Kollateralschäden
Kollateralschäden
Während im Körper also aus Sicht der konventionellen Medizin ein dem bloßen Auge unsichtbarer Krieg tobt, leidet der Mensch an den Symptomen, die der Arzt direkt bekämpft – durch die Gabe fiebersenkender oder schmerzlindernder Medikamente – und indirekt, indem er versucht, die fremden Eindringlinge mit der Macht chemischer Mittel zu zerstören. Der Preis für das Verschwinden der Symptome sind die Nebenwirkungen: In den Beipackzetteln der Medikamente sind sie aufgelistet, oft relativ harmlose, manchmal aber auch schwerwiegende.
Nach Schätzungen von Arzneimittelexperten sterben allein in Deutschland jährlich zwischen 15000 und 20000 Menschen an Nebenwirkungen von Medikamenten.[1] Einer der wichtigsten Gründe dafür ist die falsche, zu hohe Dosierung. Weil etwa 40 Prozent der Bevölkerung ein bestimmtes Enzym fehlt, das in der Leber für die Entgiftung benötigt wird, ist für sie die normale Dosierung bereits schädlich. Die notwendige Arzneimittelmenge wird für einen statistischen Durchschnitt der Bevölkerung berechnet – so erhalten viele Menschen zu hohe Dosen, manche werden geradezu vergiftet, wie Experten sagen. Auch die Tatsache, dass Frauen auf dasselbe Medikament aus biologischen Gründen von vorneherein anders reagieren als Männer gleicher Körpergröße und gleichen Gewichts, bleibt in der täglichen Praxis fast unbeachtet (und davon steht auch nichts in den Beipackzetteln).
Weil viele Menschen, vor allem im höheren Alter, oft mehrere unterschiedliche Medikamente einnehmen, deren Wirkungen sich teils aufheben, teils addieren, treten nicht selten neue Symptome auf, die sich die behandelnden Ärzte nicht erklären können und die sie deshalb mit neuen
Medikamenten bekämpfen. Ein Teufelskreis, der schwere Schäden hervorrufen kann, eine oft übersehene Ursache für manchen unerklärlichen Todesfall.
Alle diese Folgen sind der Preis eines Denkens, das in erster Linie die Symptome im Blick hat und den Wunsch der Patienten nach rascher Gesundung erfüllen möchte, im Gegensatz zu einer Sichtweise, die alle Zusammenhänge beachtet. Nebenwirkungen sind die Kollateralschäden der
Schulmedizin.
Im Falle von Krebserkrankungen kommt noch eine dramatische Komponente hinzu, denn der Feind ist hier Teil des eigenen Körpers, entartete Zellen, die sich aus Gründen, über die Wissenschaftler aller
medizinischen Richtungen seit Jahrzehnten debattieren, wie Fremdkörper verhalten, wie Eindringlinge von außen, oder – um im Bild zu bleiben – wie Terroristen, denen am eigenen Leben nichts liegt, wenn sie nur ihr Ziel erreichen, die Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat, zu zerstören. Tatsächlich sind Krebszellen Selbstmordattentätern vergleichbar, denn wenn sie die Macht übernehmen und den Körper besiegen, sterben sie mit ihm.
In der Frühzeit der schulmedizinischen Offensive gegen diese gut versteckten und die gesamte Infrastruktur des Körpers nutzenden Feinde waren die Nebenwirkungen von Bestrahlung und vor allem Chemotherapie oft unerträglich. Manche Kritiker dieser Behandlungsmethode warfen den
Ärzten vor, den Patienten mehr zu schaden als zu nützen. Oft schien tatsächlich unklar zu sein, ob hohe Dosen dieser Mittel nicht eher für den Tod des Patienten verantwortlich waren als die Krankheit selbst, vor allem wenn die Ärzte zu der radikalen Methode griffen, den Körper mit extremen Gaben von Chemotherapeutika zu überschwemmen, um möglichst alle entarteten Zellen, die überall verstreuten Metastasen, zu töten.
Zwangsläufig brach das Immunsystem vollständig zusammen, und die meisten Patienten starben – »trotz unserer Behandlung«, sagten die Krebsspezialisten, »wegen dieser Behandlung«, ihre Kritiker.
Die Chemotherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt, ist präziser geworden, schonender für das gesunde Gewebe. Oft kommen die Ärzte mit geringeren Dosen aus: Neue Verfahren sind in der praktischen Erprobung, die Mittel direkt an die Krebszellen zu führen und so Nebenwirkungen fast auszuschalten. Bestrahlung und Chemotherapie haben vielen Menschen das Leben verlängert und (bei niedriger Dosierung) im Sinne einer schmerzlindernden Therapie auch wieder lebenswert gemacht, zumindest für eine beschränkte Zeit. Immer häufiger aber erleben die Onkologen auch dauerhafte Heilungen, bei denen ihre Therapie offenkundig erfolgreich war.
Dennoch würde eine Theorie, die diese Erfolge vor allem oder gar ausschließlich der unmittelbaren Wirkung von Chemotherapeutika zuschriebe, zu kurz greifen. Der Onkologe W. M. Gallmeier wies darauf hin, dass nicht einmal diese wirkungsvolle Waffe der Schulmedizin für sich reklamieren könne, dem kranken Körper »von außen« Heilung zu bringen: Chemotherapie helfe bei einem metastasierenden Tumor oder einer Leukämie nur deshalb, weil »zum Teil noch völlig unbekannte körpereigene Mechanismen greifen«. So gesehen sei jede Therapie immer nur Hilfe zur Selbsthilfe.[2] Die wirklichen Zusammenhänge sind also noch nicht bekannt, sie sind vermutlich wesentlich komplexer, als sich das die meisten Ärzte im Augenblick vorstellen.
Aber auch ohne die Zusammenhänge vollständig zu verstehen, kann die Medizin auf vielen Gebieten Erfolge feiern: Unschlagbar ist die Kunst der Ärzte in der Akutmedizin, auch in der Chirurgie, wo heute mit fast unvorstellbarer Präzision selbst im Mikrobereich des Gehirns erfolgreiche Eingriffe möglich sind.
Aber was geschieht jenseits dieser Kunst und jenseits der Akutmedizin? Wenn eine Erkrankung länger als 14 Tage dauert, betonen ärztliche Kritiker der High-Tech-Medizin, könne die Schulmedizin nicht mehr dauerhaft heilen. Vor allem chronische Erkrankungen seien nicht mit einfachen
biologischen Wirkmechanismen zu erklären. Es ist wohl eher eine »systemische« Sicht, die der Wirklichkeit näher kommt: Jeder Mensch ist ständig zahllosen Störungen ausgesetzt, die das
Gleichgewicht von Körper und Seele beeinflussen. Lange Zeit kann das System dennoch in Harmonie bleiben, denn es verfügt über die Fähigkeit, Schwankungen kreativ auszugleichen. Wenn aber viele Faktoren zusammenkommen, »äußere« (wie falsche Ernährung, giftige Substanzen, Strahlung, Klimafaktoren, chronische Entzündungsherde, Abnutzungserscheinungen, ein Übermaß an Pilzen,
Bakterien oder Viren) oder »innere« Faktoren (wie seelische Probleme), dann genügt vielleicht eine kleine zusätzliche Belastung, um große Symptome hervorzurufen.
Wenn der Arzt nun hinter diesen Symptomen eine einzige Ursache vermutet, muss er fast zwangsläufig scheitern: Es ist ja ein ganzes Geflecht von Ursachen, das hinter der diagnostizierbaren Erkrankung steht. Deshalb kann es nicht dauerhaft helfen, die akuten Symptome mit wirkungsvollen
Medikamenten zu »löschen« – die Erkrankung wird nach einiger Zeit (vielleicht in veränderter Form) zurückkehren.
Aus Sicht der konventionellen Medizin wäre die neue Erkrankung Folge einer neuen Ursache, die mit der früheren Erkrankung in keinem Zusammenhang steht, oder sie würde als Folge eines gestörten
Immunsystems verstanden. In Wirklichkeit aber könnte das System insgesamt überlastet und dauerhaft in Unordnung geraten sein.
Auch bei akuten Erkrankungen, die sich mit dem Angriff von Bakterien und Viren plausibel erklären lassen, sind die Zusammenhänge wesentlich komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. Wenn Viren und Bakterien tatsächlich die einzigen Verursacher einer Infektion sind, warum erreichen diese mikroskopisch kleinen Lebewesen bei dem einen Menschen ihr Ziel und bei dem anderen nicht? Warum wird der eine krank und der andere bleibt gesund, obwohl vielleicht um ihn herum alle anderen erkranken? Warum ist die Abwehrkraft des einen Patienten geringer als die des anderen?
Impressum