Die Blaupause der Gesundheit

Die Blaupause der Gesundheit

Die Erwartung, geheilt zu werden oder zumindest eine Besserung unangenehmer Symptome zu erfahren, ist wohl die Grundlage jeder Heilung, ganz gleich, ob ein Scheinmedikament gegeben wird oder ein Präparat mit chemisch wirksamen Stoffen. Wenn der Körper nicht von alleine mit einer Störung fertig wird, wenn er nicht vom Bewusstsein unbemerkt im Hintergrund das Gleichgewicht aufrechterhalten oder wiederherstellen kann, braucht der Geist einen äußeren Reiz, das Gefühl, in eine bedeutungsvolle Handlung eingebunden zu sein. Weil jede Behandlung, jede Medikamentengabe und auch jede Operation, ein Geflecht aus Hoffnung und Wünschen, aus Glauben und Vertrauen schafft, ist Heilung nie vom Wirken der Seele und des Geistes zu trennen. 


Die Hoffnung der Schulmedizin, den Placebo-Effekt als gleichsam unerwünschte Nebenwirkung von der eigentlichen, der wissenschaftlich reinen Medizin zu trennen, ist unerfüllbar, denn medizinische Behandlung ist stets eine Mischung aus persönlicher Begegnung, bedeutungsvollen Handlungen und unmittelbar messbaren Eingriffen. Weil das so ist, kann niemand am Ende entscheiden, warum eine Behandlung Erfolg hatte oder nicht und wie hoch dabei der Anteil etwa eines chemischen Wirkstoffes tatsächlich war.


Inzwischen haben manche Forscher dieses Problem erkannt und eine neue Definition jenes legendären Effektes vorgeschlagen, die den Begriff Placebo vermeidet und mehr auf das Thema Selbstheilung setzt. Die heilende Kraft des Bewusstseins nennen sie »eigenständige therapeutische Effekte«, und sie sagen, dass jede Veränderung im Befinden eines Menschen, die durch die Arbeit eines Arztes oder Heilers zustande kommt, eine vielfach verwobene Antwort von Körper, Geist und Seele auf das Heilungsangebot darstelle, wobei die Wirkung des Heilers und seiner Mittel nicht voneinander zu trennen seien.[17]

 

Diese neue Betrachtung gibt dem Placebo-Effekt die Anerkennung, die ihm im Kunstwerk der Heilung gebührt, denn sie betrachtet ihn nicht mehr als lästiges Störgeräusch in der Melodie chemischer Substanzen, sondern erhebt ihn gleichsam zum Leitmotiv der Komposition selbst.


Gleichzeitig aber macht diese Sichtweise auch deutlich, dass es auf den Zuhörer ankommt, der am Ende die Harmonie der Komposition beurteilt: Wie sich die Handlung des Arztes oder Heilers auswirkt, hängt entscheidend vom Patienten selbst ab, also davon, wie er die medizinische Behandlung erlebt und welche Saiten sie in seiner Seele zum Klingen bringt. Bei genauer Betrachtung bedeutet dieser Gedanke, dass in jeder medizinischen Behandlung ein Moment der Unwägbarkeit liegt, dass die Hoffnung, eines Tages gleichsam mit der elektronischen Hand eines Roboters in die entschlüsselten Schaltpläne einer Maschine eingreifen und sie nach dem stets gleichen Schema reparieren zu können, eine Illusion ist.

 

Heilung ist offenbar immer ein individueller Akt, abhängig von den Lebensumständen des Patienten und des Arztes, von Hoffnungen, Glaubensvorstellungen, Erwartungen und Vertrauen. Diese besondere Beziehung, die in der Handlung des Heilens selbst ihren Ausdruck findet, entzieht sich der Gleichmacherei der Statistiken, die ja gerade individuelle Unterschiede unsichtbar machen und am liebsten dauerhaft ausschließen möchte. In den großen medizinischen Studien gibt es keine Individuen, nur Patientengruppen, die über scheinbar eindeutige, genau abgrenzbare Symptome verfügen. Die Studien setzen stillschweigend voraus, dass sich die individuellen Unterschiede der Patienten einer Gruppe im Durchschnitt aufheben und alle Patienten zusammen eine einzige, genau beschreibbare Erkrankung mit klaren Symptomen repräsentieren, so als ob eine Erkrankung ein physikalisches Objekt wäre, das sich messen, wiegen und objektiv beschreiben ließe. Aber jede Erkrankung ist nur die Oberfläche eines Zustandes, der von einer unüberschaubaren Zahl individueller körperlicher und seelischer Abläufe gesteuert wird. Diese großen Unterschiede können am Ende durchaus zu vergleichbaren Symptomen führen – aber wer verstehen will, warum ein bestimmter Mensch erkrankte, darf nicht am Ende beginnen, sondern muss den Anfang betrachten.

 

Was genau geschieht im Gehirn, wenn ein Placebo zu wirken beginnt? Mehrere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Einnahme der chemisch wirkungslosen Tablette zielgenaue biologische Prozesse im Körper auslöst: bei Schmerzpatienten schüttet das Gehirn nach kurzer Zeit Endorphine aus, einen schmerzstillenden Stoff.[18] Die Scheinmedikation beeinflusst auch andere Substanzen, so als ob eine umfassende Intelligenz genau wüsste, welche körpereigenen Reaktionen notwendig sind, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.


Eine Studie mit Parkinson-Patienten[19] konnte nachweisen, dass unter Placebo-Einfluss im Gehirn mehr Dopamine entstehen, Hormone, die für die Koordination der Bewegung notwendig sind. In der klassischen medizinischen Therapie werden häufig Dopamin-Präparate gegeben, um die Symptome der Schüttellähmung zu lindern, weil der kranke Körper offenbar die Fähigkeit verliert, dieses Hormon in ausreichender Menge zur Verfügung zu stellen. Das Placebo hat eine viel direktere Wirkung: Es regt das Gehirn an, selbst wieder dieses Hormon zu bilden.


Was hier geschieht, ist mit den Begriffen der materialistischen Wissenschaft nur schwer zu erklären, denn es sind im eigentlichen Sinne des Wortes immaterielle Vorgänge – innere Bilder oder gar abstrakte Stimmungen wie Vertrauen oder Glaube –, die im Körper Veränderungen auslösen. Offenbar ist der Geist in der Lage, im ganzen Körper ordnend einzugreifen. Anders als ein chemisches Präparat, das unmittelbare Veränderungen in der Chemie des Körpers bewirkt und dabei zwangsläufig auch unerwünschte Nebenwirkungen hervorruft, einem Schrotschuss auf ein kleines Ziel vergleichbar, scheint der Geist, angeregt durch ein äußeres Zeichen von Bedeutung, direkt dort zu wirken, wo es der Patient braucht.


Die Symptome nimmt er wie einen Leitstrahl, der zu den notwendigen biologischen Reaktionen im Körper führt: Weil der Patient seine Symptome kennt – Schmerzen oder einen unangenehmen Allgemeinzustand – kann der Geist die Richtung der Verwandlung bestimmen. Ohne dass der Patient die verborgenen Zusammenhänge auch nur entfernt kennt, löst das innere Bild der Heilung nun offenbar zielgenau die richtigen Veränderungen in der
Körperchemie aus, die am Ende vermutlich bis in die Gene wirken.[20]

 

Was ist der »Wirkstoff«, der einem Placebo seine Macht verleiht? 

  • Ernst Pöppel, Professor für medizinische Psychologie an der Universität München, vermutet, dass es die mit der Gabe der Pille verbundene Information ist, und 
  • Karin Meißner, die am Münchener Institut die verborgenen Prozesse experimentell untersucht, entwickelte eine Theorie, die erklärt, wie aus dieser Information biologische Veränderungen entstehen könnten: Jedes Organ hat im Gehirn einen Bereich, in dem es »repräsentiert« wird, gleichsam ein geistiges Abbild. Wenn die heilende Information (»Diese Tablette wird deinem Herzen sicher helfen«) das Bewusstsein erreicht, aktiviert sie die dort gespeicherten Daten, gleichsam die Blaupause der Gesundheit. 
  • Über die Nervenbahnen ist das Gehirn mit allen Teilen des Körpers verbunden, und auf diesem Weg gelangt die Information »Heilung« bis zum betroffenen Organ, das sich nun dem neuen Bild anpasst: Der Blutdruck senkt sich oder verengte Herzkranzgefäße weiten sich, ganz unterschiedliche Symptome verschwinden.[21]

Ein erstaunlicher Vorgang: Offenbar genügt eine klare und mit Überzeugung vorgetragene Aussage, um einen komplizierten Mechanismus der biologischen Umgestaltung in Gang zu setzen. Das Wachbewusstsein des Patienten muss nicht die geringste Vorstellung davon haben, was im Körper geschieht– nur den Wunsch, gesund zu werden, und den Glauben, dass dies nun möglich ist. Ein starkes Indiz für die Macht des Immateriellen über das Materielle, für die Macht des Geistes über den Körper, vielleicht der Schlüssel für das Verständnis von Heilung überhaupt.


Dieses neue Verständnis der Selbstheilungskräfte hat eine erstaunliche Entsprechung in den Überlieferungen der Shipibo-Indianer in Peru: Sie glauben, dass jedes Organ eine eigene Seele besitzt, ein gesundes Abbild, das stets unversehrt bleibt, auch wenn der Mensch erkrankt. Die Seele kann aber den Kontakt zum Körper verlieren, und dann muss der Schamane das heilende Abbild des erkrankten Organs in den Landschaften der Seele aufspüren und dem Patienten zurückbringen.


Diese noch immer geheimnisvollen Zusammenhänge sind das eigentliche Wunder der Heilung. Medizinforscher wie Harald Walach, Professor an der Universität von Northampton, halten die Placebo-Wirkung insgesamt für den bedeutendsten Faktor in der Medizin: In Anspielung auf ein Glasfenster in der gotischen Kathedrale von Chartres, das die Wissenschaft des Mittelalters als Zwerg auf der Schulter eines Riesen darstellt, der Tradition und Überlieferung, sieht Harald Walach die chemische und physikalische Wirkung ärztlicher Medikamentengaben und Operationen in einem ähnlichen Bild: Chemie und Physik seien wie Zwerge auf der Schulter eines Riesen, der verborgenen Selbstheilungskraft.