Wws-T1: Der Selbstwert – das Epizentrum unserer Psyche Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Der Selbstwert – das Epizentrum unserer Psyche
Jeder Mensch will eine gute Meinung von sich selbst haben. Jeder Mensch wäre gern schön und erfolgreich, hilfreich und gut. Wir streben nach Selbstoptimierung und verabscheuen Misserfolg. Wer malt sich nicht ab und zu aus, er wäre mit ganz besonderen Fähigkeiten und/oder ungewöhnlicher Schönheit ausgestattet? Wenn wir tagträumen, dann meistens davon, dass wir in der Lage sind, unser Selbst ein wenig mehr in Richtung »Superheld« zu transformieren.
Die Anzahl der Psychologen, die das Selbstwertgefühl als den Dreh- und Angelpunkt unseres psychischen Geschehens ansehen, ist groß. Der erste war Alfred Adler (1870–1937), ein österreichischer Arzt und Psychotherapeut, der sich dafür aussprach Minderwertigkeitsgefühle zuzulassen, anstatt sie, wie es die meisten Menschen heute noch tun, zu kompensieren.
Unterlegenheitsgefühle sind zutiefst verunsichernd und machen uns schnell aggressiv. Unterlegenheit erzeugt nämlich Angst vor dem vermeintlich stärkeren Gegenüber, und Angst ist ein Gefühl, das häufig Wut nach sich zieht. Ich erinnere daran, dass die Emotion der Aggression dem Zweck dient, unsere Autonomie zu schützen. Ein überlegenes Gegenüber stellt eine potenzielle Bedrohung für unsere Autonomie dar, weil es stärker ist und somit die Macht hätte, uns zu vernichten.
Wenn wir uns minderwertig fühlen, rechnen wir im Hinblick auf unser Bindungsbedürfnis mit Ablehnung und bezüglich unseres Autonomiewunsches mit einer Niederlage. Im umgekehrten Fall gibt mir ein guter Selbstwert das Gefühl, »bindungswürdig« und gleichzeitig stark und wehrhaft zu sein.
Wie ich schon mehrfach betont habe, gibt es so gut wie keinen Zusammenhang zwischen unserem subjektiv empfundenen Selbstwert und unseren objektiven Fähigkeiten. Unser Selbstwerterleben wird wesentlich durch die Qualität unserer Elternbeziehungen bestimmt und ist somit hochgradig willkürlich. Das ist umso »gemeiner«, als unser Selbstwert einen erheblichen Einfluss auf unsere Lebensgestaltung und somit auch unsere Lebensqualität hat. Schließlich ist der Selbstwert die Quintessenz unserer mentalen Landkarte beziehungsweise unseres inneren Kindes. Im Kern bestimmt der Selbstwert unser Lebensgefühl: Genüge ich? Oder genüge ich nicht? Bin ich okay? Oder nicht okay? Bin ich etwas wert? Oder nichts wert?
Aufgrund solch einfacher Glaubenssätze schätze ich ab, was ich von anderen Menschen erwarte. Sie geben mir die Antwort auf die grundlegendste aller Fragen: Was muss ich tun, um geliebt zu werden? Muss ich überhaupt etwas dafür tun oder werde ich um meiner selbst willen geliebt?
Exkurs: Rollenvorbilder und Selbstwerterleben
Zwar hat die Eltern-Kind-Bindung einen starken Einfluss auf unser Selbstwerterleben, jedoch gibt es auch noch andere Faktoren, die unser Selbstbild bestimmen. So gibt es beispielsweise Eltern, die ihr Kind sehr liebevoll umsorgen und ihm auch ein sicheres Bindungsgefühl vermitteln, die jedoch in dessen späteren Entwicklungsjahren keine gute Vorbildfunktion einnehmen. Wenn ein Mädchen beispielsweise mit einer Mutter aufwächst, die sich selbst wenig zutraut und recht ängstlich durchs Leben geht, so kann das in diesem Mädchen starke Spuren hinterlassen. Die ängstliche Mutter möchte auch ihre Tochter vor den Gefahren dieser Welt beschützen. Ebenso wenig wie sich selbst traut sie auch ihrer Tochter zu, dass sie sich wehren und durchsetzen kann. So können in der Tochter Glaubenssätze gedeihen, wie »Ich schaff das nicht« oder »Das Leben ist gefährlich«. Ebenso kann ein Vater, der sehr konfliktscheu ist, seinem Sohn ein schlechtes Vorbild in seiner autonomen Entwicklung geben, weil er ihm nicht vorlebt, wie man seine Interessen angemessen vertreten kann.
Will man sich also mit seinen eigenen Prägungen auseinandersetzen, so ist es wichtig, nicht nur den Umgang der Eltern mit einem selbst zu betrachten, sondern auch die Rolle und die Vorbildfunktion zu analysieren, welche die Eltern eingenommen haben.
Aber auch weitere Familienmitglieder, Freundinnen oder Lehrer können prägende Einflüsse auf das Selbstbild beziehungsweise Teile des Selbstbildes nehmen. Gerade in der Schule können Überzeugungen entstehen wie »Ich bin unsportlich« oder »Ich kann nicht singen«, die möglicherweise gar nicht stimmen, sondern eher unfähigen Pädagogen zuzuschreiben sind.
Auch unsere Gene haben einen Einfluss auf die Ausprägung unseres Selbstwertgefühls. Kinder, die mit einem sensiblen, anlehnungsbedürftigen Wesen geboren sind, sind anfälliger, ein geringes Selbstwertgefühl auszubilden, als dickfellige Frohnaturen. Auf die Bedeutung, die unsere Gene für die Ausbildung unserer psychischen Struktur haben, werde ich noch näher unter dem Abschnitt »Motivation und Gene« eingehen.
Unser Selbstwert ist mit unseren Bedürfnissen nach Bindung und Autonomie eng verknüpft: Wenn ich nämlich um meiner selbst willen geliebt werde, dann steht mir auch das Recht zu, für meine Bedürfnisse einzutreten. Ich darf mich wehren, ich darf mich behaupten und werde trotzdem nicht zurückgewiesen. Ist dies wiederum der Fall, dann kann ich auf meine Beziehungen Einfluss nehmen, verfüge also über eine hohe internale Kontrollüberzeugung.
Unsere Grundbedürfnisse nach Selbstwert, Autonomie und Bindung sind folglich unzertrennlich miteinander verwoben. Unsere Bindungen, vor allem unsere frühen Beziehungserfahrungen mit unseren Eltern, haben einen maßgeblichen Einfluss darauf, wie sich mein Selbstwert entwickelt und dies bestimmt wiederum wesentlich, wie ich meine späteren Beziehungen gestalte, auch die Beziehung zu meinen Kindern. So kann es leicht passieren, dass ich meine eigenen Prägungen unbewusst an meine Kinder weitergebe. Sofern die Eltern über einen guten Selbstwert verfügen, ist das unproblematisch. Verfügen die Eltern jedoch selbst über ein geringes Selbstwerterleben, dann laufen sie Gefahr, ihre eigenes Schattenkind, also ihre negativen Überzeugungen beziehungsweise Glaubenssätze, an ihre Kinder weiterzugeben. Auch deswegen ist es so wichtig, dass man seine eigenen Prägungen reflektiert. Wer sich als Elternteil näher mit diesem Thema beschäftigen möchte, sei auf mein Buch »Nestwärme, die Flügel verleiht« verwiesen, das ich gemeinsam mit meiner Koautorin und Freundin Julia Tomuschat geschrieben habe.
Unser Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung ist nicht nur unser wichtigstes psychologisches Grundbedürfnis, sondern es zeichnet auch die menschliche Spezies aus: Andere, höher entwickelte Säugetiere haben ebenfalls ein Bedürfnis nach Bindung, Autonomie und Unlustvermeidung, aber der Wunsch, den eigenen Wert zu regulieren, setzt bestimmte menschliche Fähigkeiten voraus, über welche Tiere nicht verfügen. Hierzu zählt ein reflektierendes Bewusstsein, also die Fähigkeit, über sich selbst nachdenken zu können. Diese Form von Reflexion ist wiederum an Sprache gebunden.
Der Grundstein für unser späteres Selbstwerterleben wird jedoch bereits in den ersten zwei Lebensjahren in Form von Urvertrauen oder Urangst gelegt und befindet sich also im impliziten (unbewussten) Gedächtnis. Während das Selbstwerterleben in den ersten zwei Lebensjahren diffus ist und wesentlich davon abhängt, ob die Eltern feinfühlig die Bedürfnisse ihres Kindes nach Bindung befriedigen, so bildet sich der Wunsch, den eigenen Selbstwert zu stabilisieren, erst in der späteren Entwicklung des Kindes heraus. Hierfür benötigt es explizite, also bewusste mentale Prozesse. Nur wer ein erstes Verständnis dafür entwickelt hat, wer und was er ist, kann komplexe Empfindungen wie Scham oder Ehre erkennen. Es muss in seiner sprachlichen und kognitiven Entwicklung erst einmal so weit sein, dass es denken und fühlen kann: »Mein Freund Benny kann viel schneller Roller fahren als ich« oder »Ich bin schlecht in Mathe«. Erst durch diese Vergleiche, die auf einer sprachlichen Ebene stattfinden, entwickeln wir ein differenziertes Bild von unseren Fähigkeiten. Dieses wird selbstverständlich auch mitgeprägt durch die Botschaften, die wir von unseren Eltern und anderen Bezugspersonen erhalten. Somit entwickelt sich unser Selbstbild über eine längere Entwicklungsspanne, die auch die Pubertät und Jugend einschließt. Mit seinem Selbstbild und Selbstwert entwickelt der Mensch auch verschiedene Strategien, seinen Selbstwert zu erhöhen (Annäherung) oder sich vor Verletzungen zu schützen. (Vermeidung).
Aber auch Erlebnisse in späteren Lebensjahren können unser Selbstbild noch in die eine oder andere Richtung verändern. Dies kann im negativen Sinne geschehen, wenn wir im Erwachsenenleben ein Trauma, wie beispielsweise eine Vergewaltigung, erleben, oder auch im positiven Sinne, wenn wir eine Psychotherapie machen oder auf anderen Wegen aktiv an unserem Selbstbild und Selbstwerterleben arbeiten. Wir können als Erwachsene großen Einfluss auf unser Selbstbild nehmen, indem wir uns selbst reflektieren und uns aus der Identifizierung mit alten, negativen Glaubenssätzen lösen.
Ein Baby hat nur ein diffuses Grundgefühl davon, ob es sich geliebt und aufgehoben in der Welt fühlt oder eben nicht. Einem vierjährigen Kind stehen bereits Gedankenprozesse und differenzierte Emotionen zur Verfügung. Wenn es dem Vierjährigen gelingt, vom Roller auf das Fahrrad mit Stützrädern umzusteigen, kann er sehr stolz auf sich sein und etwas denken wie: »Das muss ich der Mama zeigen, die wird sich freuen!« Der Vierjährige hat auch schon eine recht genaue Vorstellung entwickelt, was er tun darf und was nicht, um anerkannt beziehungsweise »nicht ausgeschimpft« zu werden. Er weiß im Großen und Ganzen, was seine Eltern von ihm erwarten.
Ein unsicher gebundenes Kind, das häufig Zurückweisung von seiner Mutter erfährt, fühlt sich – anders als der Säugling – nicht einfach nur verängstigt und verlassen, sondern es bildet sich aufgrund dessen eine Meinung über sich selbst und seine Umgebung. In der Denkwelt des Kindes, darauf weist schon Klaus Grawe hin (014), gibt es zwei Alternativen: »Mit mir stimmt irgendetwas nicht, ich bin falsch«, lautet eine Schlussfolgerung. »Mama/Papa sind falsch«, lautet die zweite. Letztere Möglichkeit wäre für das Kind viel bedrohlicher. Es ist schließlich vom Schutz seiner Eltern abhängig. Außerdem ist ein kleines Kind kognitiv nicht in der Lage, sich ein
moralisch unabhängiges Bild von seinen Eltern zu bilden. In den Augen des Kindes sind die Eltern groß und gut. Also gibt es sich selbst die Schuld für das Verhalten seiner Eltern. So manifestieren sich bestimmte Glaubenssätze im Kind.
Mit der Zeit differenziert sich die mentale Landkarte des Kindes weiter. Seine wenig einfühlsamen Eltern konfrontieren es noch mit anderen Aussagen, die seinen Selbstwert attackieren, wie beispielsweise »Warum bist du nur immer so ungeschickt und langsam?« oder »Schau dir doch mal an, wie schön die anderen Kinder miteinander spielen!«. Das Kind lernt hierbei nicht nur, dass es etwas langsamer und ungeschickter als andere Kinder ist, sondern auch, dass es darauf ankommt, möglichst geschickt zu sein. Es lernt, dass es wichtig ist, den Eltern zu gefallen, ihren Ansprüchen zu genügen. Weil wenig einfühlsame Eltern zudem nicht gut mit Gefühlen wie Trauer oder Wut umgehen können, lernen ihre Kinder auch, diese Gefühle möglichst nicht zu spüren. Ein Kind entwickelt Strategien, wie es am besten mit seinen Eltern klarkommt, und schlussfolgert unbewusst, dass es auf diese Weise auch mit anderen Menschen Konflikte vermeidet. Es passt sich an, versucht es möglichst allen recht zu machen, unterdrückt unerwünschte Gefühle und geht Meinungsverschiedenheiten aus dem Weg. Es lernt also früh, Selbstwertverletzungen durch ein hohes Maß an Anpassung an die Erwartungen seiner Umgebung zu vermeiden. Seine internale Kontrollüberzeugung ist niedrig, sein Vermeidungsmotiv hoch. Mit dieser Prägung, diesem Schattenkind, wird es erwachsen.
Die entscheidende Frage ist: Wird dieser Erwachsene zukünftig Erfahrungen suchen, die seinen niedrigen Selbstwert kompensieren? Oder sucht er vielleicht (unbewusst) nach Erfahrungen, die seinen niedrigen Selbstwert bestätigen?