Der Fall Nancy Fraser – Mehr Komplexität wagen Grund für die Widerrufung der Einladung von Nancy Fraser ist eine Unterschrift der US-amerikanischen Philosophin unter dem Anfang November veröffentlichten Brief Philosophy for Palestine (siehe unten), in dem vor einem sich „entfaltenden Völkermord“ gewarnt, ein bestehendes Apartheidsystem angeklagt und für ein Boykott von Israel aufgerufen wird.

Friedrich Weißbach veröffentlicht am
 

Die Universität Köln hat ihre Einladung an Nancy Fraser zur Albert-Magnus-Professur widerrufen, was zu einem Aufschrei der deutschen Kritischen Theorie führte. Der Fall wirft Fragen über den Umgang mit Kritik am Staat Israel auf. Auch, weil eine ganz ähnliche Situation jüngst schon besser gelöst wurde.

Ein Beben geht durch den philosophischen Wissenschaftsbetrieb – mal wieder. Epizentrum der Erschütterung ist die Universität Köln, deren Rektorat die weltberühmte Sozialphilosophin Nancy Fraser gerade von der Albertus-Magnus-Professur ausgeladen hat. Die nach dem geistigen Gründervater der Universität benannte Professur ist eine Vorlesungsreihe, bei der Geisteswissenschaftler eingeladen werden, die sich in herausragender Weise um den wissenschaftlichen sowie gesellschaftlichen Diskurs verdient gemacht haben. Denker wie Martha Nussbaum, Bruno Latour, Noam Chomsky, David Wengrow, Giorgio Agamben und Eva Illouz gehören zu den Ehrenträgern. 

Grund für die Widerrufung der Einladung von Nancy Fraser ist eine Unterschrift der US-amerikanischen Philosophin unter dem Anfang November veröffentlichten Brief Philosophy for Palestine (siehe unten), in dem vor einem sich „entfaltenden Völkermord“ gewarnt, ein bestehendes Apartheidsystem angeklagt und für ein Boykott von Israel aufgerufen wird.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass das Rektorat der Universität besonnen und sensibel reagiert hat. Menschen, die zu einem Boykott Israels aufrufen, sind – egal wie berühmt sie auch sein mögen – an deutschen Universitäten nicht willkommen und erst recht nicht mit einer so hohen Würdigung wie der Albertus-Magnus-Professur zu ehren. Zu groß ist die historische Schuld Deutschlands. Und zu laut sind die antisemitischen Stimmen in der Bundesrepublik. Nie wieder heißt, genau solchen Stimmen keinen Raum zu geben. Doch ist es wirklich so eindeutig, wie es scheint?

Einwand der Kritischen Theorie

Ein offener Brief von führenden Köpfen der deutschen aber auch internationalen politischen Theorie und Sozialphilosophie lässt daran zweifeln. Mit Axel Honneth, Rahel Jaeggi, Christoph Menke, Stephan Lessenich, Eva von Redecker, Daniel Loick, Robin Celikates, Regina Kreide, Juliane Rebentisch, Oliver Nachtwey, Martin Saar, Hartmut Rosa, Alex Demirović und Hauke Brunkhorst haben vor allem Denker und Denkerinnen der sogenannten Kritischen Theorie den Brief unterschrieben. Wohl keine andere Denktradition steht so für den Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus, Homophobie und Misogynie. Ihre Vordenker Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben sich schon in den 1930ern mit dem systematischen Antisemitismus Nazideutschlands auseinandergesetzt und nach dem Krieg wesentlich dazu beigetragen, die Verbrechen und Ihre tieferliegenden Gründe aufzuarbeiten. Müsste man die Ethik der Kritischen Theorie in einem Satz auf den Punkt bringen, dann wäre wohl nichts passender als eben jener Spruch „Nie wieder“.

Umso bemerkenswerter ist es, dass sich gerade diese Theoretiker gegen die Universität Köln richten und die Rücknahme der Ausladung fordern. Sie klagen an, dass die Ausladung ein weiterer Versuch ist „die öffentliche und wissenschaftliche Diskussion zu Israel und Palästina unter Verweis auf vermeintlich eindeutige und regierungsamtlich definierte rote Linien einzuschränken bzw. Wissenschaftler:innen, die vermeintlich problematische Positionen vertreten, aus der Diskussion hierzulande auszuschließen“. Nun kann man – wie der Mitherausgeber der FAZ Jürgen Kaube es jüngst in einem Artikel tat – sagen, dass die Ausladung nichts mit einer Einschränkung des wissenschaftlichen Diskurses zu tun hätte, sondern dass die Universität lediglich davon abgerückt ist, Fraser zu ehren: „Die Universität zu Köln“, so Kaube, „möchte die Kontrolle darüber behalten, wen sie ehrt.“ Das Argument scheint zunächst einleuchtend. Doch in Frasers Fall wird es widersprüchlich. Denn ihr Schaffen, für das sie an erster Stelle eingeladen wurde, ist ein kontinuierliches Anschreiben gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Diskriminierung von Nicht-Weißen, Frauen, Homosexuellen und eben auch Juden im Zuge einer kapitalistischen Gesellschaft. Es wird hier also eine Person aufgrund ihres vermeintlich antisemitischen Gebarens ausgeladen, die in ihrem Werk aktiv gegen Antisemitismus anschreibt.

Das Wanken der normativen Bewertungsmaßstäbe

Dieser Widerspruch zeigt die eigentliche Problemlage des aktuellen Diskurses in Deutschland auf: Offensichtlich scheinen die klaren normativen Bewertungsmaßstäbe angesichts der komplexen Gemengelage im Nahostkonflikt und der vielen Toten verloren gegangen zu sein. Während jede Kritik am Staat Israel oder gar ein Aufruf zu dessen Boykottierung in Deutschland lange Zeit als rote Linie deklariert wurde, die jeden, der sie übertrat, zur Persona non grata erklärte, wird es zunehmend schwer, diese Linie aufrechtzuerhalten, wenn sich besonders jüdische Stimmen – wie die von Nancy Fraser – über sie hinwegsetzen. Derzeit werden wir Zeuge, wie immer mehr Menschen auf die Straßen Israels ziehen und gegen das Vorgehen der Regierung demonstrieren. Ja, unsere historische Verantwortung liegt darin für das Judentum und den Staat Israel einzustehen. Doch welche Position gilt es zu beziehen, wenn die jüdische Bevölkerung in und außerhalb von Israel selbst kritisch aufbegehrt? Wer sind wir, Jüdinnen in der Auseinandersetzung mit der Regierung, die die Repräsentation des jüdischen Volkes für sich reklamiert, zu verurteilen?

Gerade in Zeiten, in denen die normativen Grenzen aufgrund historischer Krisen brüchig werden, gilt es sie neu auszuloten. Kein Ort der Welt – so hat es Max Weber schon vor einem Jahrhundert in seiner Vorlesung Wissenschaft als Beruf, in der er die Wissenschaft von der Politik abgrenzt, gezeigt – ist dafür besser geeignet als die Universität, wo in einem durch wissenschaftliche Regeln kontrollierten Raum Perspektiven ausgetauscht und frei von politischen Interessen diskutiert werden können. Denn nur wenn man die Welt aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, hat man die Möglichkeit sie zu verstehen. Schließt man dagegen den Diskursraum, indem man wie die Universität Köln unbequeme Positionen auslädt, läuft man Gefahr dogmatisch zu werden. Dann droht genau das verloren zu gehen, wofür man durch die Regulierung einstehen möchte, nämlich einen freien und nichtdiskriminierenden Diskurs.

Die Krise erfordert Mut zur Debatte

Warum sollten wir als Gesellschaft aber etablierte Normen hinterfragen? Zurecht könnte man einwenden, dass man innerhalb der Gesellschaft mit guten Gründen normative Grenzen hat. Sie leiten unser Handeln und ein friedliches Zusammenleben. Wenn wir jetzt beginnen, so könnte man argumentieren, diese Normen zu hinterfragen, dann könnten Personen kommen und fordern auch andere Normen in Frage zu stellen. Eine solche permanente Hinterfragung unserer Grundnormen wäre nicht nur anstrengend, sondern auch gefährlich. Es gibt gute Gründe rechtsradikale und menschenverachtende Positionen in den Universitäten nicht zu diskutieren, nur um alle Perspektiven abzubilden. Doch warum sollten wir in dem vorliegenden Fall anders agieren?

Die Notwendigkeit für die Hinterfragung der Normen ergibt sich aus den historischen Begebenheiten, die sich unserem gesellschaftlichen Miteinander aufdrängen. Der Nahostkonflikt spaltet zusehends unsere Gemeinschaft. Die Nachrichten von über 30.000 Toten und einer hungernden Bevölkerung lassen unsere Normen in einem anderen Licht erscheinen. Unsere Jahrzehntelange Selbstverständlichkeit gerät in eine Krise. Das altgriechische Krisis von dem das Wort Krise etymologisch abstammt heißt, scheiden und entscheiden. In der Krise scheiden sich die Eindeutigkeiten und es bedarf einer erneuten Entscheidung für den Weg, den man als Gemeinschaft einschlagen möchte. Diese kann natürlich auch eine Bestätigung der bestehenden Normen sein. Die Diskussion zu führen, bedeutet eben nicht automatisch, dass die normativen Linien auch tatsächlich verändert werden. Jedoch wäre dann unser Urteil eben nicht einfach verordnet oder ein bloßes Handeln aus Gewohnheit, sondern Ergebnis eines Erkenntnisprozesses, der die unterschiedlichen Positionen mit durchdacht hat. Es wären die gleichen Normen, jedoch angereichert und gestärkt durch eine Reflexion der historischen Gegenwart.

Der offene Brief weist genau auf die Wichtigkeit eines solchen Reflexionsprozesses hin, der uns im übereilenden Gehorsam zusehends abhandenkommt. Dabei geht ein großer Teil der Unterzeichner in der Trennung zwischen Politik und Wissenschaft mit gutem Beispiel voran: Viele von ihnen haben in den vergangenen Monaten darauf verzichtet, einen der vielen offenen Briefe ihrer Kollegen zu unterschreiben. Andere wiederum – wie Seyla Benhabib die einen vehementen und vielbeachteten Artikel gegen all ihre Kollegen, die den zur Debatte stehenden Brief Philosophy for Palestine unterzeichnet haben, geschrieben hat oder der für sein Engagement gegen Antisemitismus in diesem Jahr ausgezeichnete Ehrenpreisträger der Leipziger Buchmesse Omri Boehm – haben ganz aktiv gegen manche Positionen Stellung bezogen. Worum es ihnen – und auch diesem Artikel – geht, ist also nicht, ein mögliches Statement von Nancy Fraser zu verteidigen, sondern für einen wissenschaftlichen Debattenraum, in dem Argumente ausgetauscht werden können, einzustehen.

Wie es gehen kann, zeigt der Fall Masha Gessen, die letztes Jahr den Hannah-Arendt-Preis verliehen bekommen hat. Aufgrund eines umstrittenen Artikels über die Lage der Palestinenser im Gazastreifen im New Yorker haben sowohl die Heinrich-Böll-Stiftung als auch der Bremer Senat ihre Kooperation bei der Preisverleihung aufgegeben. Aber statt die Veranstaltung abzusagen oder Gessen nicht zu ehren, wurde von der unabhängigen Jury ein öffentliches Gespräch mit Gessen initiiert, in dem die im Artikel vertretene Position kritisch hinterfragt und aufgearbeitet wurde.

 Philosophy for Palestine

November 1, 2023

We are a group of philosophy professors in North America, Latin America, and Europe writing to publicly and unequivocally express our solidarity with the Palestinian people and to denounce the ongoing and rapidly escalating massacre being committed in Gaza by Israel and with the full financial, material, and ideological support of our own governments.

We do not claim any unique authority—moral, intellectual, or otherwise—on the basis of our being philosophers. However, our discipline has made admirable strides recently in confronting philosophy’s historically exclusionary practices and in engaging directly with pressing and urgent injustices. To this end, we call on our colleagues in philosophy to join us in overcoming complicity and silence.

As we write, bombs have killed over 8,500 people in Gaza. By the time you read this, that number will have risen. [Update 2/29/24: the death toll is now estimated to have surpassed 29,000.]

Thousands more are trapped under rubble. For over three weeks, a siege of the territory has cut off food, water, medicine, fuel, and electricity. A million inhabitants of northern Gaza have been ordered to flee their homes amid airstrikes and in advance of an ongoing ground invasion with nowhere safe to go. Talk of a second nakba is chilling, yet apt. People of conscience have an obligation to speak out against these atrocities. This is not a difficult step to take; what is far more difficult for us is to turn away in silence and complicity from an unfolding genocide.

To focus, as we do here, on the actions of the Israeli state and the unflagging support it receives from the US and its allies, is neither to celebrate violence, nor to equivocate on the value of innocent lives. Civilian deaths, regardless of nationality, are tragic and unacceptable. Yet to act as though the history of violence began with Hamas’s attacks on October 7, 2023 is to display a reckless indifference to history as well as to both Palestinian and Israeli lives. In order for  violence to stop, the conditions that produce violence must stop.

The blockade of Gaza has lasted 16 years; the occupation of the West Bank and Gaza has lasted 56 years; the dispossession of Palestinians of their lands and homes across historic Palestine has lasted three-quarters of a century, since the 1948 establishment of Israel as an ethno-supremacist state.  It is not without reason that observers—including both international and Israeli human rights groups—now characterize Israel’s control over the land from the Jordan River to the Mediterranean Sea as a system of apartheid.

Most importantly, we are all too aware that the countries in which we live and work and to which we pay taxes is funding and abetting one party and one party only in this deeply asymmetric conflict. That party is not the oppressed, but the oppressor.

Right now, the people of Gaza have urged allies worldwide to exert pressure on their governments to demand an immediate ceasefire. But this should—this must—be the beginning and not the end of collective action for liberation. If there is to be justice and peace, the siege of Gaza must end, the blockade must end and the occupation must end. Above all, the rights all people currently living between the Jordan River and the Mediterranean, as well as those of Palestinian refugees in exile must be respected.

We invite our fellow philosophers to join us in solidarity with Palestine and the struggle against apartheid and occupation.In particular, join us in supporting the academic and cultural boycott of Israeli institutions—distinct from individuals—as outlined by the Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel (PACBI).  We urge all individuals to speak out openly and fearlessly, and work to advance the cause of Palestinian liberation and justice for all.

Signed,


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