Die drei Positionen der Wahrnehmung

Um sich aus Verstrickungen zu lösen, gibt es eine wunderbare Übung, die ursprünglich aus dem Neurolinguistischen Programmieren (NLP; siehe dazu »Kleiner Exkurs: Neurolinguistisches Programmieren«) entwickelt wurde. Mit Hilfe dieser Übung bearbeite ich im therapeutischen Gespräch konkrete Konfliktsituationen. Dies möchte ich im Folgenden am Beispiel von Elke vorführen, die sich so maßlos über ihren Nachbarn und dessen Gartenzaun aufgeregt hat (siehe hier).

Übrigens hat dieses Gespräch im Rahmen meines Podcasts »Stahl, aber herzlich!« stattgefunden. Aufgrund der Aufnahme-Situation bin ich mit Elke die Positionen dieser Übung nicht im Raum abgewandert, sondern habe das Verfahren leicht variiert im laufenden Gespräch durchgeführt. Die folgenden Antworten sind also teilweise leicht konstruiert, hätten aber genau so ausfallen können.

1. Ich bitte Elke, sich einen Platz im Raum auszusuchen, auf den sie sich stellen soll. Das ist die erste Wahrnehmungsposition. In dieser Position ist man mit seinen Gefühlen und Gedanken voll identifiziert. In der ersten Position befinden wir uns immer dann (nicht nur im Kontext dieser Übung, sondern überhaupt im Leben), wenn wir mit unseren Gefühlen und Gedanken verbunden sind. Genauso wie für negative Gefühle gilt das auch für Glückszustände. Wenn ich diese Übung mit meinen Klientinnen und Klienten mache, geht es naturgemäß um negative Gefühle, die in den meisten Fällen mit ihrem Schattenkind zusammenhängen. Damit Elke ihre Gefühle gut erforschen kann, soll sie sich vorstellen, dass ihre Nachbarin in einem gewissen Abstand vor ihr steht. Ich gehe dann mit ihr noch mal in die Situation hinein, wie sie morgens vom Schlafzimmerfenster aus den neuen Gartenzaun erblickt. Ich unterstütze Elke, ihre Gefühle und Gedanken zu erforschen. »Wie fühlst du dich?« Antwort Elke: »Wütend!« – »Wo fühlst du dieses Gefühl im Körper?« Antwort Elke: »Im Brustraum brennt es.« Und nun kommt die entscheidende Frage: »Wie interpretierst du das Verhalten deiner Nachbarin?« Antwort Elke: »Die hat keinen Respekt! Mit mir kann man’s machen!« Mit dieser Interpretation des Geschehens macht Elke sich die wütenden Gefühle. Ich erinnere an den Ablauf:

1. Reiz (Nachbarszaun)

2.Interpretation (»Kein Respekt«)

3. Gefühl (maladaptiv, Wut) 4. Handlung (maladaptiv, Elke faltet ihren Mann zusammen).

Wenn Elke ihre Gefühle und Gedanken (man könnte auch sagen: ihr Schattenkind) in der ersten Position hinreichend erforscht und verstanden hat, bitte ich sie, aus ihren Gefühlen wieder auszusteigen. Damit das gelingt, beginne ich beispielsweise ein nebensächliches Gespräch, weil Ablenkung ja bekanntermaßen sehr gut hilft, um Gefühle zu verändern. Dann begeben wir uns in die zweite Position der Wahrnehmung.

2. Die zweite Position ist die Position der Empathie. Nun bitte ich Elke, sich auf den Platz im Raum zu stellen, an dem sie in der ersten Position ihre Nachbarin imaginiert hat. Ich begleite sie dabei, sich in diese einzufühlen: »Wie geht es dir mit der Elke als Nachbarin?« Antwort Elke in den Schuhen der Nachbarin: »Gut – wir verstehen uns gut.« – »Warum hast du Elke nicht gefragt, bevor du den Zaun gebaut hast?« Elke als Nachbarin: »Warum sollte ich, ist doch nur ein harmloser Zaun, um die Obstbäume zu stützen, was sollte sie dagegen haben?« In der zweiten Position spürt Elke, dass die Nachbarin ihr nichts Böses wollte. Hier kann sie bereits einen guten Abstand einnehmen zu ihrer Interpretation und ihren Gefühlen.

Die zweite Position einzunehmen fällt einigen Klienten schwer, entweder, weil ihre eigenen Emotionen zu stark sind, um mit dem »Feind« mitzufühlen, oder, weil es ihnen grundsätzlich schwerfällt, sich in andere Menschen einzufühlen. Letzteres ist, wie bereits erörtert, häufiger ein Problem aufseiten der Autonomen. Mit dieser Übung kann man das gut thematisieren und die empathische Perspektivenübernahme trainieren.

3. Die dritte Position ist die Beobachterposition. Diese nehmen wir ein, indem wir auf das Geschehen von außen schauen, und zwar mit Hilfe unseres klar denkenden Verstandes (Erwachsenen-Ich). Die Klientin soll aus einer möglichst neutralen Position den Konflikt betrachten. Ich schlage deshalb gern vor: »Stellen Sie sich vor, Sie wären eine Richterin und hätten diesen Fall zu beurteilen.«

Nun bitte ich Elke, sich selbst von außen zu betrachten und zu analysieren, welchen Anteil sie dazu beiträgt, dass die Situation mit ihrer Nachbarin schwierig ist. Elkes Antwort beinhaltet die Einsicht, dass ihre Nachbarin ihr nichts Böses will und sie negative Erfahrungen aus ihrer Kindheit auf die Situation überträgt (die ausführliche Antwort ndet sich im Abschnitt »Elke leidet unter Wutausbrüchen«).

Wenn die Analyse abgeschlossen ist, bitte ich Elke, die volle Verantwortung für ihren Anteil zu übernehmen. Zudem stelle ich ihr die folgende Frage: Wenn du dein eigener Coach wärst, was würdest du dir raten? Die Zusammenfassung von Elkes Antwort darauf lautet: »Ich muss lernen, dass meine alten Kindheitsprägungen nicht richtig sind. Und ich muss mich rechtzeitig ertappen, wenn ich sie auf eine Situation in der Gegenwart projiziere.«

Eine wichtige Frage an Elke an dieser Stelle ist: »Was sagt das Verhalten deiner Nachbarin über deinen Wert als Mensch aus?« Diese Frage stelle ich (sinngemäß) übrigens so immer mal wieder in Gesprächen mit meinen Klientinnen und Klienten. Sie hilft nämlich dabei, sich aus dem gespiegelten Selbstwertempfinden (siehe »Wir sind unsere Erinnerung«) zu befreien.

Elke, wie fast alle anderen Klienten auch, erkennt aus der Beobachtersituation, dass das Verhalten ihres Konfliktpartners nichts über ihren Wert als Mensch aussagt beziehungsweise keine Bestätigung der eigenen Glaubenssätze darstellt. (Bei Elke lautet ein zentraler Glaubenssatz: »Ich bin nicht wichtig.«)

Im nächsten Schritt bitte ich Elke, auf ihre Nachbarin zu schauen und ihren Anteil am Konfliktgeschehen zu analysieren. In Elkes Fall war die Nachbarin tatsächlich unbeteiligt. Das ganze Drama hat sich in Elkes Schattenkind abgespielt. Häufig können aber auf der anderen Seite einige Anteile, manchmal sogar alle Anteile, verortet werden. Dann bitte ich die Klienten, ihrem Konfliktpartner die volle Verantwortung für seinen Anteil zurückzugeben. Falls sich herausstellen sollte, dass der Konfliktpartner allein dazu beiträgt, dass die Situation sehr schwierig ist, dann thematisiere ich, warum der Klient, die Klientin diese Beziehung nicht beendet. Falls eine Trennung aus sachlichen Gründen nicht möglich sein sollte, erarbeite ich mit ihm oder ihr Metastrategien, damit sie besser mit dieser Person umgehen kann.

Diese Übung systematisiert die totale Aufgabentrennung, die Adler postuliert. Übrigens kann man aus der dritten Wahrnehmungsposition auch ein »Upgrade« in das Sonnenkind des Klienten vornehmen, sofern dies schon erarbeitet wurde. Dann bitte ich meine Klientinnen und Klienten, sich einmal voll mit ihrem Sonnenkind und ihren neuen Glaubenssätzen zu identifizieren und in ihre persönliche Kraftquelle (siehe Übung »Eintauchen mit allen Sinnen«) zu begeben. (Gegebenenfalls führe ich meine Klienten verbal in diese Situation hinein.) Mit dem Bewusstsein für die eigenen Ressourcen verändert sich die Beurteilung der Situation noch einmal. In Elkes Fall könnte es sogar passieren, dass sie anfängt zu lachen und sich alles vor ihrem inneren Auge in Wohlgefallen auflöst.