Krieg im Körper

Krieg im Körper

Die moderne Medizin hat auf der Suche nach einer Antwort den Geist und die Seele fast vollständig ausgeschlossen, sie stellt den Körper und seine komplizierten biologischen Mechanismen in den Mittelpunkt. Der Körper erscheint ihr als Maschine, die perfekt konstruiert die Arbeit aufnimmt und lediglich gewartet werden muss, damit sie fehlerfrei funktioniert. Natürlich wird sie sich mit der Zeit abnutzen, Verschleißerscheinungen treten auf, auch ist es möglich, sie falsch zu bedienen oder schlecht zu schmieren. Fällt sie aus, können Fachleute den Fehler herausfinden und reparieren, notfalls Teile austauschen, bis eines Tages eine Reparatur nicht mehr möglich ist.


Der Geist spielt in diesem Modell nur insofern eine Rolle, als jeder Mensch als Besitzer seines Körpers gleichzeitig für die »Bedienung« verantwortlich ist. Sollte er also Unregelmäßigkeiten übersehen oder die vorgeschriebenen Inspektionszyklen nicht einhalten, oder sollten die von
ihm beauftragten Techniker bei der Wartung Fehler machen, könnte das schwerwiegende Folgen haben, denn die Maschine insgesamt ist nicht zu ersetzen.


Aus Sicht der Schulmedizin ist der Körper also gesund, wenn er ins Leben tritt, von Erbkrankheiten und möglichen Schäden durch Geburtskomplikationen einmal abgesehen. Aber er ist ständig »von außen« bedroht: durch Erreger aller Art und durch Unfälle. Gesundheit gilt als Normalzustand, der durch äußere oder (seltener) innere Einflüsse ins Ungleichgewicht geraten kann, wobei auch die inneren Einflüsse stets als Ausdruck der Materie gesehen werden: Denn auch hinter psychosomatischen Erkrankungen, also hinter Symptomen, die sich leicht in Zusammenhang mit psychischen Belastungen bringen lassen – Dauerstress zum Beispiel, Niederlagen oder Verluste, Missbrauch, Mobbing, Überforderung im Beruf oder in privaten Beziehungen –, stehen körperliche
Regelkreise, das Wechselspiel unterschiedlicher Botenstoffe, die Ausschüttung oder das Fehlen von Hormonen, und hinter diesen letztlich körperlichen Abläufen das Gehirn, der materielle Träger des Bewusstseins.


Wir sind Körper, die in der Illusion leben, Geist zu sein, sagt unser modernes Weltbild, und wenn wir vielleicht einer alten Vorstellung anhängen und glauben, einen Körper zu haben, in dem unsere Seele wohnt, sei letztlich auch die Seele nur ein Ausdruck des Körpers, jede psychosomatische Erkrankung also im letzten Grund nur eine andere Form körperlichen Leidens.

 

Die moderne Medizin hat ihren Blick seit den Zeiten der griechischen Antike, vor allem aber seit dem Sieg des rationalen Denkens über das magische Weltbild des Mittelalters und der frühen Neuzeit, auf das Wechselspiel von (biologischer) Ursache und Wirkung gelegt und andere Dimensionen als irrational ignoriert. Deshalb bewegt sich die Forschung ebenso wie unser Denken vor allem in eine Richtung: Krankheit wird nicht als ein Zustand gesehen, in dem körperliche, geistige und seelische Aspekte eine Rolle spielen, indem also ein Gewebe unterschiedlicher Kräfte wirksam wird– Krankheit ist nur ein anderes Wort für eine Summe von Symptomen.

 

Auch den alten philosophischen Gedanken, Krankheit als einen Zustand zu verstehen, der in einer dualen Welt stets existieren muss, einfach weil es sein Gegenteil gibt (so wie auf der Erde Schönheit nicht ohne Hässlichkeit, Liebe nicht ohne Hass, Frieden nicht ohne Krieg denkbar ist), ignoriert die moderne Medizin. Und so spaltet sie den umfassenden Begriff – nicht ohne Folgen für unser Denken, das von der Illusion geprägt ist, Krankheit insgesamt besiegen zu können– in viele kleine Teile auf, in »Krankheiten«, wo doch genauer von »Erkrankungen« die Rede sein müsste. Jede Gruppe von Symptomen, die im Zusammenhang auftritt, erhält einen bestimmten Namen: grippaler Infekt, HWS-Syndrom, Nierenbeckenentzündung, Lungenkrebs. Damit kann aus der Fülle möglicher Bilder ein Teilstück herausgelöst und isoliert betrachtet werden. Gelingt es dem Arzt, diese Gruppe von Symptomen zum Verschwinden zu bringen, also zum Beispiel Fieber, Gliederschmerzen, Halsentzündung und Schnupfen beim grippalen Infekt, gilt die konkrete Erkrankung als geheilt und der Patient als gesund.

 

Die Idee hinter diesem Denken hat zu wirkungsvollen Behandlungsmethoden geführt, nicht nur bei harmlosen Erkrankungen, sondern auch bei lebensbedrohlichen. Und dennoch ist der Blick dieser modernen Heilkunde verengt, wie der Blick in einen Tunnel, der den größeren Zusammenhang der ihn umgebenden Landschaft verstellt. Denn Symptome sind fast immer nur vordergründiger Ausdruck einer grundlegenden Störung. Ihr Verschwinden kann, wird die eigentliche Ursache nicht behandelt, niemals endgültig sein, nach einiger Zeit werden Störungen zurückkehren, und mit ihnen dieselben oder jetzt vielleicht veränderte, verschobene Symptome.

 

Natürlich hat auch die naturwissenschaftliche Medizin dieses Problem erkannt. Sie bekämpft deshalb nicht nur die unmittelbaren Symptome – Schmerzen, Hautausschläge, Fieber – mit unterdrückenden Substanzen, sondern sie versucht, die unsichtbaren Verursacher der äußerlich sichtbaren Krankheitsbilder zu entdecken und dann zu vernichten, mit Antibiotika zum Beispiel und anderen wirksamen Mitteln.


Und sie hat Strategien entwickelt, Erkrankungen vorbeugend zu bekämpfen, durch gezieltes Training des Immunsystems zum Beispiel, wie das die Impfung versucht: Die eigene »innere Armee« wird mit Angreifern konfrontiert, die einen Teil ihrer Kraft eingebüßt haben und die hoffnungslos in der Minderheit sind. Das schult die Verteidigungskräfte und hilft ihnen, den Gegner auch in Zukunft sicher und schnell zu erkennen und rechtzeitig mit der Mobilmachung zu beginnen, bevor die Streitkräfte der
Angreifer wichtige Brückenköpfe im Körper besetzt haben, von denen sie nur noch schwer zu vertreiben sind. Dieses »militärische« Konzept von Heilung hat sich bei vielen Erkrankungen bewährt, solange der Angreifer nicht seinerseits neue Methoden entwickelt, das Prinzip rascher Verwandlung zum Beispiel, oder die Methode, sich unsichtbar zu machen oder zumindest eine Zeit lang im
Verborgenen zu warten, bis die Aufmerksamkeit der Verteidiger nachgelassen hat, um dann – wie die griechischen Invasoren Trojas – aus dem Versteck aufzutauchen und die völlig überraschten Verteidiger vernichtend zu schlagen. Manche Erkrankungen verlaufen nach diesem Prinzip, die rätselhafteste und bisher im tragischen Sinne kreativste ist die Immunschwäche AIDS, deren Erreger ständig Form und Strategie ändern, so als ob sie Spione hinter die Linien der Verteidiger schickten, um frühzeitig Abwehrstrategien unterlaufen zu können.