Heilendes Bewusstsein: Die Rückkehr des Zauberhaften

Die meisten Menschen sind Zeit ihres Lebens in ein Geflecht von Ängsten und Schuldgefühlen eingebunden. Die durch die Erziehung entstandenen inneren Wertmaßstäbe sind eine Quelle großen Leids, denn sie bergen die Tendenz zur Selbstbestrafung in sich. Auch viele Menschen, die sich als vollständig der Vernunft folgende Wesen sehen, tragen tief in ihrer Seele ein uraltes Modell von Schuld und Sühne, das unerkannt im Hintergrund wirkt, oft jenseits der Schwelle bewusster Wahrnehmung: Es kann Erkrankungen auslösen oder eine Heilung verhindern. In der Kultur des alten Hawaii trugen die traditionellen Heiler, die Kahunas, diesem Gedanken Rechnung. Denn Schuldgefühle sind keine Erfindung der großen Religionen, sie gehören offenkundig zum Menschsein in allen Kulturen.


Die Kahunas (das Wort bedeutet »Hüter des Geheimnisses«) wussten darum, und deshalb trachteten sie danach, ihre Patienten von diesem Feind im Innern zu befreien, indem sie sich ihm offensiv stellten. Eine Heilung, sagten die Kahunas, sei nur dann möglich, wenn jener alte Teil in uns, der magischen Vorstellungen und vielfältigen Gefühlen unterworfen ist, vollständig und ohne den Schatten eines Zweifels glaubt, dass der Mensch
die Heilung auch verdient. Dieser Teil unserer Persönlichkeit, auf der alles gründet, muss also mit klaren Handlungen von der Möglichkeit und der Berechtigung zur Heilung überzeugt werden, damit er zur Mitarbeit bereit ist. Die Kahunas nannten diese Ebene der Seele das »untere Selbst«. Sie erkannten, dass es in jedem Menschen lebt und eine klare Vorstellung von dem hat, was Recht und Unrecht ist, vor allem aber, dass es sich in dieser Haltung nicht beirren lässt.


Die Patienten im alten Hawaii erhielten deshalb zunächst die Aufgabe, in ihrem Leben zu prüfen, ob sie irgendjemandem etwas schuldig waren oder mit einem Menschen in Streit lagen. Die Auseinandersetzungen sollten gütlich, für beide Parteien akzeptabel, beigelegt werden. Wenn irgendwo noch eine Rechnung offen zu sein schien, musste sie beglichen werden. Es war notwendig, um Vergebung zu bitten und auch selbst zu vergeben. Erst
wenn diese Voraussetzungen erfüllt waren, konnte das Ritual beginnen, in dessen Zentrum eine besondere, kraftvolle Form eines Gebetes steht, genauer: ein starkes, mit der Kraft der Vorstellung erzeugtes Bild des
erwünschten Zustandes (eines vollständig gesunden Körpers zum Beispiel).


Dieses Bild legten die Heiler in die Hände einer größeren Weisheit, damit aus dieser Region, wo Gedanken und Wünsche den Geschmack der Wirklichkeit haben, auch sichtbare Realität wird. Die Kahunas erzeugten mit diesem Ritual bisweilen Wunder vor den Augen westlicher Forscher, aber auch diese Wunder geschahen nicht im
Widerspruch zur Natur, vor allem nicht im Widerspruch zur Natur des Menschen.

 

Wenn sich die Seele frei von Schuld fühlt und auch selbst zur Versöhnung bereit ist, fördert das den Einklang. Und in einem solchen Gefühl kann die dritte wichtige Voraussetzung von Heilung entstehen: eine tiefe innere
Gewissheit, jenseits der Schwelle des Alltagsbewusstseins. Diese innere Gewissheit kann wirken, auch wenn ein Patient vielleicht mit seinem Verstand nicht an eine Heilung glaubt. Umgekehrt kann auch ein tief sitzender Zweifel jenseits aller bewussten Bereitschaft, Wunder für möglich zu halten, eine Heilung verhindern. Wissen allein hilft also nicht weiter – auch deshalb kann niemand eine Heilung einfach beschließen.


Der Krebspatient Armin Schütz, dessen Geschichte wir schon betrachtet haben, hatte diese innere Gewissheit, er folgte dem Leitfaden seiner Träume, die ja aus jener Region aufsteigen, die wir nicht einfach steuern können. So wusste er am Ende zweifelsfrei, dass er geheilt war.

 

Eine ganze Reihe von weiteren Heilungsgeschichten zeigt, wie bedeutsam dieses innere Wissen offenbar ist:
Eine Krebspatientin, der die Ärzte nur noch wenige Wochen gaben, nahm dieses Urteil offenbar ohne Angst hin: Sie erklärte freundlich, sie habe keinen Zweifel daran, die Erkrankung zu überleben, und dies berichtete sie auch einem Psychotherapeuten, bei dem sie in Behandlung war. Die medizinischen Fakten schienen sie wenig zu berühren; sie setzte ihr Leben einfach fort, wie sie es gewohnt war, mit dem gleichen Gefühl unendlicher Zeit, in dem die meisten Menschen im Alltag leben. Tatsächlich bildeten sich die Wucherungen innerhalb weniger Monate vollständig zurück, eine medizinisch unerklärliche Heilung.

 

Eine Patientin mit Morbus Crohn, einer Darmentzündung, bei der sich Geschwüre bilden, begegnete ihrer Erkrankung mit einer ähnlichen Haltung. Obwohl Morbus Crohn als medizinisch unheilbar gilt, äußerte sie
die klare Überzeugung, wieder vollständig gesund zu werden. Als sie in einem anderen Zusammenhang operiert werden musste, stellten die Chirurgen verblüfft fest, dass der Darm tatsächlich völlig gesund war – so als ob die Erkrankung nie bestanden hätte.

 

Eine Patientin mit einem Tumor am Augenwinkel sollte operiert werden. Sie hatte Angst vor diesem Eingriff, denn der Krebs hatte sich sehr nahe am Auge entwickelt. Sie entschloss sich deshalb, es zunächst mit einer hypnotherapeutischen Behandlung zu versuchen. Es fanden fünf Sitzungen statt, im Milton-Erickson-Institut in Tübingen bei Prof. Dirk Revenstorf. Der Therapeut gab ihr eine CD-Aufzeichnung der Tranceinduktion mit, die sie regelmäßig anhören sollte. Nach wenigen Wochen hatte sich der Tumor vollständig zurückgebildet und war auch in der Computertomographie nicht mehr nachweisbar. Die Patientin berichtete ihrem Therapeuten, sie habe der
Arbeit mit der CD keine große Bedeutung beigemessen, denn sie habe bereits in der ersten Sitzung gespürt, dass sich in ihrem Kopf »ein Schalter umgelegt« habe. In diesem Moment war sie offenbar vollständig davon
überzeugt, dass sich Heilung bereits vollzogen hatte.


Was diese Patientin berichtet, erinnert noch einmal an die Geschichten der Patienten aus Lourdes: Auch sie erlebten ja den Augenblick ihrer Heilung als innere Klarheit und unmittelbares Wissen. Wie sie empfinden
auch viele Patienten der traditionellen und modernen Schamanen und der Geistheiler unseres Kulturkreises bisweilen diese plötzliche, unverrückbare innere Gewissheit, dass sich ihr Weg nun zum Guten wendet.

 

Die innere Gewissheit kann sich wie von selbst einstellen, ohne Unterstützung eines Heilers und in gewisser Weise geradezu in Opposition zu medizinischen Prognosen – aber oft bedarf es eines »äußeren Reizes«, also der Hilfe durch einen Menschen, der sich dem Patienten in besonderer Weise zuwendet. Wenn ein Heiler, Arzt oder Therapeut das bedeutsame Bild der Veränderung in die Seele seines Patienten spiegelt, wenn er seinem
medizinischen Wissen vollständig vertraut oder sich mit unsichtbaren Kräften verbindet, die sich vielleicht als helfende Figuren zeigen, dann verbinden sich häufig das Vertrauen des Patienten und die Klarheit des
Therapeuten auf heilsame Weise. Am Ende ist es immer der Patient selbst, der sich wandeln muss. Gegen seinen Willen und seine Überzeugung kann der beste Heiler nichts ausrichten.

 

Im alten Hawaii brachten die Kahunas die Patienten dazu, sich grundlegend zu ändern, bevor das Ritual begann. Die Heiler legten damit die Verantwortung in die Hände derer zurück, die mit der Bitte um Hilfe zu ihnen gekommen waren. So können wir die Bereitschaft, für unser Leben in jeder Beziehung Verantwortung zu übernehmen und damit auch die Gesundheit zu unserer eigenen Sache zu machen, als eine vielleicht entscheidende Grundlage jeder Heilung betrachten. Wenn wir unsere Gesundheit vollständig Ärzten,
Heilpraktikern, Heilern oder Therapeuten anvertrauen, weil wir nicht bereit sind, selbst aktiv für unsere persönliche Entwicklung einzutreten, besteht die Gefahr, dass Erfolge nur kurzzeitig sind und wir am Ende auf eines jener seltenen Wunder warten müssen, die wie eine Überwindung der Naturgesetze anmuten. Aber auch medizinische Wunder geschehen selten ohne einen Wandel in der Haltung des Patienten, ohne die Bereitschaft und das tiefe innere Zulassen der Veränderung.

 

Die alte Kunst des Heilens, vom Schamanismus über die Arbeit mit Träumen bis zum Geistigen Heilen, hat im Westen eine nie geahnte Wiedergeburt erlebt. Nicht wenige Vertreter der Schulmedizin kämpfen offen oder zumindest verdeckt gegen diese häufig so wirkungsvollen Methoden, weil sie sich mit den wissenschaftlichen Begriffen unserer Zeit nur schwer und zumindest nicht vollständig erklären lassen und ihre Wirkung nach den konventionellen Standards oft nicht beweisbar und damit unberechenbar ist. Die Motive dieser skeptischen Mediziner mögen zum Teil ehrenwert sein, aber sie greifen zu kurz. Denn gerade durch die neuen
Erkenntnisse der Hirnforschung und die beharrliche Arbeit von Ärzten und Therapeuten abseits der offiziellen Medizin ist heute offenkundig, dass nicht blinde Regelkreise des Körpers über Gesundheit oder Krankheit
entscheiden, sondern das Zusammenspiel aller Kräfte. Am Ende stehen immer biologische Reaktionen, die sich in körperlichen Veränderungen zeigen. Aber diese Reaktionen geschehen nur in kleinem Maße »von selbst«, in viel größerem sind sie von Faktoren abhängig, die mit der Seele, dem Geist, dem Bewusstsein zu tun haben.


Wenn das so ist, kann sich die Medizin nicht wirklich weiterentwickeln, wenn sie die Kraft des Bewusstseins leugnet oder allenfalls herablassend akzeptiert. Der alte Irrglaube, der Mensch sei eine Maschine, ist vor dem
Hintergrund jahrtausendealter Erfahrung und neuer Forschung nicht länger aufrechtzuerhalten. Wenn aber das Bewusstsein eine so große Rolle bei der Heilung von Erkrankungen spielt, dann wäre es von wesentlicher
Bedeutung für die Entwicklung der Medizin, diese Erkenntnis zur Grundlage einer neuen Heilkunst zu machen.

 

Menschen sind ebenso rational wie irrational. Sie leben in Bildern und Gefühlen, sind aber auch in der Lage, abstrakten Ideen zu folgen und in der Klarheit mathematischer Formeln, wie sie etwa die Quantenphysik
entwickelt, die Schönheit des Universums zu erkennen (wie das große Physiker von Einstein bis Zeilinger und Hawking tun). Weil wir diese beiden Seiten in uns tragen, kann es keine Rückkehr zu den alten archaischen Wegen auf Kosten der modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse geben, die uns unvorstellbare Möglichkeiten geschenkt haben. Umgekehrt aber würde die Medizin ihren eigenen Anspruch zu heilen aufgeben, wenn sie die Erfahrung von Jahrtausenden ignorierte, Erfahrungen europäischer und außereuropäischer Kulturen, die bis in unsere
Zeit hinein das Bewusstsein als Fahrzeug auf dem Meer der Seele nutzen und so nicht selten wunderbare Heilungen möglich machen. Die wissenschaftliche Medizin hat die Heilkunst nach und nach entzaubert. Sie hat dem Menschlichen immer mehr Raum genommen, bis die Patienten sich in Scharen zu jenen Heilern begaben, von denen sie sich als Menschen wieder verstanden und ernst genommen fühlten. Die frühen Vertreter der modernen Medizin seit den Tagen des griechischen Arztes Hippokrates hatten noch Zugang zur alten Kunst des Heilens: Sie wagten, den Glauben an die Macht der Götter oder des Schicksals mit den Erkenntnissen des rationalen Geistes zu verbinden.


Heute ist diese alte Kunst fast verloren gegangen, und die Vertreter einer strengen Schulmedizin auf der einen und alternativer Verfahren auf der anderen Seite stehen sich oft unversöhnlich gegenüber. Zwischen beiden Lagern behauptet sich die Homöopathie mit großen Heilungserfolgen, aber ohne die Anerkennung, die ihr gebührt: als eine Heilkunst, die auf bis heute ungeklärte Weise mit dem Mittel der Information Körper und Seele beeinflusst.

 

Unser Verstand verlangt danach, die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung zu verstehen. Er findet in den ausgefeilten Diagnosemethoden der modernen Medizin seine Bestätigung. Und selbstverständlich wird er sich
niemals dagegen aussprechen, die phantastischen Möglichkeiten chirurgischer Kunst zu nutzen, ebenso alle anderen Wege, Erkrankungen auf dem Weg des Körpers zu heilen. Unser Gefühl aber, genauer vielleicht: unser Selbst, jener weise Teil der Seele, der in der Partitur des Lebens lesen kann, ist offenbar bereit, auch all jene anzuerkennen, die als Heilerinnen und Heiler, als Schamaninnen und Schamanen, die Macht des Bewusstseins einsetzen, um Körper und Seele auf neue Weise miteinander in Einklang zu bringen.


Jede dieser Richtungen könnte ihren Teil zum Ganzen beitragen, in gegenseitigem Respekt und großer Offenheit für die Fähigkeiten des anderen, offen auch für Kritik und mit der Bereitschaft, eingefahrene Wege zu verlassen und neue zu beschreiten, vor allem aber die Grenzen der eigenen Methoden wahrzunehmen und anzuerkennen: Am Ende kommt es nur darauf an, dem Patienten zu dienen und ihm zu helfen, seinen persönlichen Weg in eigener Verantwortung zu gehen.

 

Was wir brauchen, ist keine weitere Entzauberung der Heilkunst, sondern die Rückkehr des Zauberhaften in die moderne Medizin.