Gefühle annehmen

Gefühle informieren uns über unsere Bedürfnisse und vermitteln Handlungsimpulse. Sofern die Gefühlsintensität nicht unser Denken blockiert, ist es wichtig, Gefühle anzunehmen und ihre Botschaften zu verstehen. Wie ich diesbezüglich mit meinen Klientinnen und Klienten arbeite, habe ich schon im Abschnitt »Selbstannahme« in dem mitfühlenden »Dialog mit dem Schattenkind« auf Seite 305 vorgestellt.

Wichtig ist anzuerkennen, ob ein Gefühl angemessen oder unangemessen ist. Nicht selten möchte man auch angemessene Gefühle vermeiden, wenn sie sehr belastend sind. Dies ist beispielsweise bei Trauer häufig der Fall. Der Schmerz um einen Verlust kann so groß sein, dass er schier nicht auszuhalten ist. Dies kann zu besinnungslosen Ablenkungsmanövern führen: Man stürzt sich in die Arbeit, riskante Abenteuer, diverse Affären oder in den Konsum von Drogen. Die Trauer wird jedoch auf diese Weise nicht angemessen verarbeitet, sondern nur verdrängt. Kurzfristig mag die Flucht entlastend sein, langfristig blockiert sie jedoch eine adäquate Verarbeitung des Verlusts.

Es gibt allerdings einige praktische Übungen, die dazu befähigen, sowohl maladaptive als auch adaptive Emotionen besser aushalten zu können. Ein wesentlicher Teil der Probleme, derentwegen Menschen in meine Praxis kommen, resultiert aus Vermeidungsstrategien. Jede Vermeidung zementiert ein Problem, weil sie die Annahme bestärkt, der Problemsituation und dem Problemgefühl nicht gewachsen zu sein. Diesen Teufelskreislauf können Klientinnen und Klienten nur unterbrechen, indem sie lernen, ihre negativen Gefühle auszuhalten. Hierdurch verlieren diese ihren Schrecken, und indem man sich der schwierigen Situation stellt, löst sie immer weniger negative Gefühle aus, weil das Gehirn lernt, dass es die Situation bewältigen (kontrollieren) kann. Sobald sich nämlich das Gefühl von Kontrolle einstellt, verliert die ehemalige Problemsituation an Bedrohlichkeit.

Sie erinnern sich an Christoph, der unter Harmoniesucht litt und sich hierdurch am Ende des Tages mehr Probleme einhandelte, als wenn er kurzfristig den Unmut seiner Interaktionspartner auf sich zöge (siehe hier). Mit ihm könnte ich die folgende Übung durchführen.

Ich: Bringen Sie Ihr Problem bitte mit wenigen Worten auf den Punkt. (Hierdurch wird das Problem für den Klienten/die Klientin nochmals greifbarer.)

Christoph: Ich gehe Konflikten aus dem Weg und schiebe unangenehme Wahrheiten bis zum allerletzten Moment hinaus.

Ich: Welches unangenehme Gefühl möchten Sie vermeiden?

Christoph: Ich habe Angst, auf Ablehnung zu stoßen. Ich möchte vermeiden, dass jemand böse auf mich werden könnte.

Ich: Können Sie dieses Gefühl mal für einen Moment zulassen? Wo im Körper spüren Sie es? Auf einer Skala von 0–10, welche Intensität weist es auf?

Christoph: Ich spüre ein flaues Gefühl in der Magengegend und mein Herz klopft. Die Intensität liegt ungefähr bei 6.

Ich: Welches Bedürfnis steckt hinter Ihrer Angst?

Christoph: Ich möchte von allen gemocht werden. Meine innere Balance ist zugunsten der Bindung aus dem Gleichgewicht.

Ich: Um dies zu erreichen, eiern Sie um die Wahrheit herum. Warum ist Ihr Verhalten maladaptiv?

Christoph: Die Wahrheit kommt ja sowieso ans Licht. Indem ich nicht gleich Klartext rede, enttäusche ich am Ende umso mehr. Meine Freundin hat hierdurch schon Vertrauen in mich verloren, weil sie nicht mehr so genau weiß, was sie mir glauben soll. Auch Freundschaften sind hierdurch schon kaputtgegangen: Anstatt einen potenziellen Konflikt zu klären, habe ich mich aus dem Kontakt zurückgezogen.

Ich: Welches Verhalten wäre angemessener, um Ihr Bedürfnis nach Bindung zu schützen?

Christoph: Ich müsste einfach sagen, was Sache ist, und für diesen Moment das unangenehme Gefühl aushalten. Wenn ich es so betrachte, klingt das eigentlich recht leicht.

Das subjektive Empfinden des Klienten, er könnte ein bestimmtes Gefühl nicht aushalten, hat in Christophs Fall (so wie bei vielen Klientinnen und Klienten) dazu geführt, dass er es reflexartig vermieden hat. Begleitet man den Klienten jedoch dabei, das Gefühl einmal ganz bewusst zuzulassen, so macht er häufig die Erfahrung, dass es aushaltbar ist und er handlungsfähig bleibt. Das wiederum stärkt seine Kontrollüberzeugung.

Das Aushalten unangenehmer Emotionen trainiere ich während der Gespräche mit meinen Klientinnen und Klienten immer wieder. Wenn sie mir beispielsweise eine Situation schildern, in der ihre Problememotion auftritt, dann bitte ich sie, einen Moment innezuhalten und diese Emotion ganz bewusst wahrzunehmen, sie mit ihren persönlichen Worten zu begrüßen, wie zum Beispiel: »Hallo Angst, da bist du ja schon wieder, meine treue Begleiterin.« Im nächsten Schritt bitte ich darum, einen kleinen Abstand zwischen sich und der Emotion herzustellen. Das gelingt, indem die Klientin ihre eigene Beobachterin wird: Einerseits fühlt sie ihre Angst, gleichzeitig beobachtet sie, was sie fühlt und was in ihrem Körper vorgeht.

Wenn beispielsweise ihr Herz klopft und die Hände feucht werden, dann bitte ich sie, dies innerlich (oder auch laut) mit liebevoller Stimme zu kommentieren (»Ah ja, da klopft mein Herz und meine Hände werden feucht …«). Ich bitte meine Klientinnen und Klienten, dieses Gefühl einfach nur wahrzunehmen, ohne es zu bewerten. Wenn es sich um eine Angst handelt, die aus der Schattenkind-Prägung entspringt, kann er oder sie das Schattenkind liebevoll begrüßen.

Indem der Klient ein unangenehmes Gefühl akzeptiert, kann er damit umgehen lernen. Das Annehmen eines Gefühls ist die Voraussetzung für dessen emotionale Heilung. Ich bitte den Klienten dann, dem Gefühl eine Art freundlich-aufmerksame Gesellschaft zu leisten. Er soll es erforschen, ohne sich mit ihm zu identifizieren, indem er in der Beobachterposition verweilt. Der Klient befragt sein Gefühl, welches Bedürfnis es ausdrückt und welchen Handlungsvorschlag es macht. (Beispiel: Das Gefühl ist Angst. Das Bedürfnis ist: Diese Angst möchte mich vorm Scheitern bewahren. Handlungsvorschlag: Sag das Vorstellungsgespräch ab!)

Auch der lebensgeschichtliche Zusammenhang kann bei dieser Intervention erforscht werden. Mit der sogenannten Gefühlsbrücke reisen Klientin oder Klient in die eigene Vergangenheit und spüren, wann dieses Gefühl das erste Mal aufgetaucht ist. Wiederum geht es um Selbstmitgefühl und darum, das Schattenkind zu trösten. Das Wichtigste ist hier immer wieder, das Bewusstsein des Klienten/der Klientin dafür zu stärken, dass die Gegenwart losgelöst ist von der Vergangenheit.

Die Atmung wird in die Übung integriert. Ich bitte die Klientin, ruhig zu atmen und mit dem Gefühl zu verweilen. Dieser Zustand unterscheidet sich davon, in einem Gefühl zu verweilen: Verweilte jemand in dem Gefühl, so wäre er identifiziert und würde alles glauben, was sein Gefühl ihm rät. Die Bewusstwerdung, dass nicht jedes Gefühl angemessen und nicht jeder Handlungsvorschlag des Gefühls adäquat ist, führt zu einer großen Entscheidungsfreiheit, die die Klientinnen und Klienten als ungeheuer erleichternd empfinden. Auf dieser Grundlage können neue Verhaltensstrategien erworben werden.