Dem Leben Sinn geben

Das ewige Kreisen um die eigene Verletzbarkeit macht egozentrisch. Wenn wir sehr viel dafür tun, um von anderen Menschen anerkannt zu werden, dann interessieren wir uns weniger für die anderen Menschen als vielmehr für den Eindruck, den wir bei ihnen hinterlassen. Mein Gegenüber benutze ich als Spiegel und Gradmesser meines Selbstwertes. Dabei kann ich in meiner Selbstbetrachtung leicht versinken und die Befindlichkeit meines Gegenübers aus den Augen verlieren.

Menschen, die stark mit ihren eigenen Verletzungen beschäftigt sind und misstrauisch-angespannt auf den nächsten Angriff lauern, fehlt es häufig an Empathie für die Befindlichkeit ihres Gegenübers. Sie wähnen sich chronisch in der Opferrolle und bemerken hierbei nicht, wenn sie sich selbst zum Täter machen.

Wenn ich mich dafür entscheide, meinen vermeintlichen Selbstschutz aufzugeben, dann ist das eine Entscheidung, die Auswirkungen auf die Gemeinschaft – im Sinne eines Wir – mit sich bringt. Selbstschutz bedeutet Abgrenzung. Die Grenzen zu öffnen, bedeutet hingegen, andere Menschen in mein Leben hineinzulassen. Indem ich mich öffne und mein Gegenüber über meine Ängste informiere, anstatt mich vor ihm zu verbarrikadieren, trete ich mit ihm in einen echten, nahbaren Kontakt. Ich gebe meinem Gegenüber eine Chance, Anteil an mir zu nehmen. Ich eröffne damit auch die Möglichkeit, mein Gegenüber wirklich zu mögen. Wenn ich mich öffne, mache ich mich jedoch auch verletzlich. Diese Verletzlichkeit kann ich leichter riskieren, wenn ich sie in den Dienst eines höheren Wertes, eines persönlichen Lebenssinns stelle.

Kleiner Exkurs: Logotherapie. Warum Sinnhaftigkeit heilsam ist

Neben Alfred Adler hat sich auch der Wiener Arzt und Psychotherapeut Viktor Frankl eingehend mit der Frage nach dem Sinn beschäftigt und durchlitten, dass fast jede Lebenssituation zu bewältigen oder einfach auch nur zu ertragen ist, solange man noch einen Sinn verfolgen kann. Frankl war Jude und hat als Einziger in seiner Familie den Zweiten Weltkrieg überlebt.

Nach dem Krieg schrieb er das Buch »Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das  Konzentrationslager«, das ein internationaler Bestseller wurde. Im Konzentrationslager hat Frankl jeden Tag aufs Neue versucht, sich gegen die Selbstaufgabe zu schützen, indem er seine Mitgefangenen unterstützte, sich das Warum ihres Lebens, ihr Lebensziel, bewusst zu machen. Je mehr ich das Warum in mir stärke, desto besser kann ich das Wie – in diesem Fall das entsetzliche Lagerleben – aushalten. Frankl war überzeugt »Es ist nicht das Hauptanliegen des Menschen, Freude zu erreichen oder Schmerz zu verhindern, sondern einen Sinn in seinem Leben zu sehen«.

Sinn und höhere Werte können das Rückgrat ungeheuer stärken. Ich schlage meinen Klientinnen und Klienten deswegen gern vor, die Frage »Wie kann ich mich am besten selbst beschützen?« (Vermeidungsmotiv) durch die Frage »Was ist sinnvoll beziehungsweise was ist anständig?« (Annäherungsmotiv) zu ersetzen. Wenn ein Klient sich beispielsweise mal wieder dabei ertappt, dass er aus Ich-Angst Ja sagt, obwohl er Nein meint, dann sollte er sich die Frage vorlegen, ob das gerade fair ist, was er da tut. Fairness als höherer Wert kann ihm den Mut geben, sein Gegenüber offen über seine Wünsche und Bedürfnisse zu unterrichten. Nur hierdurch gibt er ihm die Chance, sich ihm gegenüber richtig zu verhalten. Jetzt kann er oder sie nämlich sagen: »Okay, so können wir das auch machen.« Oder: »Lass uns einen Kompromiss finden.« Macht der Klient hingegen zähneknirschend, was der andere will, dann wird er dem anderen das verübeln. In diesem Fall projiziert er nämlich in sein scheinbar stärkeres Gegenüber eine Dominanz hinein, die es in seinen Schattenkind-Augen eher feindselig denn
mitmenschlich erscheinen lässt.

Werte geben unserem Leben Sinn. Werte können uns über unsere Ängste, sogar Todesangst, hinauswachsen lassen, wie es unter anderem die sozialistische Freiheitskämpferin Rosa Luxemburg, der amerikanische Bürgerrechtler Malcolm X und die pakistanische Kinderrechtlerin Malala Yousafzai gezeigt haben. Ich persönlich frage mich immer, wieso wir uns eigentlich wundern, dass es im Dritten Reich nicht mehr Widerstand gegeben hat, wenn wir uns noch nicht einmal trauen, mit einem guten Freund ein offenes Wort zu reden. Wir bräuchten dafür Offenheit statt Rückzug und Abgrenzung. Rückzug und Abgrenzung mögen kurzfristig die Ich-Angst vor Zurückweisung eindämmen, aber sie fügen dem anderen den Schaden der Zurückweisung zu, den ich bei mir selbst vermeiden möchte. Ist das fair?

Deswegen rege ich meine Klientinnen und Klienten auch an, darüber nachzudenken, welche höheren Werte sie unterstützen können, um ihre maladaptiven Schutzstrategien zu überwinden. Fairness hilft sehr gut bei Konfliktscheu. Aber auch Zivilcourage, Mut oder Freundschaft sind dabei hilfreiche Werte. Wohlwollen ist ein wunderbarer Wert für Klienten, die ihren Mitmenschen mit viel Misstrauen begegnen. Frieden, Mitgefühl und Toleranz helfen, das eigene Aggressionslevel herunterzufahren.

Ich bitte meine Klientinnen und Klienten, sich mindestens einen höheren Wert auszusuchen und diesen fest in ihrem Leben zu verankern. Mit Hilfe einer Imaginationsübung stellen sie sich vor, wie sich ihr Leben mit dem neuen Wert verändern wird. Es geht um: Reden statt Rückzug. Gelassenheit statt Angriff. Dankbarkeit statt Problemfokus. Wohlwollen statt Misstrauen. Mut statt Überanpassung.

Die Menschen, die meinen Rat suchen, machen gute Erfahrungen damit, sich mit höheren Werten jene Stärke zu verleihen, die sie für ihr Wachstum benötigen.