Primäre und sekundäre Gefühle

In der Psychologie wird zwischen primären und sekundären Emotionen unterschieden. Primäre Emotionen sind die allererste Reaktion auf eine Situation oder ein Ereignis. Allerdings leben wir diese unmittelbaren Emotionen nicht immer aus: Wenn zum Beispiel jemand etwas Verletzendes zu uns sagt, kann unsere primäre Reaktion darauf Traurigkeit sein. Es kann aber sein, dass wir diese primäre Emotion hinter einem anderen Gefühl verstecken: Wut ist beispielsweise eine sekundäre Emotion, die oftmals eine Reaktion auf Traurigkeit ist. Manche Emotionen wie Schuld, Angst oder Ärger sind schwer auszuhalten, weswegen Menschen sie gern vermeiden und unterdrücken.

Dabei besteht häufig ein Zusammenhang mit kindlichen Prägungen, also mit dem Umgang mit bestimmten Emotionen während unserer Kindheit. Konnten die Eltern beispielsweise nicht mit kindlicher Wut umgehen, wie es bei Christoph (»Christoph will Harmonie um jeden Preis«) der Fall gewesen ist, so lernt das Kind früh, seine Wut zu unterdrücken und in Christophs Fall durch Angst vor Ablehnung und eine übertriebene Harmonieliebe zu ersetzen. Auch Stefan, der sich sorgte, als Vater zu versagen (siehe hier), erstickte seine Wut in Angst und Trauer und merkte deswegen nicht, wie wenig seine Ex-Partnerin seine Vaterrolle respektierte, was die Voraussetzung dafür gewesen wäre, sich ihr gegenüber zu behaupten.

Übrigens verbirgt sich hinter einer Depression häufig eine ganze Menge kalter Wut. Depressive Menschen sind in der Regel überangepasst und verfügen über eine geringe internale Kontrollüberzeugung, sie haben also das Gefühl, wenig Einfluss auf ihre Beziehungen und ihr Leben nehmen zu können. Eine wesentliche Ursache hierfür ist, dass sie primäre Wutgefühle durch sekundäre Gefühle von Angst oder Trauer austauschen und hierdurch ihre Grenzen kaum spüren und mithin auch nicht verteidigen können.

Depression kann auch als Aufgabe jeglicher Bemühungen, auf sein Leben Einfluss zu nehmen, verstanden werden. In manchen Fällen versteckt sich dahinter auch eine passive Aggression des Nicht-mehr-funktionieren-Wollens, also eine massive Verweigerungshaltung.

Wut kann sich jedoch auch als Sekundär-Emotion einstellen, wenn wir beispielsweise Scham oder Kränkung empfinden. Wer hat noch nicht auf eine angemessene Kritik, für die man sich ein bisschen schämt, mit Ärger und Gegenwehr reagiert?

Ich erinnere mich an einen Klienten, der als Kind wegen seines Übergewichts viel gemobbt und gehänselt wurde. Er hat früh gelernt, auf diese Hänseleien mit massiven Wutausbrüchen zu reagieren. Damit hat er sich einen gewissen Respekt verschaft. Als Erwachsenem kam ihm diese Wut dann immer wieder in die Quere. Er kam zu mir, um seine impulsiven Ausbrüche in den Griff zu bekommen.

Wenn wir ein Gefühl ganz schlecht aushalten können und es deswegen durch eine sekundäre Emotion eintauschen, spricht man auch von einer geringen Emotionstoleranz. So ist Wut beispielsweise ein Gefühl, das uns
Stärke verleiht, deswegen können wir sie häufig besser ertragen als Kränkung, Trauer oder gar Verzweiflung, die dafür sorgen, dass wir uns schwach und hilflos fühlen.

In den psychotherapeutischen Gesprächen versuche ich deswegen gemeinsam mit den Klientinnen und Klienten, ihre primären Gefühle zu identifizieren, so wie es auch in dem Gespräch mit Elke (siehe hier) geschehen ist. Erst als Elke gewahr wurde, dass sich hinter ihrer Wut eine alte Kränkung verbarg, war sie in der Lage, ihre Wutgefühle aufzulösen.