Wws-T1: Gefühl versus Verstand Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Gefühl versus Verstand
Wir nehmen unsere Gefühle ungeheuer ernst – im Zweifelsfall viel ernster als unsere Vernunft. Davon können auch Menschen, die unter Angstzuständen leiden, ein Lied singen. Eine akute Panikattacke ist von so ungeheurer Wucht, dass kaum ein vernünftiger Gedanke sich ihr entgegenstemmen kann. Die Vernunft hat nur eine Chance – und dann sogar eine ziemliche gute –, wenn das Gefühl noch nicht allzu heftig ist.
Starke Gefühle blockieren nämlich die Vernunft, egal ob sie als angenehm empfunden werden, wie Verliebtheit und Euphorie, oder als unangenehm, wie Angst und Panik. Die Natur will das so, damit wir uns in einer Gefahrensituation blitzschnell entscheiden und handeln oder im Falle der Euphorie und Verliebtheit uns auf einen Sexualpartner festlegen und für Nachkommen sorgen.
Der langsam arbeitende Verstand ist deswegen den Gefühlen hintenangestellt. Allerdings ist unser Verstand deshalb nicht völlig machtlos: In neurowissenschaftlichen Studien zur Wirkung von Psychotherapie auf das Gehirn (023) konnte man nachweisen, dass das Angstzentrum (die Amygdala) durch neue Gedanken und Erkenntnisse quasi gebremst wird, bevor es richtig anschlagen kann. Das heißt, wenn ich bewusst mit einer neuen Einstellung anders an eine Situation herangehe, stellt sich die Angst nicht mehr so stark oder irgendwann auch gar nicht mehr ein.
Ebenso erfreuliche Ergebnisse zur Wirkung von Psychotherapie konnten auch für andere psychische Erkrankungen wie beispielsweise Zwangsstörungen oder mittelschwere Depressionen erzielt werden. Es gibt also wissenschaftliche Nachweise dafür, dass man mit der Kraft seiner Gedanken durchaus starken Einfluss auf seine Gefühle nehmen kann . Diese Einflussnahme muss aber wie gesagt stattfinden, bevor man in einen heftigen Gefühlssturm gerät. Sie dient also zur Prävention. Je öfter man diese Prävention allerdings betreibt, desto seltener gerät man überhaupt in die Nähe dieser gefühlsstürmischen Zustände. Dies hängt mit der sogenannten Neuroplastizität des Gehirns zusammen. Neuroplastizität bezeichnet die Lernfähigkeit des Gehirns – durch regelmäßiges Training kann man es verändern. Wenn ich also wiederholt eine subjektive Stresssituation aufgrund neuer Einstellungen, neuer Gedanken und neuer Verhaltensweisen bewältige, so verliert diese Situation ganz grundlegend an Problemgewicht. Ich habe dann nämlich gelernt, Kontrolle über sie herzustellen. Die starken Emotionen, die mit der Situation verbunden waren, treten mithin nicht mehr oder in abgeschwächter Form auf.
Exkurs: Intervention bei negativen Gefühlen
Ich habe eine Mini-Intervention entwickelt, mit deren Hilfe man negative Gefühlszustände abbremsen kann. Voraussetzung für diese Intervention ist, dass man sein Schattenkind, also seine Trigger kennt. Ich erinnere noch einmal an Maja, die ich unter dem Abschnitt »Unser Selbstbild bestimmt, was wir wahrnehmen« auf Seite 41 vorgestellt habe. Durch ihre strenge Erziehung hat sie einen starken Glaubenssatz entwickelt, der »Ich bin nicht gut genug« lautet. Dieser Minderwertigkeitskomplex ist ihr verinnerlichtes Schattenkind.
Sie fühlt sich anderen Menschen schnell unterlegen und ist leicht kränkbar. Seitdem sie jedoch die Bekanntschaft mit ihrem Schattenkind gemacht hat, ist sie sich darüber bewusst, dass es sich um eine alte Prägung handelt, die nicht ihrer aktuellen Realität entspricht. Heute weiß sie, dass sie genügt, so wie sie ist. Dieser Gedanke (ihr neuer Glaubenssatz) ist allerdings noch nicht ganz in ihrem Gefühl verankert, weswegen es ihr immer wieder passieren kann, dass ihr Schattenkind getriggert und sie innerlich klein wird. So beispielsweise, wenn sie in einem Teammeeting ihren Standpunkt vertreten will. Allerdings ertappt sie sich inzwischen ganz schnell, wenn sie in diesen inneren Zustand gerät, und schaltet dann sofort in ihren Verstand um. Mit Hilfe ihres Verstandes betrachtet sie die Situation von außen, sie begibt sich also innerlich in die Beobachterposition. Von dort aus kann sie erkennen, dass sie genauso gut ist wie ihre Kolleginnen. Ganz bewusst begibt sie sich dann sofort wieder auf Augenhöhe mit ihnen und vertritt ihre Meinung. »Ertappen und Umschalten« lautet also die Devise. Man ertappt sich in seinem Schattenkind und schaltet sofort in den Verstand um, der in der Psychologie auch gern als der innere Erwachsene bezeichnet wird. Diese Übung ist so einfach wie durchschlagend. Wer dies achtsam praktiziert, wird bald feststellen, dass sich das Schattenkind immer seltener zeigt. Auf »Ertappen und Umschalten« komme ich noch ausführlich in Teil III dieses Buches zu sprechen.
Natürlich sind auch negative Gefühle wie Angst, Trauer oder Wut oftmals völlig angemessen und müssen nicht krampfhaft unterdrückt werden. Wenn ich von der Prävention belastender Gefühlszustände rede, dann beziehe ich mich hierbei auf jene emotionalen Zustände, die für die Situation unangemessen und für die Betroffenen stark belastend sind. Wenn ein Zwangserkrankter sich hundertmal am Tag die Hände waschen muss, um sich vor Keimen zu schützen, oder eine Angstpatientin sich nicht traut, ihr Haus zu verlassen, dann ist das Gefühlsleben der Betroffenen völlig aus der Bahn geraten.
Aber auch bei weitaus weniger gravierenden Störungen des emotionalen Erlebens ist ein angemessener Umgang mit den eigenen Gefühlen die tragende Säule seelischer Gesundheit. Die Frage, die sich – wie so häufig – stellt, ist: Was ist denn überhaupt angemessen? Darauf gibt es keine klare und eindeutige Antwort. Aus meiner Sicht sind die folgenden Punkte wichtig:
- Wir sollten einen guten Zugang zu allen Gefühlen haben. Nicht wenige Menschen leiden unter Gefühlsblockaden, die sie zum Beispiel schwer an Gefühle wie Wut oder Trauer herankommen lassen. Manche Menschen haben auch zu allen Gefühlen einen schlechten Zugang, sie sind übermäßig rational.
- Wir sollten in belastenden Gefühlen nicht ewig stecken bleiben. Manche Menschen sind dauergestresst oder bleiben sehr lang in der Trauer über einen Verlust stecken. In psychologischen Fachkreisen gibt es als Regel den Richtwert, dass man nach einem Jahr die größte, alles beherrschende Trauer einigermaßen bewältigt haben sollte. Das bedeutet natürlich nicht, dass man nicht immer wieder traurige Momente über den Verlust erleben kann und darf. Das kann manchmal auch ein Leben lang andauern.
- Die Gefühle sollten nicht Achterbahn fahren. Es gibt Menschen, die unter starken Stimmungsschwankungen leiden, sie pendeln zwischen Stimmungshochs und -tiefs. Andere leiden unter impulsiven Aggressionsschüben, mit denen sie ihre Beziehungen stark belasten.
Diese drei Punkte betreffen in erster Linie die Gefühlsintensität. Es gibt aber noch eine zweite, sehr wichtige Ebene, auf der wir beurteilen, ob Gefühle angemessen sind oder nicht. Dabei geht es nicht darum, was wir wie intensiv fühlen, sondern um die Frage, ob die Situation, auf die sich unser Gefühl bezieht, überhaupt stattgefunden hat. Es handelt sich um die Ebene der Wahrnehmungsverzerrungen und Projektionen, die ich schon mehrfach thematisiert habe. Alles, was wir wahrnehmen, wird durch unsere subjektiven Erinnerungen gefiltert.
Wenn wir konkrete Gegenstände wie einen Stuhl oder eine Gartenmauer wahrnehmen, hilft uns unsere Erinnerung, diese zu erkennen. Im zwischenmenschlichen Bereich können wir mit unseren Interpretationen jedoch schnell falschliegen und auf Situationen reagieren, die nicht stattgefunden haben. Ich erinnere: Waren die hochgezogenen Mundwinkel ein freundliches Lächeln oder ein spöttisches Grinsen (siehe »Unser Selbstbild bestimmt, was wir wahrnehmen«)?