IZ: 3.3 Wie funktioniert das Gehirn?

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Sobald ich verstanden hatte, wie die IMPs funktionieren, konnte ich schließen, dass die Zellfunktionen hauptsächlich durch ihre Interaktion mit ihrer Umgebung gesteuert wer­den und nicht durch ihren genetischen Code.

 

Zweifellos sind die DNS-Blaupausen im Zellkern bemerkenswerte Moleküle, die im Laufe von über drei Milliarden Jahren ent­standen sind, aber sie steuern nicht die Funktionen der Zelle.

 

Außerdem können die Gene das Leben einer Zelle logischerweise gar nicht im Voraus programmieren, denn das Überleben der Zelle hängt schließlich von ihrer Fähigkeit ab, dynamisch auf jede Veränderung ihrer Umgebung zu reagieren.

 

Die Funktion der Membran, »intelligent« auf jeden Umweltimpuls zu reagieren und daraus ein Verhalten abzuleiten, macht aus ihr das wahre Gehirn der Zelle. Wenn wir diese Hypothese der gleichen Prüfung unterziehen, wie wir es beim Zellkern gemacht haben, erleben wir, daß die Zelle sofort stirbt, wenn wir die Membran entfernen. Und selbst wenn man die Membran intakt läßt und nur die Rezeptor-Proteine zerstört, was im Labor mit entsprechenden Enzymen leicht zu bewerkstelligen ist, wird die Zelle »ge­hirntot«.

 

In ihrem Koma empfängt sie keine Signale aus der Umwelt mehr, die für ihre Funktionen wichtig sind. Die Zelle verfällt aber auch ins Koma, wenn die Rezeptorpro­teine intakt bleiben und die Effektorproteine ausgeschaltet werden. Um »intelligentes« Verhalten zu zeigen, braucht die Zelle eine funktionierende Membran mit Rezeptoren
(Wahrnehmung) und Effektoren (Handlung). Diese Proteinkomplexe sind die grundle­genden Einheiten der zellulären Intelligenz.

 

Bei der Untersuchung dieser grundlegenden Wahrnehmungseinheiten haben wir die Zelle auf ihre fundamentalen Grundelemente reduziert. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daran zu erinnern, daß es in jeder Zellmembran Hunderttausende dieser Schal­ter gibt. Das Verhalten einer Zelle kann also nicht durch die Beobachtung eines einzel­nen Schalters verstanden werden, sondern nur durch die Berücksichtigung der Gesamt­
heit aller Schalter. Das ist ein ganzheitlicher Ansatz, auf den ich im nächsten Kapitel noch weiter eingehen werde.

 

Auf der zellulären Ebene ist die Geschichte der Evolution im Wesentlichen eine Ge­schichte der Maximierung der grundlegenden »intelligenten« Einheiten, also der Rezep­tor- und Effektorproteine der Zellmembran. Die Zellen wurden klüger, indem sie ihre äußere Membran effizienter nutzten und ihre Oberfläche ausdehnten, damit mehr IMPs hineinpassten.

 

In primitiven Prokaryoten-Organismen führen die IMPs alle wesentlichen
physiologischen Funktionen wie Stoffwechsel und Atmung aus. Im weiteren Verlauf der Evolution wandten sich Teile der Membran mit diesen physiologischen Funktionen nach innen und bildeten die Organellen, die für das eukaryotische Zytoplasma so ty­pisch sind.

 

Damit verblieb mehr Membranoberfläche zur Ansiedlung von IMPs. Außer­
dem ist die Eukaryote tausendfach größer als die Prokaryote, was ihr auch wesentlich mehr Membranoberfläche verschafft, also Platz für mehr IMPs. Daraus folgert mehr Wahrnehmung, was die Überlebenschancen erhöht.

 

Im Laufe der Evolution erweiterte sich die Zellmembran, doch dieser Erweiterung wa­ren physische Grenzen gesetzt. An einem gewissen Punkt war die dünne Zellmembran nicht mehr in der Lage, die zunehmende Masse von Zytoplasma zu halten. Das kann man sich so vorstellen, als fülle man einen Luftballon mit Wasser. Eine Weile geht das gut, das Gummi hält und man kann den Ballon so weitergeben. Doch wenn man das
Fassungsvermögen des Ballons überschreitet, reißt er und sein Inhalt läuft aus, genauso wie eine zu prall gefüllte Zelle leicht reißt.

 

Als die Zellmembran diese kritische Ausdeh­nung erreichte, war die Evolution der Einzeller an ihrer Grenze angelangt. Die ersten drei Milliarden Jahre gab es nur Einzeller auf diesem Planeten, weil die Entwicklung erst weitergehen konnte, als die Zelle eine neue Möglichkeit fand, ihre Wahrnehmung zu erweitern. Um klüger zu werden, fingen die Zellen an, sich mit anderen Zellen zu­sammenzuschließen. Sie bildeten mehrzellige Gemeinschaften, in denen sie die Wahr­nehmung untereinander verteilen konnten.

 

Wie ich im ersten Kapitel beschrieben habe, sind die lebenswichtigen Funktionen einer Zelle die gleichen wie die lebenswichtigen Funktionen einer Zellgemeinschaft. Doch in den mehrzelligen Gemeinschaften fingen die Zellen an, sich zu spezialisieren. Diese Ar­beitsteilung kommt in unseren verschiedenen Geweben und Organen zum Ausdruck.

 

Im Einzeller wird zum Beispiel die Atmung durch die Mitochondrien ausgeführt. In einem mehrzelligen Organismus entsprechen die Mitochondrien den Milliarden spezialisierter
Lungenzellen.

 

Ein weiteres Beispiel: Die Bewegung des Einzellers entsteht durch die Interaktion zytoplasmischer Proteine namens Aktin und Myosin. In einem Mehrzeller haben die Gemeinschaften spezialisierter Muskelzellen die Aufgabe der Bewegung übernommen, von denen jede über große Mengen an Aktin und Myosin verfügt.

 

Ich wiederhole diese Dinge hier noch einmal, weil ich betonen möchte, daß es zwar die
Aufgabe der Membran einer einzelnen Zelle ist, die Umwelt wahrzunehmen und in an­gemessene Reaktionen umzusetzen, daß diese Funktionen in unserem Körper jedoch von einer speziellen Gruppe von Zellen übernommen wurden, die wir Nervenzellen nennen.

 

Auch wenn zwischen den Einzellern und uns eine lange Entwicklung liegt, glaube ich, wie bereits erwähnt, daß die Erforschung der einzelnen Zelle einen wichtigen Beitrag zum Verständnis hochkomplexer Mehrzeller leisten kann. Selbst unser kompliziertestes Organ, das Gehirn, offenbart uns seine Geheimnisse leichter, wenn wir so viel wie mög­lich über das »Gehirn« der Zelle wissen, die Membran.