Wws-T2: Fallgeschichten - Harry verweigert »Gehorsam« Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Harry verweigert »Gehorsam«
Harry, 48 Jahre, ist ein erfolgreicher Unternehmer. Im Gespräch wirkt er sehr sympathisch, offen und dynamisch. Er hat allerdings viele gescheiterte Beziehungen und auch eine Ehe hinter sich, aus der ein Sohn (19 Jahre) hervorgegangen ist. Als Harry zu mir in die Sprechstunde kam, hatte er erkannt, dass er selbst einen großen Anteil daran trägt, dass seine Beziehungen immer wieder scheitern. Diesem Anteil wollte er auf die Schliche kommen und Lösungswege finden.
„Im Laufe meines Lebens sind mehrere Beziehungen gescheitert, und ich habe festgestellt, dass das nicht nur mit meinen Partnerinnen zu tun hat, sondern auch mit mir. Deswegen habe ich angefangen, mich mit mir selbst und mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen. Ich habe da mal in mich hineingefühlt und gemerkt, dass ich mich eigentlich nie so richtig wohlgefühlt habe in meinem Leben, auch nicht in meinen Beziehungen.“
1. Welchen inneren Konflikt (Inkonsistenz) beschreibt Harry hier? Welche psychischen Grundbedürfnisse sind betroffen? Welchen guten ersten Schritt vollzieht er?
„Dieses Unwohlgefühl kenne ich schon aus meiner Kindheit: Ich bin der Erstgeborene von gehörlosen Eltern. Und es gab dann auch immer mal die Situation als Kleinkind, dass ich geschrien habe und mich keiner gehört hat.“
2. Welchen Ein uss könnte dies auf Harrys Entwicklung in den ersten zwei Lebensjahren gehabt haben?
„Aus diesem Grund musste ich selbst dann schon ganz früh für meine kleine Schwester Verantwortung übernehmen. Ich musste mich auch um den Betrieb kümmern, meine Eltern hatten eine Schreinerei. Ich musste mit den Kunden reden und auch auf die Elternsprechtage von meiner Schwester. Und, und, und … ich hatte ständig Pflichten.“
3. Welche Last lag auf Harrys Schultern und welche Glaubenssätze hat er vermutlich entwickelt?
„Ich habe mich ganz früh freigestrampelt aus diesem Umfeld, habe ein Ingenieurstudium abgeschlossen und mich danach selbstständig gemacht. Inzwischen habe ich einen Laden mit 70 Mitarbeitern. Wir bauen Landwirtschaftsmaschinen und agieren weltweit. Mit Eigen-Engineering, alles completely selbst. Ich habe als One-Man-Show angefangen und bin bis hierhergekommen. Das lief ziemlich gut.“
4. Auf welche Seite hat Harry sich innerlich geschlagen – auf die der Bindung oder der Autonomie? Inwieweit könnte Harrys Berufswahl damit zusammenhängen?
„In all den Jahren habe ich in meinen Beziehungen ein bestimmtes Verhalten an den Tag gelegt: Wenn die Partnerschaft einen bestimmten Grad der Tiefe erreicht in der Zweisamkeit, dann werde ich unruhig. Dann ertappe ich mich selbst dabei, dass es mir zu eng wird. Ich habe ein riesiges Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit, und das passt nicht mit der Zweisamkeit zusammen.“
5. Wie könnte man Harrys Schattenkind, sein motivationales Schema beschreiben? Welchen tief eingravierten Glaubenssatz trägt er zum Thema »Beziehung« in sich?
„Bei meinen Eltern musste ich mich immer stark anpassen. Es gab eine andere Sprache, die Gehörlosensprache. Ich konnte zu Hause niemanden rufen. Es gab keinen Telefonanschluss. Ich war auf mich allein gestellt. Oder ich hatte zumindest das Gefühl, ich sei auf mich allein gestellt. Wenn ich durch die Schreinerei gestolpert bin, habe ich irgendwann zwar meine Eltern gefunden, aber die haben mich nicht gehört. Daraus hat sich ein hohes Bedürfnis nach Autonomie entwickelt. Und auch ein sehr intensives Gefühl von »Ich vertraue mir. Mir! Nur mir!«.“
6. Hier formuliert Harry einen zentralen Glaubenssatz. Was bedeutet das für sein Bedürfnis nach Bindung? Was bedeutet das für sein Bedürfnis nach Kontrolle? Welche Selbstschutzstrategie könnte er hieraus entwickelt haben?
„Die Gehörlosigkeit meiner Eltern war aber nicht das einzige Problem, auch die Wertschätzung für uns Kinder hat gefehlt. Der Betrieb ging immer vor. Wir hatten zu funktionieren. Da war kein Raum für Trost und Zuwendung. »Kinderwille ist Kälberdreck«, so hat es bei uns geheißen. Das war landläufig und normal. Man nimmt sich zurück, zuerst kommen die anderen.“
Hier wird ganz deutlich, dass Harry als Kind zu wenig Wertschätzung erfahren hat und entsprechend ein geringes Selbstwertgefühl entwickelt hat, das durch Glaubenssätze wie »Ich bin nicht wichtig«, »Ich genüge nicht«, »Ich muss mich fügen« usw. geprägt sein dürfte.
„Beruflich haben mir diese Erfahrungen wohl nicht geschadet. Ich habe meinen Weg gemacht. Ich stelle aber fest – insbesondere in Beziehungen –, dass mir meine Glaubenssätze auf die Füße fallen, immer und immer wieder. Ich habe das Gefühl, wenn ich mich so zeige, vollumfänglich, wie ich wirklich bin, dann falle ich durch.
7. Was mag das für Harry wohl heißen, »sich zeigen, vollumfänglich«, wie er ist? Was meint er damit genau?
„Am Traualtar habe ich mich dabei ertappt, dass ich gedacht habe: »Ach herrje, was wird das hier denn, wie kommst du denn da wieder raus aus der Nummer?« Das muss man sich mal vorstellen! Ich fand mich selbst scheiße. So war’s aber.“
8. Was ist Harrys innerer Konflikt, warum will er aus der Ehe flüchten, kaum dass sie anfängt? Auch in späteren Beziehungen gab es immer eine gewisse Hürde, sich vollständig zu öffnen – auch aus Angst, nicht geliebt zu werden. Ich schaue mir die Frau dann an und denke, was mir alles an ihr nicht gefällt. Ich stelle innerlich Checklisten auf, und häufig gefallen mir dann fünf von zehn Punkten an ihr nicht. Das beruhigt mich.
9. Das klingt ja scheinbar widersprüchlich – im ersten Satz sagt Harry, er habe Angst, abgelehnt zu werden. Im nächsten Satz formuliert er, dass er viel an der Frau auszusetzen habe. Wie passt das zusammen? Welcher Abwehrmechanismus ist hier im Spiel?
„Und es hält mich auch davon ab, mich vollständig zu öffnen. Sich ganz zu öffnen würde bedeuten, meine Bedürfnisse zu äußern, zu sagen, was mir wichtig ist, was ich haben möchte, und was mir egal ist. Aber dazu gehören ja auch Eigenschaften, die vielleicht nicht so rühmlich sind. Ich weiß nicht, wie weit man die äußert oder nicht äußern darf. Ich weiß nicht, ob man schon beim Kennenlernen jemandem direkt reinen Wein einschenkt.“
10. Welcher Kon ikt besteht hier zwischen Harrys Selbstwert und seinem Bindungsbedürfnis?
„Ich hatte mal ein Date mit einer Frau, der habe ich direkt reinen Wein eingeschenkt. Ich habe ihr damals gesagt, dass mein Sohn und meine Firma eine große Rolle in meinem Leben spielen. Ich habe gesagt: »Also, wenn du dir vorstellst, dass wir da jeden Abend kuscheln und Zweisamkeit haben, dann kannst du das vergessen. Mein Sohn spielt die Hauptrolle in meinem Leben!«
Das habe ich gleich klargestellt, und da sagte die Frau: »Nee, das passt für mich nicht!« Ich habe daraus gelernt: »Da haben wir es wieder, sobald ich mal ehrlich und authentisch bin, werde ich abgelehnt.« Hätte ich flunkern sollen?
Ich kann einer Frau gegenüber ehrlicherweise nicht behaupten »Du bist meine absolute Nr. 1 und alles andere ordne ich jetzt unter!«.“
11. Welche unbewusste Selbstschutzstrategie könnte Harry hier im Gespräch mit der Frau verwendet haben? Und wieso fühlt er sich so abgelehnt? Er scheint sich als Opfer wahrzunehmen.
„In meinen Beziehungen habe ich immer wieder das Gefühl gehabt, meine Wünsche nicht äußern zu können. Ein Beispiel: Meine damalige Freundin hatte Freunde von sich an einem Montagabend eingeladen. »Die kommen um acht Uhr. Ich koche was. Und ich hätte gerne, dass du da bist.« Die sollten mich kennenlernen, sie wollte mehr Austausch und so weiter. Ich wollte die aber gar nicht kennenlernen. Und ich wollte mich nicht so spät am Abend vor einem Arbeitstag treffen. Ich habe es dann aber gemacht. Ich kann nämlich nicht gut Nein sagen. Ich ärgere mich dann zwar. Ich schimpfe wie ein Rohrspatz, aber ich passe mich an. Ich mache das um des lieben Friedens willen, wenn man so will.“
Hier erklärt Harry noch einmal sehr schön an einem konkreten Beispiel, wie seine Überanpassung im Beziehungsalltag abläuft.
„Aber ich will das einfach nicht mehr. Ich möchte gerne eine stabile Beziehung führen. Ich habe aber einfach überhaupt keinen Bock, mich ständig Erwartungen anpassen zu müssen. In keiner Beziehung und niemandem zuliebe möchte ich mich so anpassen, wie ich es als Kind musste. Ohnmacht war das zentrale Gefühl meiner Kindheit. Es war irgendwie ausweglos. Es gab keine Alternative. Ich musste mit meinen Eltern und der schwierigen Situation klarkommen, ob ich wollte oder nicht. Das war einfach so. Keine Chance. Seitdem weiß ich, wie ungeheuer viel Kraft es raubt, sich gegen den eigenen Willen anderen anpassen zu müssen.“
12. Was hat Harry in seiner Kindheit introjiziert und welche Projektion findet hierdurch auf (potenzielle) aktuelle Partnerinnen statt?
„Ich muss diesen Film mit meinen Eltern in meinem Kopf auflösen. Es wird Zeit, dass ich kapiere, dass meine Partnerin eine andere Person als meine Eltern ist, und ich mir selbst die Erlaubnis gebe, frei und authentisch zu sein.“
Ein sehr guter Ansatz, Harry!
Meine Überlegungen zu Harry
1. Harry leidet unter zwei Konflikten: Erstens möchte er eine feste Partnerschaft, ist bislang jedoch immer gescheitert. Zweitens strebt er gute Gefühle an, fühlt sich aber meistens unwohl in seinem Leben.
Sein Bindungsbedürfnis ist nicht erfüllt, er erleidet Unlustgefühle, und sein Kontrollbedürfnis ist ebenso frustriert, weil er bislang keine Abhilfe für seine Probleme weiß. Dass auch sein Selbstwertgefühl hierbei eine große Rolle spielt, dürfen wir getrost annehmen. Harry hat den ersten positiven Schritt unternommen, um seine Probleme zu lösen, indem er seine Eigenverantwortung anerkennt.
2. Die Gehörlosigkeit seiner Eltern könnte Harrys Bindungsfähigkeit beeinträchtigt und damit einhergehend die Ausbildung von Urvertrauen verhindert haben.
3. Harry musste viel zu früh viel zu viel Verantwortung für seine Eltern und für seine Schwester übernehmen. In der psychologischen Fachsprache wird diese Verkehrung der Eltern-Kind-Rolle übrigens als Parentifizierung bezeichnet. Harrys Glaubenssätze dürften unter anderem lauten: Ich bin zu 100 Prozent verantwortlich, dass es allen gut geht. Ich muss stark sein. Ich bin allein und muss es allein schaffen. Ich darf nicht vertrauen.
4. Harry hat sich unbewusst auf die autonome Seite geschlagen, weil er gelernt hat, dass er sich nur auf sich selbst verlassen kann. Menschen mit einem hohen Autonomiemotiv landen beruflich, wie Harry, häufig in der Selbstständigkeit. Bei Harry läuft es beruflich bestens, hier nutzt ihm seine hohe Autonomie, nur im Privatleben verhindert sie Nähe und Intimität.
5. Harrys motivationales Schema würde ich wie folgt beschreiben: Ich bin allein und kann mich nur auf mich selbst verlassen. Wenn ich dir gefallen will, dann muss ich mich stark anpassen. (Das verweist übrigens auf einen Selbstwertschaden bei Harry. Im tiefsten Inneren dürfte er das Gefühl aufweisen, nicht zu genügen; ansonsten müsste er sich nämlich im Kontakt mit einer potenziellen Partnerin nicht so verbiegen.) Zudem weist Harry einen Glaubenssatz auf, der alle Beziehungsängstlichen miteinander verbindet: Entweder bin ich in einer Beziehung oder ich bin ein freier Mensch. Beides passt nämlich wegen des krassen Anpassungsprogramms nicht unter einen Hut.
Harry musste sich als Kind stark den äußeren Bedingungen anpassen, die vor allem durch die Gehörlosigkeit seiner Eltern geprägt waren. Weil er so früh so viel Verantwortung für seine Eltern und die kleine Schwester tragen musste, musste er altersunangemessen autonom agieren.
6. Der Umstand, dass Harry meint, sich nur auf sich selbst verlassen zu können, bewirkt, dass er ständig die Kontrolle über sich und seine Beziehungen bewahren muss. Im Hinblick auf seine Bindungen bedeutet dies, dass er nicht vertrauen darf. Wenn man jedoch nicht vertrauen kann, dann bedrohen Gefühle wie Liebe und Leidenschaft die eigene Autonomie und das Kontrollbedürfnis. Die Betroffenen tun deswegen teils bewusst, teils unbewusst viel dafür, die Beziehung nicht zu eng werden zu lassen. Sie benötigen immer einen gewissen Sicherheitsabstand zu ihrem Liebesobjekt. Dieser Sicherheitsabstand bedeutet in den meisten Fällen auch, dass die Beziehung früher oder später beendet wird. Die Selbstschutzstrategien laufen also darauf hinaus, die Kontrolle zu behalten, sei es durch Flucht und Abschottung und/oder durch ein hohes Kontroll- und Machtstreben. Hinzu kommen die autonomen Abwehrmechanismen, die ich im Abschnitt »Abwehr im Dienste der Autonomie: Abwerten und Rationalisieren« beschrieben habe.
7. Harry hat von seinen Eltern nicht die Botschaft erhalten, dass er geliebt wird, so wie er ist. Deswegen fehlt ihm das Gefühl für seinen eigenen Wert. Dies hat zur Folge, dass er glaubt, nicht authentisch sein zu dürfen. Authentizität schließt ein, dass man zu seinen Wünschen, Werten, Gefühlen und Vorstellungen vom Leben steht. Im Vordergrund von Harrys Beziehungsgestaltung steht, dass er die Erwartungen seiner jeweiligen Partnerin erfüllen muss und sich selbst ganz zurücknimmt.
8. Die Ehe bedeutet für Harry, dass er sich in ein Gefängnis begibt, denn spätestens jetzt schlägt seine Prägung (motivationales Schema, Schattenkind) zu, dass er sich vollständig den Erwartungen seiner Frau (ehemals seiner Eltern) unterordnen muss.
9. Harry formuliert hier seine Angst, abgelehnt zu werden. Um diese Angst unter Kontrolle zu bekommen, sucht er nach Fehlern bei seiner Dating-Partnerin. Wenn er sie nämlich zuerst ablehnt, umgeht er die Gefahr, von ihr abgelehnt zu werden. Der Abwehrmechanismus ist also Abwertung und Kritik.
10. Harrys Konflikt: Er sehnt sich danach, um seiner selbst willen geliebt zu werden, hält dies jedoch aufgrund seiner Prägung nicht für möglich. Sein geringer Selbstwert steht seinem Bindungswunsch im Weg. Bindung kann er in seiner Vorstellung nämlich nur erhalten unter der Bedingung, dass er sich verbiegt, um die Erwartungen seiner Partnerin zu erfüllen.
11. Harry stellt hier auf eine unterschwellig aggressive Art klar, dass die Frau eine untergeordnete Position hinter seiner Arbeit und seinem Sohn einnehmen wird. Er zieht also schon eine klare Grenze, bevor die Beziehung anfangen kann. Sein Schattenkind verteidigt schon beim ersten Date vehement seine Autonomie. Die Frau reagiert (völlig richtig), indem sie sich zurückzieht. Harry reflektiert an dieser Stelle nicht, dass er mit seiner Eröffnung den »Erstschlag« ausgeführt hat und seine Dating-Partnerin hierauf lediglich antwortet.
Gemäß seiner Prägung wähnt er sich als Opfer, indem er sich von ihr abgelehnt fühlt, dabei war er derjenige, der sie durch seine schroffe Klarstellung indirekt abgelehnt hat.
12. Harry hat ein überangepasstes Schattenkind mit einem geringen Selbstwert introjiziert. Dieses projiziert er auf seine potenziellen Partnerinnen. Er bildet sich ein, dass er sich über die Maßen anpassen und verbiegen müsste – so, wie es bei seinen Eltern der Fall gewesen ist –, um geliebt zu werden. Wenn er aus diesem Programm aussteigen wollte, müsste er es im ersten Schritt als solches klar erkennen und dann auflösen.