations (Chatham House) (69)« maßgeblich beeinflusste. (70) Die ursprüngliche Absicht, ein gemeinsames anglo-amerikanisches Institut zu gründen, war während der Pariser Friedenskonferenz Gegenstand von Gesprächen zwischen dem engsten Berater Präsident Wilsons, Edward House, und britischen Delegierten. Letztlich entstanden mit der Gründung des »Council on Foreign Relations« (71) zwei formal getrennte Einrichtungen, allerdings seit dem gemeinsamen Jahr der Protagonisten in Paris mit einem quasi symbiotischen Verhältnis im personellen Bereich. Dass sich Mackinder und der amerikanische Geograph Isaiah Bowman (72) kannten, darf als gesichert gelten, da beide für ihre Delegationen in Paris beratend tätig waren. Ebenso darf als gesichert angesehen werden, dass Bowman Mackinders Heartlandtheorie schon zuvor kannte, denn er wurde 1915 zum Direktor der »American Geographical Society« ernannt und war bald ein führendes Mitglied von »The Inquiry« (73), dem Vorläufer des Council on Foreign Relations (CFR) und der ersten wichtigen Denkfabrik für die internationalen Beziehungen der USA (74). »Inquiry« entwickelte das Konzept, wirtschaftliche Expansion und globales geographisches Denken miteinander zu verbinden, das zum Ausgangspunkt für das »Amerikanische Jahrhundert« wurde. Dieses Konzept entsprach allerdings nicht der Art, wie die Europäer über ihre Kolonien herrschten, sondern nunmehr würden die Kräfte des Marktes selbst für eine globale Perspektive sorgen. (75)

Bowman setzte sich bereits Anfang 1917 für den Kriegseintritt der USA zugunsten der Entente (76) ein. Zu diesem Zeitpunkt drohte Großbritannien durch den uneingeschränkten U-Boot-Krieg Deutschlands – als Vergeltung für die britische Blockade des europäischen Festlandes – die Niederlage. Ein Sieg Deutschlands hätte sich auf die USA negativ ausgewirkt: einerseits die Inquiry-Konzepte einer globalen ökonomischen Dominanz der US-Wirtschaft empfindlich gestört, andererseits die Empfehlungen Mackinders bezüglich der Kontrolle des Herzlandes. (77) Neben diesen geopolitischen Gründen drohte der Entente der Verlust der Dollarkredite für ihre Rüstungskäufe in den USA. Diese beliefen sich damals auf die gigantische Summe von 28 Milliarden Dollar, was den Druck der Wall-Street-Banken auf Präsident Wilson sicherlich erhöhte. Am 6. April 1917 erklärte Präsident Wilson Deutschland den Krieg und legte damit den Grundstein für die künftige Rolle der USA als Weltmacht.

Roosevelts Liberal Internationalism(78): Wegbereiter der Globalisierung

Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen bezeichnen Historiker und Politikwissenschaftler gern als amerikanischen Isolationismus, u. a. deswegen, weil die USA nicht Mitglied des Völkerbundes waren. Dabei wird jedoch übersehen, dass sich Amerika nicht der Verpflichtung nach Artikel 10 der Völkerbundesakte unterwerfen wollte, die politische Unabhängigkeit jedes Mitglieds zu verteidigen, sondern eine »Außenpolitik der freien Hand« anstrebte. Zum anderen wolltedie amerikanische Außenpolitik im Gegensatz zu bisherigen Gepflogenheiten von Großmächten »im Zeichen des Internationalismus und der (ökonomischen und finanziellen, Anm. d. Verf.) Interdependenz, der gegenseitigen Verflechtung aller Länder und Lebensbereiche, sämtliche Grenzen öffnen, den Welthandel liberalisieren, und die Verfassungen aller Staaten und Gesellschaften und Länder demokratisieren …« (79) , also das ursprüngliche Konzept der »Open-Door-Politik« gegenüber China weiter entwickeln (80). Der US-amerikanische Ökonom Michael Hudson weist in seinem Buch »Finanzimperialismus« darüber hinaus auf die beherrschende Rolle hin, die die US-Regierung aufgrund ihrer Kontrolle des Schuldengeflechts gegenüber der Entente in Verbindung mit den deutschen Reparationen erlangte, so dass sie zum größten Gläubiger der Welt aufstiegen. (81)

Der schottische Geograph und Anthropologe Neil Smith hat in seinem Buch »American Empire: Roosevelt‘s Geographer and the Prelude to Globalization« die Bedeutung von Isaiah Bowman als einem der einflussreichsten Berater Franklin D. Roosevelts wiederentdeckt (82). Wie sehr sich Bowman Mackinders Konzept zu eigen gemacht hatte, geht aus einem Brief kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges hervor, den er dem Mitbegründer von Chatham House, Lionel Curtis, Chef des Balliol-College an der Universität Oxford, einen Freund aus Pariser Tagen, schrieb. Er mahnt angesichts der geopolitischen Auswirkungen des Hitler-Stalin-Paktes, dass »Deutschland und Russland um jeden Preis gegeneinander ausgespielt und eine Kette von Pufferstaaten zwischen ihnen errichtet werden müsste« (83). Das ist eine 100-prozentige Bestätigung von Hans-Christof Kraus, der in seinem »FAZ-Nachhilfebeitrag« zu Syrien schreibt: »…der unerbittliche, bis zum Ziel der bedingungslosen Kapitulation geführte Kampf Amerikas und Großbritanniens gegen die beiden das Herzland von Westen und Osten bedrohenden Achsenmächte Deutschland und Japan ist nur vor dem Hintergrund dieser geopolitischen Konzeption zu verstehen: Der Albtraum einer von Deutschland und Japan gemeinsam oder schlimmstenfalls sogar von Deutschland allein kontrollierten ›pivot area‹ im Herzen Eurasiens musste mit allen Mitteln verhindert werden. Hierin bestand das erste und wichtigste Kriegsziel Roosevelts und Churchills, dem alles andere untergeordnet wurde.«

Um dieses Ziel sicherzustellen, richtete der CFR 1939, also fast zwei Jahre vor dem US-Kriegseintritt, eine Arbeitsgruppe mit dem Namen »War and Peace Studies« ein. Diese beschäftigte sich neben militärischen vor allem mit Fragen der globalen Nachkriegsordnung sowie mit Blaupausen für die Konferenz von Bretton Woods und die Sicherheitsarchitektur nach Kriegsende (84). Bowman bekleidete hierbei eine führende Rolle.

Dass diese in ihrem Kern über 100 Jahre alte Konzeption der »pivot area« seit dem Ersten Weltkrieg zur geopolitischen Konstante im anglo-amerikanischen strategischen Denken wurde, zeigt die Entwicklung der internationalen Beziehungen in Eurasien nach dem Zweiten Weltkrieg. Die von den USA massiv beförderte (85) europäische Einigung diente neben den ökonomischen Motiven (86) vor allem der Stabilisierung der durch den Krieg unter US-Einfluss geratenen eurasischen Gegenküste. Insbesondere mit der Gründung der NATO sicherten sich die USA ihre Machtprojektion in Richtung des eurasischen Herzlandes und verstärkten diese durch über 1000
Militärbasen, die sich wie ein Ring um den »Dreh- und Angelpunkt« der Geschichte, Mackinders »pivot area« (87), legen. Im Jahr 1998 forderte Zbigniew Brzeziński in seinem Buch »The Grand Chessboard«, keine Mächtekonstellationen zuzulassen, die die US-Vorherrschaft auf dem eurasischen Kontinent herausfordern könnten. (88)

»Aber bis es soweit ist, lautet das Gebot, keinen eurasischen Herausforderer aufkommen zu lassen, der den eurasischen Kontinent unter seine Herrschaft bringen und damit auch für Amerika eine Bedrohung darstellen könnte. Ziel dieses Buches ist es deshalb, im Hinblick auf Eurasien eine umfassende und in sich geschlossene Geostrategie zu entwerfen.« (89)

Vom 28. bis zum 30. April 2000 veranstaltete das US-Außenministerium für hochrangige osteuropäische Politiker eine Konferenz in Bratislava mit dem Ziel, den Teilnehmern die Pläne der USA für die Gestaltung des Balkans und die Erweiterung der NATO nach Osten vorzustellen. Mit der Durchführung des Kongresses wurde die republikanische Denkfabrik »American Enterprise Institute« beauftragt, deren Arbeitsgruppe »Project for a New American Century« kurz danach, im September des Jahres, das erwähnte Strategiepapier »Rebuilding America‘s Defenses« herausgeben sollte. Einer der Kernpunkte lautete, zwischen Russland und Westeuropa einen Riegel aus Pufferstaaten zu legen. Willy Wimmer war in seiner damaligen Funktion als Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE eingeladen. Die vorgetragenen Hauptthesen hat er Bundeskanzler Schröder in einem Brief übermittelt. Diesen Brief hat Wimmer inzwischen öffentlich gemacht (90). Fünfzehn Jahre später erläutert der damalige Direktor des privaten, jedoch engstens mit den offiziellen Diensten der USA verbundenen Informationsdienstes STRATFOR, George Friedman, in einer Veranstaltung des »Chicago Council on Global Affairs« die langfristigen Grundzüge der US-Außenpolitik (91): Zu diesen gehöre seit hundert Jahren, ein Bündnis zwischen Russland und Deutschland zu verhindern. Wie man sich dies in der Gegenwart vorzustellen habe, veranschaulichte er graphisch auf einer Folie. Damit bestätigte er Willy Wimmers im Brief erwähnte Aussagen über das Konzept der Pufferstaaten: Es soll ein Riegel vom Baltikum über die Ukraine bis zur Türkei entstehen.

Dem italoamerikanischen Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Guido Giacomo Preparata ist folglich zuzustimmen, wenn er schreibt: »Noch nach einhundert Jahren erklärt dieses sehr einfache Modell (die Heartlandtheorie, Anm. d. Verf.) den imperialen Ausbau des anglo-amerikanischen Commonwealth perfekt. Es bietet den bleibenden Beweis, dass die Hauptzerstörer des Weltfriedens jene Seemächte sind, die unbeirrbar an der monomanischen Strategie festhalten, die eurasische Landmasse aufzusplittern … Das ist der Grund, weshalb es so dringend geboten ist, die Existenz dieser Strategie im allgemeinen Bewusstsein der Öffentlichkeit fest zu verankern, um dadurch eine intelligente Friedensbewegung zu stärken.« (92)

Vom größten Gläubiger zum größten Schuldner der Welt

Dieser Rückblick über mehr als hundert Jahre anglo-amerikanisch geprägter Weltgeschichte war nötig, um zu verstehen, dass die derzeitigen Konflikte im Nahen und Fernen Osten, in Afrika und in Europa (Ukraine, Baltikum) nicht isoliert voneinander betrachtet werden dürfen. Nur dieser Exkurs macht verständlich, warum das in Rekordtempo aufstrebende China und die unter russischer und chinesischer Ägide angestrebte eurasische Vereinigung dem Tandem aus USA und Großbritannien so bedrohlich erscheint. Wer gewohnt ist, über Jahrzehnte die wesentlichen Dinge in der Welt federführend zu bestimmen und notfalls die eigenen Vorstellungen militärisch durchzusetzen, akzeptiert nicht, wenn ihm plötzlich Grenzen aufgezeigt werden. Hinzu kommt, dass die USA innerhalb weniger Jahrzehnte ihre Stellung am Ende des Zweiten Weltkrieges als die weltweit führende, überlegene Wirtschafts- und Technologiemacht und als der größte Gläubiger der Welt verspielt haben. Die Voraussetzungen, eine friedliche und prosperierende Welt mitzugestalten, hätten 1945 nicht besser sein können. Sie wären allerdings noch besser gewesen, wenn nicht eine Intrige der Wall-Street-Fraktion der Demokraten 1944 die erneute Nominierung des US-Vizepräsidenten Henry A. Wallace verhindert hätte (93). Denn Wallace hätte als Nachfolger Roosevelts gegenüber der Sowjetunion eine völlig andere Nachkriegspolitik verfolgt als Truman.

In der Konferenz von Bretton Woods im Juli 1944 (94) setzten die USA den US-Dollar als Weltleit- und Handelswährung durch und banden ihn fest an das Gold. Der Internationale Währungsfond (IWF) und die Weltbank wurden gegründet, um das internationale Finanzsystem zu stabilisieren und den Welthandel wieder in Gang zu bringen. Die USA dominierten und dominieren noch heute beide Institutionen. Überdies verpflichteten sich die USA, jedem Staat die im Handel verdienten Dollars zum festgelegten Wert in Gold zu erstatten. Diese Vereinbarung wurde als der »Gold-Dollar-Standard« bezeichnet. Gegen Ende der 1960er-Jahre war es den USA nicht mehr möglich, dieses Versprechen einzulösen. Durch die Politik der USA hatten die weltweiten Dollarbestände eine Größenordnung erreicht, für die die US-Goldbestände nicht mehr ausreichten. Dazu beigetragen hatten der Vietnamkrieg, eine inflatorische Politik und der Ausbau weltweiter Militärstützpunkte. Folglich kündigte Richard Nixon das Abkommen von Bretton Woods einseitig auf. Die größte Sorge der USA, besser: deren Finanzoligarchie, war, die Attraktivität des Dollars in der Welt aufrechterhalten zu können. Der unter Henry Kissinger im Jahr 1973 herbeigeführte Jom-Kippur-Krieg ermöglichte die Kopplung des Dollars an das Öl und eine horrende Erhöhung des Ölpreises. Die Auswirkungen für die Entwicklungsländer, aber auch für die produzierende Wirtschaft in den USA, waren verheerend. Die Verschuldung der Entwicklungsländer beim IWF und den großen privaten Geldgebern erreichte astronomische Höhen. Die Einzelheiten dazu beschreiben Frederick William Engdahl in seinem Buch »The Century of War. Anglo-American Oil Politics und the New World Order« (95) und der ägyptische Präsident Anwar el-Sadat in seinenMemoiren.

Der Beginn der schleichenden De-Industrialisierung der USA aufgrund der Interessen der Finanzwelt wurde unter dem Chef der Federal Reserve Bank Paul Volcker fortgesetzt. Denn gegen Ende der 1970er-Jahre geriet der Dollar massiv unter Druck und eine Kapitalflucht aus Amerika setzte ein. Um seine Position wieder zu festigen, erhöhte Volcker unter dem Vorwand der Inflationsbekämpfung den Leitzins der FED innerhalb weniger Monate um 300 Prozent. Indem er den Leitzins auf 20 Prozent setzte, verstärkte Volcker die ohnehin aus Gründen des »Shareholder-Value-Prinzips« bereits bestehende Tendenz, die Produktion ins Ausland zu verlagern, vorwiegend nach Mexiko und nach Asien. Der damalige Vorstandschef von Chrysler, Lee Iacocca, warnte vor Volckers »strong dollar«-Politik, von der die US-Rüstungsindustrie profitierte: »Wenn wir nicht aufpassen, sind wir eines Tages bis an die Zähne bewaffnet und haben nichts mehr zu verteidigen als Drive-in-Banken, Video-Spielhallen und McDonald‘s-Stände.« Damit bewies Iacocca eine bemerkenswerte Weitsicht, wenn man die heutige US-Wirtschaft sieht. Sie ist zu 70 Prozent eine Konsumwirtschaft und basiert weitgehend auf Schulden. Der US-amerikanische Buchautor William Greider hat diese entscheidende Phase der amerikanischen Finanz- und Wirtschaftspolitik in seinem Buch »Secrets of the Temple« eingehend beleuchtet (96). Die De-Industrialisierung der USA und die Verlagerung der Produktion nach China liefen parallel mit der Öffnung der chinesischen Wirtschaft für die Marktwirtschaft unter Deng Xiaoping (97). Dies ermöglichte den rasanten Aufstieg Chinas zur heute zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt. Der britische Historiker Niall Ferguson erfand für das US-China-Verhältnis die treffende Vokabel »Chimerica« (98). Kurz gesagt, China produziert für den US-Markt alle Waren, die dort nicht mehr hergestellt werden, und legt die verdienten Dollars in amerikanischen Schuldverschreibungen als Devisen an. Als inzwischen größter Gläubiger der USA ist China der Mitfinanzier des riesigen Gesamtdefizits der USA von über 20 Billionen Dollar. Damit finanziert China zugleich die aggressive US- Außenpolitik, die sich auch gegen das eigene Land richtet. Das Handelsbilanzdefizit der USA gegenüber China liegt jährlich über 300 Milliarden Dollar. (99)

Bereits 2008 warnte der Vorsitzende des Council on Foreign Relations, Richard Haass, in einem Memorandum an Präsident Obama: »Wir benötigen täglich 2 Milliarden Dollar, nur um uns über Wasser halten zu können« (100). Welch ein Abstieg vom größten Gläubiger zum größten Schuldner der Welt! Allerdings funktioniert dieser geschilderte Kreislauf nur, solange die Masse der Güter im Welthandel in US-Dollar fakturiert wird. Dies akzeptieren bereits jetzt etliche Länder nicht mehr. Diese Tendenz wird weiter zunehmen, wenn die USA ihre widerrechtliche exterritoriale Jurisdiktion (101) über das Instrument der Sanktionen nicht einstellen.

Mittelfristig dürfte auch China daran arbeiten, diesen einzig für den Inhaber der Leitwährung bestehenden Vorteil Stück für Stück zu beseitigen. Dies umso mehr, als abzusehen ist, dass die asiatische Großmacht in nicht allzu ferner Zukunft in der Welt die wirtschaftliche Nummer 1 sein wird. Der Ökonom Andre Gunder Frank, Sohn des Schriftstellers Leonhard Frank, prognostizierte im Jahr 1998, der ökonomische Schwerpunkt der Welt kehre wieder dorthin zurück, wo er über viele Jahrhunderte gelegen hatte, bevor sich die Europäer mit dem geraubten Gold und Silber aus Lateinamerika in die Weltwirtschaft quasi einkauften. (102)

EU muss sich entscheiden: Bestandsmarkt USA oder Zukunftsmarkt Eurasien (103)

Mit Beginn des Projektes »Neue Seidenstraße« (»Belt and Road Initiative«/BRI) werden die USA nun mit einer Herausforderung für ihren imperialen Weltherrschaftsanspruch konfrontiert, wie er nicht einmal zu Zeiten der Sowjetunion bestand. BRI ist das größte Entwicklungsprojekt der Geschichte. Die Pläne umfassen die gesamte Mackinder’sche »Weltinsel« zu Lande und zur See, von Südchina bis West- und Nordeuropa, haben ganz Afrika im Blick und strahlen bis nach Lateinamerika aus (104). Ökonomisch haben die USA diesem Projekt, von dem weite Teile unentwickelter Regionen profitieren können, nichts entgegenzusetzen. Da sie jedoch von ihrer »moralischen Gewissheit durchdrungen sind« und auch nicht davon abgehen, »das auserwählte Volk Gottes zu sein, bei dem Nationalbewusstsein und Sendungsbewusstsein unlöslich verschmolzen sind« (105), verlegen sie sich destruktiv darauf, die Entwicklung des Projektes mit allen, auch militärischen Mitteln, zu behindern oder sogar zu verhindern. Die chinesische Führung sollte nicht den Fehler begehen, gegenüber den ins Auge gefassten Partnern die Muskeln spielen zu lassen oder sie in eine dem IWF vergleichbare Abhängigkeit zu bringen (106). Denn damit lieferte sie der amerikanischen Politik die Steilvorlagen, auf die diese wartet. An warnenden, wenn auch wohlwollenden Stimmen fehlt es nicht. (107) Vielleicht sollte sich Chinas Führung der klugen Worte Deng Xiaopings erinnern: Verberge deine Stärke, warte deine Zeit ab, übernimm nicht die Führung. (108)

Beim ASEAN/Apec-Gipfel im Jahr 2018 nahm US-Vizepräsident Mike Pence die Gelegenheit wahr, den Gipfelteilnehmern die Gefahren an die Wand zu malen, die ihnen von China drohen. »Wir ertränken unsere Partner nicht in einem Meer aus Schulden. Wir bieten keine einschnürenden Gürtel und keine Einbahnstraße«, sagte Pence. Der Vizepräsident spielte damit auf den offiziellen Namen der chinesischen »Belt-and-Road-Initiative« an. Diese hat in Ländern wie Sri Lanka, Malaysia und den Malediven zu hohen Schulden geführt. »Akzeptieren Sie keine Auslandsschulden, die Ihre Souveränität gefährden könnten … Die Vereinigten Staaten bieten eine bessere Option … Wir üben keinen Zwang aus und beeinträchtigen nicht ihre Unabhängigkeit.« (109)

Dass Deutschland und die EU-Kommission ausgesprochen zurückhaltend auf die chinesische »Belt-and-Road Initiative« reagieren, obwohl Duisburg einer der Endbahnhöfe der Hochgeschwindigkeitsstrecke für Güter aus Südchina ist, liegt wohl an den transatlantischen Verstrickungen und Pressionen. Der Vorstandsvorsitzende der BMW-Foundation Herbert Quandt und von 2007 bis 2013 Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Volksrepublik China, Michael Schaefer, hat jedoch dieser Zögerlichkeit in einer englischsprachigen Publikation der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) den Kampf angesagt. (110) Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen. Außer: Wer sich nicht an diesem gigantischen Projekt beteiligt, kann auch nicht mitreden und nicht mitgestalten. Wer sich dies entgehen lässt, versündigt sich an der kommenden Generation, denn der  ukunftsmarkt für die Volkswirtschaften der EU liegt mitten in Mackinders Herzland.

  • 40. Hier verstanden als die sogenannte westliche Wertegemeinschaft, wie sie sich nach 1945 über gemeinsame Interessen gegenüber der Sowjetunion herausgebildet hat.
  • 41. www.bpb.de; zuletzt aufgerufen (z.a.) 27.11.2018
  • 42. Libya: Can Britain and France really run this conflict?: www.telegraph.co.uk; z.a. 27.11.2018
  • 43. »I believe in American Exceptionalism with every fiber of my being«: www.realclearpolitics.com; z.a. 24.11.2018
  • 44. www.sectsco.org; z.a. 24.11.2018
  • 45. Vgl. Neil Smiths Studie »Amrican Empire. Roosevelt‘s Geographer and the Prelude to Globalization«: https://www.ucpress.edu/book/9780520243385/american-empire; z.a. 24.11.2018
  • 46. en.wikipedia.org; z.a. 24.11.2018
  • 47. http://www.informationclearinghouse.info/pdf/RebuildingAmericasDefenses.pdf; z.a. 24.11.2018
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  • 50. Henry Luce and 20th Century U.S. internationalism: history.state.gov; z.a. 24.11.2018
  • 51. Wesley Clark: Seven countries in five years: www.youtube.com; z.a. 24.11.2018
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  • 61. de.wikipedia.org; z.a. 24.11.2018. Siehe auch: Christina Halwachs, Manifest Destiny und die Indigenenpolitik der USA. Wien 2017
  • 62. Vgl. Stephen Kinzer, »Putsch!«, Frankfurt am Main, 2007, S. 51–86: http://de.granma.cu/cuba/2017-03-02/platt-amendment-das-protektorat-als-republik-verkleidet; z.a. 24.11.2018
  • 63. en.wikipedia.org; z.a. 24.11.2018
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  • 66. www.dhm.de; z.a. 24.11.2018
  • 67. ia902705.us.archive.org; z.a. 24.11.2018
  • 68. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/syrien-und-ihr-denkt-es-geht-um-einen-diktator-11830492.html; z.a. 24.11.2018
  • 69. The Round Table Movement and the Fall of the »Second« British Empire (1909–1919)
  • 70. Vgl. Carroll Quigley, The Anglo-American Establishment: https://www.bibliotecapleyades.net/sociopolitica/esp_sociopol_cfr_10.htm; z.a. 24.11.2018; Deutsche Ausgabe: Ders., Das Anglo-Amerikanische Establishment. Die Geschichte einer geheimen Weltregierung. Rottenburg 2016
  • 71. de.wikipedia.org; z.a. 24.11.2018
  • 72. www.nasonline.org; z.a. 24.11.2018
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  • 74. Neil Smith, American Empire. Roosevelt‘s Geographer and the Prelude to Globalization. Berkeley-Los Angeles-London 2004, S. 113 ff.
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